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Full text of "Zeitschrift für deutsche Philologie"

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ZEITSCHEIFT 


FÜR 


DEUTSCHE  PHILOLOGIE 


BEGRÜNDET  von  JULIUS  ZACHER 


HERAUSGEGEBEN 


HUGO    GERING   mü  OSKAR    ERDMANN 

VIERUNDZWANZIGSTER  BAND 


HALLE  A.  S. 

VERLAG    DER    BUCHHANDLUNG    DES    WAISENHAUSES. 

18  92. 


Soö3 


INHAL  T. 


Seite 

Sigfrid  und  Druiihild.   Beitrag  zur  geschichte  der  Nibelimgoiisage.  Von  ]J.  SiJ  tiions  1 

Iber  die  „neutralen  ongcl"  liei  Wolfram  und  l>ei  Dante.     Von  .T.  Seeber    .     .  '.i2 

Beiträge  aus  Luthers  sehriften  zum  dtnitscheu  wörterbuche.    Von  J.  Köstlin  'dl.  i2~} 

(Naehtriige  von  M.  Spanier,  F.  Beeli,  .1.  Peters 285) 

In  bns  forreptam  —  eine  anfrage.     Von  (}.  Kaworau 42.  424 

T/tete  das,  thef ,  thäte  gleich  mhd.  cntete.     Von  A.  Birliuger 43 

l'redigtlitteratur  des  17.  Jahrhunderts.     Von  I.  Zingerle 44.  318 

Beiträge  zur  deutsehen  inythologie.     I.  Der  todesgott  ahd.  Heniio  Wotan  =  Mer- 

eurius.     IL  Tliings  und  die  Alaisiagen.     IIL  Zur  Illudauae- Inschrift  .     14,").  433 

Zum  (jaitga  iindir  jaräaniicn.    Von  M.  Pajtpenheim 157 

Zum  Spruch  von  den  10  altersstufen  des  menschen.  Von  A.  Jeitteles  u.  IL  Lewy  IGl 

Zur  entwickeluug  der  mhd.  lyrik.     Von  0.  Streicher 16G 

Neue  belege  für  thäte  gleich  mhd.  entete  bei  Luther.     Von  G.  Kawerau     .     .  201 

Ein  brief  Gottscheds  an  den  Königsberger  profossor  Flottwell.    Von  G.  Krause  202 

Die  liauptgöttin  der    Istvaeen.     Von  H.  J aekel 289 

Aar  und  adler.     Von  H.  Kluge 311 

l angedruckte  briefe  Herders  und  seiner  gattiu  au  Gleim.     Von  .1.   Pawel      .     .  342 

Bruchstücke  aus  dem  Willehalm  Ulrichs  v.  d.  Tüi'lin.     Von  11.  Suchier     .     .  401 

Zu  Reinke  vos.     Von  H.  Damköhler 487 

Zum  mittelalterlichen  badeweseu.     Von  K.  Kochendörffer 492 

Goethes  verse  über  Frieslaud.     Von  H.  Jaekel 502 

Het  (jethan  im  bedingungssatze.     Von  E.  Wolff 504 

Zur  geschichte  des  begräbnisses  „more  teutonico".     Von  R.  Röhricht     .     .     .  505 

Zu  Goethes  Faust.     Von  R.  Sprenger 500 

Zu  H.  V.  Kleists  Hermannsschlacht.     Von  demselben 510 

Nekrologe. 

Konrad  Hofmann.     Von  W.  Golther 04 

Arthur  Reeves.     Von  K.  Maurer 142 

Hermann  Oesterley.     Von  E.  Se.elmaun 142 

Hermann  Frischbier 508 

Miscellen. 

Ein  brief  Schillers.     Von  J.  Minor 129 

Bericht  über  die  Verhandlungen  der  deutsch -romanischen  section  der  philologeu- 

versamlung  in  München.     Von  K.  Borinski 213.  509 

Rose.     Von  L  Zingerle  und  H.  Fischer 281.  426 

Ein  gedieht  aus  dem  15.  Jahrhundert.     Von  H.  Holstein 283 

Ein  brief  Jacob  Grimms.     Von  E.  Wolff 284 

Üribolde  scheren.     Von  M.  Pappenheim  und  Th.  Siebs 284.  567 

Zu  Wielands  werken.  Von  Minor.  (Dazu  berichtigung  von  Seuffert)  .  285.  430 
Dramatische  aufführungen  im  10.  und  17.  Jahrhundert.  Von  J.  Minor  .  .  .  285 
Bericht  über  die  10.  jahresversamlung  des  Vereins  für  niederdeutsche  spraciifor- 

schung  in  Lübeck.     Von  H.  Jellinghaus 308 

Zum  Düdeschen  Schlömer.     Von  H.  Brandes 425 

Zu  W.  Grimms  kleineren  schritten.     Von  R.  Steig 562 

Litteratur. 

0.  Frauke,  gruudzüge  der  Schriftsprache  Luthers,  angez.  von  J.  Luther  .  .  07 
Reeves,  the  finding  of  Wineland  the  good,  angez.  von  H.  C-ering    ....       84 


IV  INHALT 

Seite 
W.  Wisser,  Verhältnis  der  minneliederhandscbriften  B  und  C  zur  quelle,  angez. 

von  F.  Vogt 90 

H.  Hayn,  tugendhaffter  Jungfrauen  zeit-veiireiber,  angez.   von  L.  Fränkel      .  94 

J.  Höser,  Syntax  in  he  Domes  Da^e,  angez.  von  B.  Nader 95 

E.  H.  Meyer.  Yöluspa,  angez.  von  F.  Kauffmann 96 

A.  Wagner,  lautstand  der  muudart  von  Eeutlingen,  angez.  von  F.^Kau  ff  mann  114 

F.  Kauffmann,    geschichte    der  schwäbischen  mundart,   angez.   von  K.  Boh- 

nenberger HG 

L.  Tesch,  zur  entstehungsgeschichte  des  evangelienbuches  von  Otfrid  I,  angez. 

vou  0.  Erdmann 120 

H.  Schröder,   zur  waifen-  und  schifskunde   des  deutschen  mittelalters,   angez. 

vou  A.  E.  Berger 122 

E.  Joseph,  ausgäbe  von  Konrads  von  Würzburg  Engelhard,  angez.  von  K.  Ko- 

chendörffer 128 

L.  Fulda,  Übersetzung  des  Meier  Helmbrecht,  angez.  von  R.  Sprenger     .     .  132 

G.  Radke,  die  epische  formel  im  Nibelungenliede,  angez.  von  E.  Kettner.     .  133 

G.  EUinger,  Berliner  neudrucke  I,  3,  angez.  von  J.  Bolte 135 

H.  Paul,  gruudriss  der  germ.  philologie  I,  3  fg.,  angez.  von  E.  Martin     .     .  221 

R.  Braudstetter,  geschichte  der  Luzerner  mundart,  angez.  von  L.  Tobler    .  231 

H.  Blattner,  mundarten  des  kantons  Aargau,  angez.  von  A.  Socin   ....  234 

Balg,  comparative  glossary  of  the  gothic  language,  angez.  von  E.  Bernhardt  236 

F.  Saran,  Hartmanu  von  Aue  als  lyriker,  angez.  vou  F.  Vogt 237 

F.  Keinz,  die  lieder  Neidharts,  angez.  von  F.  Vogt 245 

W.  Uhl,  unechtes  bei  Neifen,  angez.  vou  F.  Vogt 247 

Th.  Hampo,  quellen  des  Strassburger  Alexander,  angez.  von  K.  Kinzel     .     .  255 

E.  Kettaer,  Untersuchungen  über  Alpharts  tod,  angez.  von  K.  Kinzel  .     .     .  258 

W.  Cordes,  satzbau  bei  Nicolaus  von  Basel,  angez.  von  K.  Tomanetz.     .     .  259 

0.  Mensing,  ahd.  und  mhd.  concessivsätze,  angez.  von  H.  Wunderlich   .     .  260 

Neuere  schritten  über  Hans  Sachs,  angez.  von  M.  Rachel 262 

M.  Herrmann,  Albrechts  v.  Eyb  ehezuchtbüchlein ,  angez.  von  E.Matthias  .  269 

G.  Kaufmann,  geschichte  der  deutschen  Universitäten,  angez.  von  W.  Schum  271 

E.  Wolff,  prolegomena  der  litter.-evolutionistischen  poetik,  angez.  v.  G.  Roethe  273.  428 

B.  Litzmann,  F.  L.  Schröder,  angez.  von  C.  Heine •     .     .  275 

0.  Koller,  Klop.stockstudien ,  angez.  von  F.  Frosch 279 

A.  Schultz,  das  höfische  leben,  2.  aufl.,  angez.  von  J.  Meier  .     .     .     .      371.  524 

F.  Liesenberg,  die  Stieger  mundart,  angez.  von  Kauffmann 401 

W.  Müller,  zur  mythol.  d.  griech.  u.  deutsch,  heldensage,  ang.  v.  F.  Kauffmann  403 

H.  Kuhlmann,  concessivsätze  in  mhd.  volksepos,  angez.  v.  H.  AVunderiich     .  405 

R.  Wolkan,  Böhmens  anteil  an  der  deutsch,  litteratur,  angez.  v.  A.  Jeitteles  406 

E.  Schröder,  Jacob  Schöpper  von  Dortmund,  angez.  von  H.  Holstein       .     .  409 

K.  Weinhold,  gedichte  von  Lenz,  angez.  von  0.  Erdmann 410 

R.  Lehmann,  der  deutsche  Unterricht,  angez.  von  0.  Erdmann 411 

W.  Cosack,  materialien  zu  Lessings  dramaturgie,  angez.  von  0.  Carnuth  .     .  420 

Hermann  und  Szamatolski,  lat.  litterat.-denkm.  I  —  HI,  ang.  v.  H.  Holstein  420 

Goethes  werke,  Weimarer  ausgäbe,  angez.  von  H.  Düntzer 513 

E.  Martin  u.  E.  Schmidt,  Elsässische  litterat.-denkm.  IV,  ang.  v.  E.  Matthias  555 

L.  H.  Fischer,  J.  L.  Frisch's  schulspiel,  angez.  von  J.  Bolte 559 

Wustmann,  sprachdumheiten ,  angez.  von  0.  Er d mann 560 

Neue  erscheinungen 139.  287.  430.  568 

Nachrichten 142.  288.  432.  568 

Register  von  E.  Matthias 569 


SmFRTD   UND   BEUNllILD. 

KIN   BEITHAÜ    ZUK  ('rES(  ÜIICIITK    DER   iNlHELUNGENSAGE. 

I. 

Die   iiordiselK'   nbcrlieferuiii;. 

J)eii  firun(ll(',u(Mi(l('ii  arhcitcn  Jjacliniamis  und  Müllcnliotrs  verdan- 
ken wir  die  einsieht,  dass  die  Nibeluni^ensaye  in  ilirei-  aus  der  ver- 
gleieiiung-  der  verschiedenen  üherlieterungen  ersehliessbaren  gTundgestalt 
eine  \er.seliniel/.uug  liist(»i'iseher  sage  mit  anders  gearteten  bestaiidteilen 
voraussezt,  ^velebe  man  als  mytbisebe  zu  bezeicbnen  pflegt.  Die  bistu- 
risehe  Burgundensage  ist  iu  ibrer  entstebuug  und  ausbiklung  in  allem 
wesentlieben  klar.  Dagegen  bietet  die  m\lbiselie  Sigfridssage  der  for- 
scbuug  bedeutende  sclnvierigkeiten ,  einmal  weil  sie  in  ibrer  volständig- 
keit  niebt  rein,  sondern  nnr  mit  der  gescbicbtlicben  sage  von  den 
Burgunden  eontaminiert  eriuilten  ist,  sodann  aber  aueb,  weil  offenbar 
sowol  die  nordisebe  sage  Avie  die  deutscbe  sage  in  ibrer  dreifacben 
trailitiun  liier  manebe  alte  züge  geopfert  oder  in  neuen  zusammenbang- 
gebracbt  baben.  Man  ist  darüber  ('invei'standen ,  dass  die  Burgunden- 
sage, die  dicbterische  Überlieferung  von  dem  Untergang  der  (libiebuii- 
gen  dui'eb  Attila  und  der  raclie,  welebe  diesen  dafür  tritt,  in  ibrei- 
ältesten,  dem  ursprünglieben  verbältnismässig  sebr  nahe  stebendeii  fas- 
sung  in  der  altnordiseben  gestalt  vorliegt.  Es  ist  deswegen  metbodiscb 
nur  zu  billigen,  wenn  ancb  für  die  in  unserer  Überlieferung  mit  der 
BurgLUidensage  verbundene  Sigfridssage  die  untersucbung  von  den  alt- 
nordiseben quellen  ausgebt:  nur  gewicbtige  gi-ünde,  wie  sie  beispiels- 
weise für  den  teil  der  sage,  welcber  Sigfrids  geburt  und  kindbeit 
erzäblt,  tatsäcblicb  vorbanden  sind,  dürfen  uns  bestimmen,  v()n  diesem 
grundsaize  abzugeben.  Der  forderuug,  dass  jede  betracbtuug  der  Sig- 
fridssage die  nordisebe  Überlieferung  zur  grundlage  zu  uebmen,  dabei 
aber  die  deutscbe  sagenform  unablässig  im  ange  zu  bebalten  babe, 
lässt  sich,  wie  mir  scbeint,  gegründeter  Widerspruch  nicbt  entgegen- 
stellen. 

Neuerdings  macbt  sich  das  streben  geltend,  die  nordisebe  mytben- 
und  sagendicbtung  zu  discreditieren.     Ihren   poetischen  wert   lässt  man 

ZEITSCHRÜT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXIV.  1 


unangetastet,  aber  gegen  ihre  ursprünglichkeit  und  glaubwürdigkeit 
häufen  sich  die  angriffe,  ßugges  genialität  verdanken  wir  in  den  „»Stu- 
dier over  de  nordiske  gude-  og  heltesagns  oprindelse.  Forste  rsekke" 
(1881/89)  eine  arbeit,  deren  ergebnisse  wenige  überzeugt  haben,  deren 
bedeutende  Vorzüge  aber  auch  demjenigen  einleuchten,  welcher  sich 
iliren  blendenden  reizen  zu  entziehen  vermochte.  Dass  es  an  Jüngern 
und  nachfolgern  nicht  fehlen  würde,  war  zu  erwarten.  Fühlte  Bugge 
(Studier  s.  15)  sich  angesiclits  der  schöpferischen  kraft  der  vikinger  an 
Shakespeares  Verhältnis  zu  seinen  quellen  erinnert,  so  erklärt  jezt  Gol- 
ther  die  nordische  Nibelungen  sage  für  „eine  volkommene  neudichtung, 
in  der  das  original  erst  bei  scharfer  betraciitung  widerziierlcennon  ist" 
(Germ.  33,  478).  In  einer  reihe  von  arbeiten  hat  G-olther  die  uiit- 
fassung  vertreten,  dass  die  nordische  Nibelungensage  wesentlich  ein 
produkt  der  vikingerzeit  sei;  nach  mehreren  Schwankungen  hat  er 
zulezt  diese  ansieht  so  formuliert,  dass  die  alte  fränkische,  im  (i.  Jahr- 
hundert entstandene  sage  von  den  Nibelungen  erst  im  9.  Jahrhundert 
zu  den  Skandinaviern  gelangt  sein  soll,  und  zwar  unmittelbar  aus 
Frankreich  nach  Island.  Auf  dieser  Wanderung  bildete  Irland  eine 
Station,  und  die  von  Zimmer  nachgewiesenen  merkwürdigen  entleh- 
nungen  der  irischen  heldensage  sollen  nicht,  wie  dieser  gelehrte  — 
meiner  meinung  nach,  mit  vollem  rechte  —  annahm  (Ztschr.  f.  d.  a. 
32,  327  fg.),  als  Symptome  einer  ZAveiten  einwanderung  der  deutschen 
sage  in  den  norden  gelten  dürfen,  sondern  „die  erstmalige,  mit  der 
deutschen  form  noch  ziemlich  übereinstimmende  sagenentlehnung,  die 
von  späteren  nordischen  zudichtungen  noch  frei  war"  (Germ.  33,  476) 
repräsentieren.  Unter  den  bänden  der  phantasiereichen  nordleute  sei 
die  Nibelungensage  eine  völlige  neuschöpfung  geworden.  Yon  der 
richtigkeit  dieser  und  anderer  resultate  seiner  forschungen  ist  Golther 
offenbar  so  überzeugt,  dass  er,  nachdem  er  sie  wissenschaftlich  zu 
begründen  gesucht^,    auch   bereits   eine    auf  weitere   kreise    berechnete 

1)  ^Süidieu  zur  gerinanischea  sagengeschichte.  I.  der  valkjTJeuinythus.  II.  über 
das  VHrliältnis  der  nordischen  mid  deutschen  form  der  Nibelungensage"  (Abhandl.  der 
bayr.  akad.  I.  CI.  XVIII.  bd.  II.  abt.,  s.  401— 502):  im  folg.  citiert  als  .,  Studien" 
nacli  dem  Separatabdruck  (München  1888).  —  ^iI^iG  Wielandsage  und  die  Wanderung 
der  fränkischen  heldensage":  Germ.  33,  449  —  480.  —  „Norddeutsche  und  süddeut- 
sche heldensage  und  die  älteste  gestalt  der  Nibelungensage" :  Germ.  34,  265  —  297. — 
Über  die  nordischen  Volkslieder  von  Sigurd  handeln  zwei  aufsätze  desselben  Verfas- 
sers in  der  Ztschr.  für  vgl.  litteraturgesch.  n.  f.  2,  205  fgg.  269  fgg.  —  Vgl.  auch 
die  einleitung  zu  G's  ausgäbe  des  Hürnen  Seyfrid  (Braunes  neudrucke  nr.  81/82) 
s.  XXII  IV. 


STGFRin    UND    BUUNHILD.    I 


rlarstellimg  derselben  geben  zu  können  geglaubt  hat  (Beilage  zur  Allg. 
Ztg.  vom  1.  märz  1890,  nr.  60). 

Es  liegt  niciit  in  meiner  absiebt.  (Iultliers  ansiebten  über  die  ent- 
stehung  der  Nibelungensage,  speciell  ihrer  nordischen  foi-m,  einer 
zusammenhängenden  prüfung  zu  unterziehen.  Vielmehr  soll  an  einem 
einzelnen  punkte,  und  zwar  an  dem  ausgangspunkte  der  Golthersclien 
forschungen,  der  nachweis  versucht  werden,  dass  Golthei-  in  seiner 
beurteilung  der  nordischen  Überlieferung  und  ihres  verhiUtnisses  zur 
deutschen  von  unrichtigen  praemissen  zu  unrichtigen  Schlussfolgerungen 
gelangt  ist.  Es  sei  ausdrücklich  betont,  dass  ich  den  fleiss  und  den 
Scharfsinn  des  Verfassers  anerkenne  und  seinen  arbeiten  manche  anre- 
gung  und  förderung  im  einzelnen  verdanke,  wenn  ich  auch  weder  sei- 
ner kritik  der  quellen  zustimmen,  noch  seinen  Schlussfolgerungen  den 
Vorwurf  der  Übereilung  ersparen  kann. 

Nur  im  vorübergehen  deute  ich  eine  klippe  an,  an  der  Golthers 
datierung  der  einwanderung  der  Nibelungensage  in  den  germanischen 
norden  scheitert.  Finnur  Jönsson  hat  kürzlich  nüt  recht  darauf  hin- 
gewiesen (Arkiv  f.  nord.  fil.  6,  154  fg.  280  fg.),  dass  schon  die  älteste 
norwegische  skaldendichtung  wesentlich  dieselbe  mythologie  voraussezt 
wie  die  späteren  isländischen  quellen.  Dasselbe  gilt  für  die  Nibelun- 
gensage. Bereits  der  älteste  historisch  bezeugte  norwegische  skald, 
Bragi  der  alte,  au  dessen  wirklicher  existenz  zu  anfang  des  9.  Jahr- 
hunderts zu  zweifeln  nach  den  neueren  Untersuchungen  ^  ebenso  wenig- 
berechtigt  ist,  als  die  echtheit  der  unter  seinem  namen  überlieferten 
Strophen  zu  verdächtigen,  bezeichnet  das  gift  als  Vqlsunga  dreJd-a  (21* 
Gering)  und,  Avas  noch  mehr  ins  gewicht  fält,  nent  Sorli  und  Ham{)er 
Gjüka  nipjar  (6-).  Leztere  Umschreibung  sezt  die  specifisch  nordische 
anknüpfung  der  Ermenrekssage  an  die  Nibelungensage  voraus,  die 
selbstverständlich  erst  verhältnismässig  lange  nach  der  Überführung  die- 
ser sage  in  den  norden  zu  stand«  gekommen  sein  kann.  Die  folge- 
rungen  ergeben  sich  von  selber.  Wer  die  einwanderung  der  Nibelun- 
gensage in  den  germanischen  norden  —  und  zwar  nach  Island  ■ —  in 
die  vikingerzeit  verlegt,  hat  zuvörderst  die  unechtheit  der  ältesten 
norwegischen  skaldendichtung  zu  erweisen,  und  zwar  mit  ganz  anderen 
gründen,  als  dies  bisher  versucht  worden  ist. 

1)  Vgl.  besonders  Sn.  E.  HI,  307  fgg.  Gering,  Kva?l)a  -  Brot  Braga  ens  gauila, 
1886,  s.  5  fgg.  E.  Mogk,  Paul -Braunes  Beitr.  12,  391  fg.  F.  J6nsson,  Ark.  6, 
141  fgg. —  Bugge  hält  allerdings  noch  1888  daran  fest  (Paul  -  Braunes  Beitr.  13,  201), 
dass  die  dem  Bragi  Boddason  beigelegten  verse  erst  im  10.  Jahrhundert  gedichtet 
sein  können;  er  hat  diese  ansieht  aber  nicht  näher  begründet. 

1* 


SIJMONS 


Wenn  im  folgenden  ein  einzelner  teil  der  Sigfridssage  einer 
näheren  betrachtung  unterzogen  werden  soll,  so  darf  darin  keine  zn- 
stinimung  zu  dem  verfahren  gesehen  werden,  der  Sigfridssage  von  vorn- 
herein die  einheitlichkeit  abzusprechen,  sie  in  eine  reihe  einzelner, 
zur  dichtung  verwachsener  motive  zu  zerfasern.  Was  uns  als  ganzes 
überliefert  ist,  müssen  wir  zunächst  als  ganzes  zu  verstehen  suchen, 
wenn  sich  auch  im  verlaufe  der  Untersuchung  herausstellen  kann,  dass 
die  einheit  des  Stoffes  nur  eine  scheinbare  ist  und  die  analyse  ihr  gutes 
recht  beansprucht. 

Sigfrids  Verhältnis  zu  Bruuhild-Sigrdrifa  tritt  uns  in  der  Über- 
lieferung als  ein  einzelner  akt  der  geschichte  des  beiden  entgegen. 
Eine  genauere  betrachtung  desselben,  zunächst  losgelöst  von  den 
anderen  teilen  der  Sigfridssage,  scheint  aber  wünschenswert.  Auch 
Golther  hat  diesen  teil  der  sage  zum  ausgangspunkt  seiner  Unter- 
suchungen genommen  (Studien  s.  42  —  73),  und  in  der  tat  ist  die  ent- 
scheidung  der  bestrittenen  frage  nach  dem  Verhältnis  des  beiden  zu 
Brunhild-Sigrdrifa  von  grosser  bedeutung  auch  für  die  beurteilung 
anderer  puiikte,  wie  Golther  s.  42  hervorhebt.  Yor  allem  komt  es  an 
auf  die  richtige  auffassung  des  Verhältnisses  der  nordischen  quellen 
unter  einander,  sowie  zur  deutschen  Überlieferung,  und  gerade  für  sie 
ist  die  erörterung  unserer  frage  besonders  lehrreich.  Auszugehen  ist 
von  der  nordischen  Überlieferung.  Hier  sind  streng  genommen  zwei 
fragen  zu  unterscheiden:  1.  Sind  in  der  nordischen  dichtung  Brynhildr 
und  Sigrdrifa  ursprünglich  als  zwei  verschiedene  gestalten  aufgefasst 
und  erst  in  den  spätesten  quellen  zu  einer  zusammengeworfen,  oder 
beruht  die  doppelheit  auf  misverständlicher  Spaltung  einer  ursprüng- 
lichen figur?  —  2.  Wie  hat  die  nordische  dichtung  das  Verhältnis  der 
Brynhildr,  oder  der  Brynhildr  und  der  Sigrdrifa,  zu  Sigur|)r  ursprüng- 
lich aufgefasst?  „Ursprünglich"  ist  hier  zunächst  immer  zu  verstehen 
von  der  ältesten  nordischen  Überlieferung.  Die  behandlung  beider 
fragen   kann  aber  nicht  streng  getrent  werden,    sie  greifen  ineinander 

über. 

1. 

In  der  Vqlsungasaga,  der  einzigen  altnordischen  quelle,  welche 
zugleich  zusammenhängend  und  ausführlich  über  Sigur|)s  Schicksale 
berichtet,  linden  wir  bekantlich  folgende  darstellimg: 

Nach  der  erschlagung  des  d  rächen  und  der  er  Werbung  des  hortes 
erweckt  Sigur|3r  die  auf  Hindarljali  schlafende  Brynhildr;  nachdem  sie 
ihn  runen  und  Weisheitsregeln  gelehrt,  schwören  sie  sich  ewige  treue 
(('.  20.  21).      Der  held  j-eitet  weiter  zu  Heimir,  Brynhilds  schwager  imd 


SIGFRID    UM)    BRÜNHII.n.    I  5 

pflegei",  findet  sie  duit  in  oincni  tuim  mit  weiblichen  arbeiten  beschäf- 
tigt iiiul  verhibt  sich  ahcrnials'  mit  ihj-  (c.  2.').  21).  Darauf  gelaugt  er 
an  liji'ikis  hof;  durch  einen  vergx'sscnheitstrank,  den  die  zauberkundige 
(Ji'imhildr  ihm  reicht,  vergisst  er  Brvnhild  und  hält  hochzoit  mit  (jru[)- 
nin  (c.  2()).  (iunnai'r  beschliesst  um  Brvnhild  zu  werben.  Er  und 
Sig-ur|)r  reiten  znci'st  zu  ihrem  vater  Bu[)li,  (hwauf  zu  ilirem  ])tleg-cr 
Heimir,  die  beich^  der  Brynhikl  di(^  freie  wähl  lassen  zu  nehmen,  Aven 
sie  wolle.  Ihr  saal ,  sagt  IcztiM'ci',  sei  nahe  bei,  ot  lern)  fm/  l'UUHjfi 
dt  juDni  ei  im  iiiKiidi  hon  cigd  ri/Ja,  rr  ri/)/  rhi  hrrinuiinhi ,  er  slcfihrii. 
rr  Hin  sa/  hc.iiiKir.  Sie  kommen  zur  flammenumloderten  bürg;  verge- 
bens sucht  Gunnarr  erst  sein  eigenes  ross,  dann  Grani  durchs  teuer 
zu  ti'oiben.  Erst,  nachdem  sie  die  gestalten  getauscht,  trägt  Grani 
seinen  hei-i-n  durch  die  lohe.  Die  saga  citiert  hier  zwei  schöne  Stro- 
phen, die  den  flammenritt  anschaulich  schildern-.  Die  lohe  erlischt, 
und  im  saale  findet  Sigur[)r.  Brynhikl,  gepanzert  und  den  heim  auf 
dem  haupto.  Er  neut  sich  Gunnarr  G;jvikason;  sie  stuzt,  fühlt  aber, 
dass  sie  ihrem  gelübde  treu  bleiben  muss,  dem  manne  zu  folgen,  der 
das  teuer  durchritte.  Drei  nächtc  teilt  8igur[»r  ihr  lager,  durch  ein 
nacktes  scinvert  von  ihr  gotrent.  Als  Brynhildr  wider  zu  Heimir  komt, 
erzählt  sie  ihm  was  vorgefallen:  „Er  durchritt  die  waberlohe  und  sagte, 
er  sei  gekommen  sich  mit  mir  zu  vermählen;  er  nante  sich  Gunnarr. 
Ich  aber  meinte  {sar/pa  „sagte  mir"?),  dass  SigurjH'  allein  das  volbrin- 
gen  wäirde,  dem  ich  eide  schwor  auf  dem  berge,  und  er  ist  mein 
erster  gatte".  Heimir  aber  erklärt,  es  müsse  nun  dabei  sein  bewenden 
haben  (c.  27). 

Die  darstelhmg  der  V(;;lsungasaga,  so  wichtig  auch  die  einzelnen 
teile  der  erzählung,  namentlich  c.  27,  für  die  erkentnis  der  sage  sind, 
ist  in  ihrem  Zusammenhang  das  ergebnis  der  combinierenden  arbeits- 
weise  des  sagaschreibers  (Paul-Braunes  Beitr.  3,  255  —  262.  272  fg. 
277  fgg.).  Es  unterliegt  keinem  zweifei,  dass  die  doppelte  Verlobung 
mit  Brynhikl  auf  dem  berge  und  bei  Heimir  sein  werk  ist,  während 
seine  hauptquelle,  die  noch  volständige  liedersamlung,  zwei  frauengestal- 
ten    unterschied:    Sigrdrifa    und   Brynhikl.      Die    identificierung    beider 

Ij  ok  at'nrpu  nd  dpa  af  nyja  c.  24  (Bugge  lo8-''),  vgl.  Paul -Braunes  Beitr. 
3.  272  fg. 

2)  Es  ist  natürlich  völlig  wilkürlich ,  wenn  Golther,  der  den  beweis  zu  führen 
sucht,  dass  der  vafrlogi  durch  unberechtigte  Übertragung  von  Sigrdrifa  an  Brynhikl 
gekommen  sei,  behauptet  (Studien  s.  53  a.  2):  „es  ist  gleicbgiltig,  wo  diese  verse  jezt 
stehen,  bei  Brynhikl  oder  bei  Sigrdrifa,  jedenfals  stammen  sie  aus  der  Sigrdrifasage 
. .  . ."     Es  ist  vielmehr  von  gröster  bedeutung. 


durch  den  Verfasser  der  Vs.  ist  also  für  die  beurteilung  der  sage  ohne 
belang.  Wir  dürfen  vielmehr  mit  bestimtheit  behaupten:  die  Vols- 
ungasaga,  obgleich  sie  Brynhildr  und  Sigrdrifa  zusammenwirft,  weist 
durch  die  ganze  art  ihrer  darstellung  und  manche  einzelheiten  (a.  a.  o. 
272  fg.  279  fg.)  noch  deutlich  darauf  hin,  dass  ihr  Verfasser  sie  in 
seinen  quellen  getrent  vorfand.  Er  hat  sich  im  wesentlichen  darauf 
beschränkt,  den  namen  Sigrdrifa  durch  Brvnhildr  zu  ersetzen,  sowie 
zwischen  der  Verlobung  mit  Sigrdrifa  auf  dem  berge  und  der  Verlobung 
mit  Brynhildr  bei  Heimir  einen  notdürftigen  chronologischen  Zusam- 
menhang herzustellen.  Auch  der  NornagestsI)ättr  c.  5  (Bugge  65*) 
nent  die  auf  Hindartjall  erweckte  valkyrie  Brynhildr,  ohne  dass  sich 
daraus  für  die  ursprüngliche  nordische  Überlieferung  etwas  ergäbe. 

Die  Spaltung  in  Sigrdrifa -Brynhildr,  welche  die  Y^lsungasaga 
beseitigt  hat,  wird  in  ihrer  quelle,  tler  liedersamlung,  denn  auch 
wirklich  bestätigt.  Der  samler,  welcher  um  1240  oder  1250  die  ihm 
bekanten  mythologischen  und  heroischen  lieder  zu  einem  grossen  cor- 
pus vereinigte,  hat  für  die  Sigur|)slieder  offenbar  eine  biographische 
anordnung  angestrebt.  Trotz  der  gerade  in  diese  partie  fallenden  grossen 
lücke  des  Codex  Regiusi  wird  dieses  princip  der  anordnung  sowol  aus 
der  reihenfolge  der  erhaltenen  lieder  wie  aus  den  capiteln  23  —  29  der 
Vglsungasaga  (s.  Beitr.  3,  286.  Edzaixli  Yolsunga-  und  "Ragnars-Saga, 
1880,  s.  XXI  fg.)  zur  genüge  klar.  Wahrscheinlich  existierte  dieser 
teil  der  samlung  —  d.  h.  die  lieder,  welche  den  abschnitt  der  sage 
von  Sigur^js  geburt  bis  zu  Brynhilds  tode  behandeln,  mit  zusammen- 
hängender und  chronologisch  fortschreitender  prosa  untermischt  — 
bereits  früher  für  sich-  und  wurde  als  ganzes  vom  samler  seiner 
liedersamlung  einverleibt  (Edzardi,  Germ.  23,  186  fg.  24,  356.  362  fg.; 
vgl.  Ztschr.  f.  d.  phil.  12,  111  fg.).  Der  samler  kante  neben  Brynhildr 
Bu|3ladöttir  eine  valkyrie  Sigrdrifa.  Diesen  eigennamen  verwendet  er 
in  dem  prosastücke  vor  Sgrdr.  5^  (Bugge  229 1.  ^K  -^).  Auf  Hindar- 
fjall  erblickt  Sigur]ir  ein   helles  licht,  svä  sem  cldr  hrynni,  ok  Ijömapi 

1)  AVol  aber  verbietet  die  lücke,  wie  mir  scheint,  die  aufstellung  der  gruiid- 
sätze,  welche  E.  M.  Meyer,  Ztschr.  f.  d.  a.  32,  402  fgg.  für  die  anordnung  der 
eddischeu  heldenlieder  nachzuweisen  sucht. 

2)  Als  Sigurparsaya?  Ansprechend  erklärt  Edzardi  durch  diese  annähme  die 
berufung  des  N|).  c.  5  (Bugge  65^)  auf  eine  saga  Sigurpar,  womit  keinesfals  die 
VQlsungasaga  gemeint  ist,  wie  MüUenhoff  Ztschr,  f.  d.  a.  23,  113  u.  a.  wolten.  Für 
die  Brynhild-Sigrdrifafrage  ist  aber  der  umstand,  dass  der  Nf).  gelegentlich  dieses 
citates  von  Brynhildr  auf  Hindarfjall  spricht,  ohne  belang. 

3)  Die  Eddalieder  eitlere  ich  stets  nach  Bugge  und  zwar  nach  dessen  kurz- 
zeilen. 


SICtFKID    UNO    HHrNlllLD.    I 


(if  lil  himiiis.  Trotz  dci-  unklaiin'it  drs  aiisdriicks,  wuhoi  sich  auch 
die  V(dsung'asagH  c.  L'O  (Hii,i;;i;'c  1 L' I -"'  fi;.)  hcnihi,^t.  kann  niii'  dci'  vatV- 
log'i  i^Piiipiiit  sein.  Ohne  sch\vicrii;kcito]i  ^'cht  ah(M'  dci-  iicld  in  die 
schihlbiiru',  dort  tiiidct  ci-  die  schlafende  -anz  ^ewafnete  juiiutVau.  Kr 
ninit  ihr  den  iiehii  \<ini  haupte,  schli/J.  ihi'  den  jianzei-  aul'  mit  seinem 
Schwerte  (iram  und  zieht  ihn  al).  Da  ei'wacht  sie.  So  erzählt  (hjr 
samlei-  odiM-  (h-r  vert'assei'   {\vy  Sii;urjtarsai;a  in   (h'in    prosastücko 

(Bn,ui;-(>  '-'27),  das  in  den  ausi^'ahen  die  oinhutuni;'  zu  (h'u  soii;ontinten 
Siuivh'ifumel  liihh't.  in  d<'r  handschiift  al)er  olme  jede  trennun,^'  auf 
die  schiussprosa  zu  bVd"nism(}l  foli^t.  In  einem  weiteren  prosastücke 
(r)Ui;g'e  229)  nent  die  erwachte  valkyrie  sicli  Sip-drita;  sie  erziihlt  ihre 
<;'eschichte.  Dieses  prosastück  ist  unbestritten  aut'lösun,i;'  von  verson, 
deren  Wortlaut  dem  sandei'  bis  auf  einen  luibcdeutenden  rcst  nicht 
mehr  in  ^\ov  eriniierunu'  war  oder  deren  Avörtlicho  aufzeichnunji;'  er  sich 
ersparte,  weil  sie  in  (h'r  Helrei]>  S  — 10  in  wesentlich  derselben  fas- 
suni;-  erhalten  waren.  Dass  aber  in  der  alten  poetisclien  form  der 
ei'zjihiunu-  der  valkyrie  von  ihrem  i^escbick  dieselbe  8ig-rdrifa  genant 
war,  darf  natürlich  nicht  ohne  weiteres  angenommen  werden,  um  so 
weniger,  als  die  nelrei[)  dasselb(^  von  Brynhildr  erzählt.  Diese  frage 
wird  uns  mjcli  zu  beschäftigen  haben.  Wie  der  samler  si("h  die 
weitere  entwicklung  des  Verhältnisses  zwischen  8igur[)r  und  Sigrdrifa 
dachte,  bleibt  dahingestelt,  da  mitten  in  Sigrdrifas  Weisheitslehren  die 
liicke  des  Codex  Regius  begint.  Hier  genügt  es  festzuhalten,  dass  die 
liedersamlung  als  solche  eine  valkyrie  Sigrdrifa,  welche  8igur[>r  aus 
dem  zauberschlafe  erweckt,  von  Brynhildr  Bu[)lad(')ttir  nnterscheidet, 
welche  er  für  üunnarr  erwirbt.  Für  die  in  der  samlung  enthaltenen 
oder  einstmals  enthalten  gewesenen  lieder  ist  damit  selbstverständlich 
nicht  das  mindeste  entschieden. 

Wie  die  Volsungasaga,  so  steht  auch  die  erzählung  von  den  Nibe- 
lungen in  der  ausführlicheren  redaction  der  Skäldskaparmäl  c.  39  — 
42  unter  dem  einflusse  der  liedersamlung,  wie  ich  in  dieser  ztschr. 
XII,  103  fgg.  gezeigt  habe  (s.  auch  Müllenhoff,  DA.  V,  1,  185  Igg. 
232).  Snorris  nrsprünglichem  werke  gehört  nui-  die  in  U  enthaltene 
erzählung  an,  welche  mit  der  ermordnng  Hreilimars  durch  Fäfnir  und 
Reginn,  allerdings  etwas  gCAvaltsam,  schliesst  (c.  100  Jh  Sn.  E.  II, 
359  fg.  =  c.  39.  40":  Sn.  E.  I,  352  — 356i'").  Dieser  teil  ist  frei  und 
unabhängig,  während  die  fortsetzung,  die  zu  einer  volständigcn  Über- 
sicht der  sage  wurde,  in  der  Überarbeitung  (hier  fast  allein  durch  r 
vertreten  1)   unter  benutzung  der  liedersamlung  hergestelt  ist.     Bei  die- 

1)  Li  W  fehleu  c.  39  —  42.     Ein  nicht  ganz  kleiueri  stück  bietet  das  fragment 


ser  Sachlage,  die  auch  Golther  anzuerkennen  scheint  (Studien  s.  73  fg.). 
muss  es  auffallen,  dass  dieser  gelehrte  der  fassung,  welche  die  erzäh- 
lung  der  überarbeiteten  Skspm.  von  Sigurps  Verhältnis  zu  Brynhildr- 
Sigrdrifa  bietet,  so  grossen  wert  beimisst.  Der  bericht  lautet  bekant- 
lich:  Sigurpr  erweckt  auf  dem  berge  die  valkyrie  Hildr;  hon  er  kql- 
lup  Brynhüdr  ok  var  valkyrja.  Er  reitet  weiter  an  Gjiikis  hof,  ver- 
mählt sich  mit  dessen  tochter  Gu|)rün  und  schliesst  blutbrüderschaft 
mit  Gunnarr  imd  HQgni.  Dann  gewint  er  für  Gunnarr  und  in  dessen 
gestalt  Brynhildr  Bupladüttir,  Atlis  Schwester,  die  auf  Hindafjall  sizt, 
von  einem  flammenwall  umgeben,  und  geschworen  hat,  nur  demjenigen 
gehören  zu  wollen,  der  denselben  zu  durchreiten  wagt.  Am  morgen 
nach  dem  keuschen  beilager  gibt  er  ihr  den  Andvaranaut  zur  morgen- 
gabe  und  erhält  von  ihr  einen  anderen  ring  tu  minja.  —  Der  Verfas- 
ser unterscheidet  also,  wie  der  samler,  eine  valkyrie,  die  er  aber  nicht 
Sigrdrifa,  sondern  Hildr- Brynhildr  nent,  von  Brynhild  Bu})lis  tochter, 
die  bei  ihm  auf  Hindafjall  wohnt.  Die  waberlohe  haftet  an  lezterer. 
Eine  frühere  Verlobung  Sigur|)s  mit  Brynhild  erwähnt  er  nicht,  und 
somit  durfte  auch  der  liebes-  oder  vergessen heitstrank  fehlen.  Den 
ringwechsel  erzählt  die  Snorra  Edda  anders  und  besser  als  die  VqIs- 
ungasaga  c.  27  (Beitr.  3,  280  fg.  Golther,  Studien  s.  74).  Aus  die- 
sem umstände  darf  man  jedoch  „die  Selbständigkeit  der  Snorra  Edda" 
der  liedersamlung  gegenüber  schon  deswegen  nicht  folgern,  weil  die 
VQlsungasaga  hier  offenbar  eigenmächtig  geändert  hat  und  es  keinem 
zweifei  unterliegt,  dass  das  beiden  berichten  zu  gründe  liegende,  durch 
die  lücke  verlorene  lied  den  ringwechsel  gerade  so  dargestelt  hat,  Avie 
es  die  Snorra  Edda  tut.  Dass  eine  frühere  Verlobung  und  damit  auch 
der  zaubertrank  in  der  darstellung  der  Snorra  Edda  fehlen,  wird  noch 
im  verlaufe  unserer  darstellung  genügende  erklärung  finden:  es  war 
eben  die  sagenform  des  zu  gründe  liegenden  liedes,  desselben,  auf  Avel- 
chem  der  kern  des  c.  27  der  YQlsungasaga  beruht.  Aus  einem  der 
durch  die  lücke  verlorenen  lieder  wird  auch  die  sonst  unbekante  Gjü- 
katochter  Gu|)ny  stammen  (Sn.E.  I,  360 1''),  ebenso  GotI)ormr  als  Gjükis 
Stiefsohn,  wie  im  Hyndluliede  27  (MüUenhoff,  Ztschr.  f.  d.  A.  10,  155. 
DA.  V,  1,  186).  So  werden  wir  auch  bei  dem  namen  Hildr,  „die  Bryn- 
hildr genant  wird",  für  die  in  der  samlung  als  Sigrdrifa  auftretende 
valkyrie  zunächst  an  Helrei})  7  zu  denken  haben: 
heto  iiiik  aller  i  Hlymdqlom 
Hilde  und  hjalme,     hverr  es  kunne. 

leß  oder  richtiger  (s.  Katalog  over  den  Arn.  häudi^kriftsaml.  I,  ö)  cod.  AM  748,  4" 
(Sn.E.  II,  573  fgg-),  der  einen  älteren  text  als  ;•  enthält. 


SIGFKID    UNI)    BRUNllILD.    T  9 

Was  bedeutet  alicr  dei'  /ii^atz:  Jxiii  i'r  /,q///(J)  Jir//nhildr?  Jedeafals 
nichts  anderes,  als  dass  der  liherarbeiter  der  Snorra  Edda  der  Schei- 
dung;' zweiei-  frauengestalten,  wclclie  er  im  anschliiss  an  die  liedersani- 
hinfi'  v(»i-nalun,  selber  nur  sehr  be(Ungt  l)eiptlichtete.  Und  in  der  tat 
fraiit  man  erstaunt,  Avas  nach  seiner  darstelluni;-  (Ue  (M'wcckung  der 
Ilildr  ül)erhaupt  soll,  welcheu  portisclien  zweck  sie  crt'ült.  In  der  lie- 
dersauüung,  d.  Ii.  in  der  uns  üb(n'liet'ertcn  ini(M'polierten  und  am  schluss 
abbrechend*Mi  i;'estalt  d(>r  Si<;rdrit'umol ,  lehrt  die  erwachte  vaJkyrif^  (\en 
jungen  hehlen  wenigstens  runcn  und  spri'u'he  (h;r  w(Msheit.  In  der 
Snorra  Edda  fehlt  sogar  dieser,  freilich  äusserst  wirkungslose,  zweck 
des  besuchs.  Wenn  (lolther,  »Studien  s.  45  äussert:  „die  wenigen  auf 
die  Zusammenkunft  mit  Hildr  sich  beziehenden  werte  kiinten  leicht 
ausfallen,  oIhk^  dass  der  handlang  dadurch  ii-gcndwie  ei ntrag  geschähe", 
so  hätte  ihn  diese  unzweifelhaft  richtige  bemerkung  zur  einsieht  füh- 
ren müssen,  dass  eine  so  überflüssige,  nichtssagende  episode  nimmer- 
mehr alte  sage  und  dichtung  widerspiegeln  kann.  Beruht  also  die 
erzählung  von  den  Nibelungen  in  der  überarbeiteten  Snorra  Edda  nach- 
Aveislich  auf  der  liedersamlung,  wobei  natürlich  stets  die  lücke  des 
Regius  in  anschlag  zu  luingen  ist,  und  trägt  die  bemerkenswerteste 
abweichung  das  deutliche  gepräge  des  unursju'ünglichen ,  so  haben  wir 
durchaus  nicht  das  recht,  diesem  berichte  selbständige  oder  gar  ent- 
scheidende bedeutung  beizumessen.  Mit  MüUenhoÖ',  DA.  V,  1 ,  186 
haben  wir  darin  nur  „eine  zw^ar  eigenmächtige,  aber  wohl  bedachte 
combination"  zu  erblicken. 

Unter  den  heldenliedern  der  Edda  ist  die  (xripisspä  das  einzige, 
welches  die  schlafende  Jungfrau  auf  dem  berge  deutlich  unrl  unzwei- 
deutig von  Brynhildr  Bu[)lad6ttir  unterscheidet.  Die  (iripisspä  ist 
anerkantermassen  ein  junges  Übersichtslied  über  die  Öigur|»ssage  in 
gestalt  einer  prophezeiung,  das  der  samler  nicht  ohne  guten  grund  an 
die  spitze  der  lieder  von  den  Nibelungen  stelte.  Sie  sezt  ausser  Reg- 
insniQi,  Fäfnismöl  und  Sigrdrifum()l  die  lieder  voraus,  welche  dem 
Verfasser  der  Volsungasaga  für  c.  23  fg.  26  —  29  zu  geböte  standen, 
kann  also  kaum  viel  älter  sein  als  die  liedersamlung  und  ist  am  wahr- 
scheinlichsten um  die  scheide  des  12.  und  ]  3.  Jahrhunderts  anzusetzen. 
Ich  sehe  keinen  zwingenden  grund,  mit  Edzardi  (Germ.  23,  325  fgg. 
vgl.  27,  399  fgg.)  anzunehmen,  dass  die  Gripisspä  in  älterer  gestalt  mit 
Str.  23/24  abgeschlossen  habe,  brauche  aber  in  diesem  zusammenhange 
nicht  auf  die  frage  einzugehen.  Reine  wilkür  aber  ist  es,  Avenn  Gol- 
ther  (Studien  s.  47)  die  altQ  Gripisspä  mit  str.  18  enden  lässt,  die 
„einen  offenbaren  abschluss"    enthalten  soll,    wovon  ich    nichts    spüre, 


10  SIJMONS 

fals  man  nicht  Nus  pvi  lokef  18'  talsch  übersezt:  „damit  ist  die  sache 
abgetan"  und  den  übrigen  inhalt  der  strophe  unberücksichtigt  lässt. 
Nimt  man  das  gedieht  wie  es  vorliegt,  so  ist  die  reihenfolge  der  bege- 
benheiten  folgende:  1)  Erschlagung  des  drachen  und  Regins  und  erw er- 
bung des  hortes  11.  IH^^''.  —  [2)  Besuch  bei  Gjüki  13  ^•'^,  sonstiger 
Überlieferung  (doch  s.  u.)  widersprechend  und  von  Bugge  Fornkv.  415'' 
wol  richtig  erklärt  als  misverständnis  von  Fafn.  40  fg.].  —  3)  Erweckung 
der  schlafenden  Jungfrau  auf  dem  berge,  die  SigurJ)  runen  und  heil- 
kunst  lehrt  15  — 18.  Ihr  nanie  wird  nicht  genant  {f'ijlkcs  dötter  hjqrt 
i  hrynjo)^  die  waberlohe  nicht  erwähnt  \  von  einer  Verlobung  ist  nicht 
die  rede.  —  4)  Besuch  bei  Heimir,  wo  sich  Brynhildr ,  Bu[)lis  tochter, 
Heimirs  föstra  befindet.  Sigurpr  verliebt  sich  in  sie  und  verlobt  sich 
mit  ihr  19  ^-\  27  — 31'^  —  5)  Nach  einnächtlichem  aufenthalt  bei 
(Ijüki  vergisst  der  held,  durch  Grlmhilds  betrug  betört,  die  Brynhild 
geleisteten  eide;  er  erwirbt  dieselbe  für  Guunarr  (blutbrüderschaft  zwi- 
schen Sigurl3r,  Gunnarr  und  Hogni  37^-^^  gestaltentausch  37  ^  —  39-*, 
keusches  beilager  41)  und  vermählt  sich  selber  mit  Gulu'ün  31-^  —  43. 
Doppelhochzeit.  Yon  der  waberlohe  ist  auch  hier  keine  rede  ^  — 
Bemerkenswert  ist  in  dieser  darstellung  die  strenge  Scheidung  zwischen 
der  (ungenanten)  schlafenden  Jungfrau  auf  dem  berge  und  Brynhildr 
Bu|jladöttir,  die  Verlobung  mit  lezterer  bei  Heimir,  die  nichterwähnung 
der  waberlohe  soavoI  bei  der  erweckung  der  Jungfrau  d  fjaJle  als  bei 
der  erwerbung  Brynhilds. 

Die  Gripisspä  ist  der  älteste  uns  bekannte  versuch,  SigurJ^s 
lebensgeschichte  in  chronologischen  Zusammenhang  zu  bringen;  sie 
zuerst  hat  aus  dem  nebeneinander  verschiedener  sagenformen  ein  bio- 
graphisches nacheinander  hergestelt,  das  für  den  samler  und  damit 
auch  für  den  Überarbeiter  der  Snorra  Edda  und  den  Verfasser  der 
Volsungasaga  bestimmend  geworden  ist.  Die  trennung  der  Jungfrau  auf 
dem   berge    von   Brynhildr,    ihre    auffassung    als    besondere   figur,    ist, 

1)  Bugge  Fornkv.  412  sucht  die  waberlohe  in  der  verderbten  halbzeile  IS'* 
ept(ir)  bana  Helga,  wofür  er  vorschlägt  mid  bana  seljo.  Die  conjectur  hat  mehr- 
fach Zustimmung  gefunden,  und  Golther  Studien  s.  52  benuzt  sie  sogar  zu  seinem 
beweise,  dass  der  vafrlogi  ursprünglich  nur  zu  Sigrdrifa  gehörte.  Bugges  besserung 
hat  für  mich  nichts  überzeugendes,  da  der  fehler  vermutlich  mit  in  bana  steckt,  das 
in  z.  8  noch  einmal  c.  gen.  gebraucht  ist. 

2)  Edzardi,  Germ.  27,  402  glaubt,  dass  eine  hinweisung  auf  die  waberlohe  bei 
der  Schilderung  der  Werbung  um  Brynhild  ausgefallen  sei.  Auch  diese  Vermutung  ist 
sehr  fraglich:  der  dichter  der  Grip.  kann  den  tlammenritt  absichtlich  fortgelassen 
haben,  da  er  nach  der  Spaltung  der  Brynhildr  -  Sigi'drifa  uugewiss  war,  wo  derselbe 
anzubringen  sei. 


SIGFRID    UND    BRUNHILD.    I  11 

soweit  die  uns  vdrliegendcn    (juelleii  ein    urteil  gestatten,  das  "sverk  des 
dichters  der  Giipisspä. 

2. 

Dass  die  ältere  nordische  Nibelungendichtuug  die  identität  von 
Brynliildr  und  Sigrdrifa  ausdrücklich  oder  stilschweigend  voraussezt, 
ist  die  ansieht  der  meisten  älteren  deutschen  forscher  gewesen.  Gele- 
gentliche äussorungen  Jacob  und  Wilhelm  Grimms  ^  lassen  keinem 
Zweifel  räum,  auch  Lachmann  muss  diese  auffassung  geteilt  haben. 
Müllen  hoff  (Ztsclir.  f.  d.  a.  10,  155)  äusserte:  „Brynhildr  heisst  im 
norden  bekantlich  auch  »Sigurdrifa"  und  betrachtete  beide  namen  als  aus 
der  deutschen  sage  herübergenommen.  „Als  Brunihild,  Bellona  loricata, 
ist  die  Walküre  die  doppelgängerin  der  nibelungischen  Grimhild,  der 
Bellona  larvata  oder  galeata;  als  Sigutriba  ....  aber  ein  dem  echten, 
lichten  göttersolme,  d.  i.  dem  Walsung  Sigufrid  gleichartiges  wesen'". 

Auch  ^Y.  Müller-  (Myth.  der  deutschen  heldens.  s.  81  fgg.)  sah 
in  Sigrdrifa  nur  einen  anderen  namen  für  Br\"jdiild,  nahm  aber  an, 
derselbe  sei  speciell  nordisch,  wie  denn  überhaupt  nach  der  ansieht 
dieses  gelehrten  die  Verlobung  bei  Heimir  ursprünglich,  die  Verlobung 
mit  der  Jungfrau  auf  dem  berge  ausschliesslich  nordische  dichtung  wäre. 

Andererseits  hat  es  nicht  an  stimmen  gefehlt,  die  eine  trennung 
der  beiden  figuren  von  altersher  befürworteten.  Die  wichtigsten  der- 
selben hat  Golther,  Studien  s.  49  gesammelt.  Von  skandinavischen  for- 
schem vertreten  u.  a.  F.  Magnussen  (Lex.  myth.  s.  414),  Bugge 
(Fornkv.  s.XXXYIII),  Grundtvig  (Edda^  s.230='),  Rosenberg  (Xord- 
boernes  aandsliv  1,  289  fg.)  diese  ansieht.  Rydberg  (Undersökningar 
i  germ.  myth.  1,  732.  2,  272  fgg.)  betrachtet  „Segerdrif\^a"  als  eine  in 
die  heldensage  übertragene  mythische  figur,  die  ursprünglich  mit  Brj^i- 
hild  Buplis  tochter  nichts  zu  schaffen  hatte.  Die  weitere  ausführung 
dieses  gedankens,  wonach  erst  „redaktören  af  FafnersmaL'  die  weit 
älteren  Sigrdrifumol  in  den  SigurJ)scyclus  gezogen  und  dem  beiden,  der 
Sigrdrifa  erweckt  und  von  ihr  runenweisheit  lernt,  den  namen  des 
Sigurpr  Fäfnisbani  gegeben  haben  soll,  ist  so  phantastisch,  dass  ich 
auf  eine  Widerlegung  verzichten  darf.  In  Deutschland  haben  sich  in 
neuester  zeit  Heinzel  mid  Golther  für  die  Scheidung  erklärt.  Heinzel 
in  seiner  inhaltreichen  und  gelehrten  schrift  über  die  Nibelungensage 
(aus  den  Sitzungsberichten  der  Wiener  akademie,    phil.-hist.  cL,    CIX, 

1)  S.  z.  b.  J.  Glimm,  Myth. ■'351.  111,  119.  Xl.sclu-.  2,  276  fg.  —  AY.  Grimm, 
Hds.  349. 

2)  Auch  schon  in  seinem  „Yöi'such  einer  unihol.  erkläruug  der  Nibelimgen- 
sage"  (1841)  s.  63. 


12  SIJMONS 

s.  671  fgg.),  Wien  1885,  s.  22  fgg.  entscheidet  sich  für  die  ursprüng- 
lichkeit der  sagenform,  welche  zwei  valkyrien  kent,  die  valkyrie  SigurJ)s 
Hildr  oder  Sigrdrifa  und  eine  andere,  „welche  Brünhild  heisst  und 
Günthers  gemahlin  wird".  Auf  Heinzeis  vorzugsweise  ästhetischen 
gründe  wird  noch  einzugehen  sein.  Golther  hat  in  den  „Studien" 
s.  44  fgg.  der  frage  eine  eingehende  Untersuchung  gewidmet,  als  deren 
ergebnis  sich  herausstelt,  dass  in  den  Eddaliedern  die  valkyrie  Sigr- 
drifa oder  Hildr  überall  scharf  getrent  wird  von  Brynhildr  Bupladöttir. 
„Nirgends  wird  ein  näheres  Verhältnis  zwischen  Sigurd  und  Sigrdrifa, 
ein  Verlöbnis  erwähnt;  Sigrdrifa  verschwindet,  nachdem  sie  Sigurd 
runen  gelehrt  hat"  (s.  49).  In  seinem  aufsatze  in  der  beilage  der  Allg. 
Zeitung  1890,  nr.  60  wird  diese  ansieht  so  formuliert,  dass  „in  der 
nordisclien  dichtung  diese  Sigrdrifa  von  der  Brynhildr  durchweg  unter- 
schieden wird  und  erst  die  spätesten -quellen  des  13.  Jahrhunderts  den 
imglücklichen  versuch  machen,  die  beiden  gestalten  in  eine  einzige 
zusammeniliessen  zu  lassen." 

In  den  Beitr.  3,  255  fgg.  habe  auch  ich,  ohne  die  ursprüngliche 
mythische  einheit  der  Sigrdrifa -Brynhild  anzufechten,  die  ansieht  auf- 
gestelt,  dass,  soweit  wir  auf  quellen  zurückgehen  können,  eine  Spal- 
tung eingetreten  sei,  die  sich  als  sehr  alt  erweise  durch  feststehende 
charakteristische  züge.  Dieser  ansieht  hat  sich  Edzardi  (Übers,  der 
YqIs.  s.  92**  u.  ö.)  angeschlossen.  Wie  sich  aus  dem  bisher  erörterten 
bereits  ergeben  hat,  kann  ich  dieselbe  nicht  mehr  als  richtig  anerken- 
nen. Vielmehr  bin  ich  durch  eine  neue  erwägung  der  fi'age  und  fort- 
gesezte  beschäftigung  mit  den  Eddaliedern  zur  Überzeugung  gelangt, 
dass  erst  der  Verfasser  der  Gripisspä  die  Spaltung  der  Brynhildr  in 
zwei  gestalten  vorgenommen  hat^.  Die  berechtigung  zu  dieser  auffas- 
sung  muss  sich  zugleich  mit  ihrer  näheren  begründung  aus  einer  ana- 
lyse  der  eddischen  heldenlieder  ergeben.  In  betracht  kommen  nament- 
lich die  Schlussstrophen  der  Fäfnism^l,  die  Sigrdrifuni(»l  und  Helrei|) 
Brynhildar. 

In  den  Fäfnism()l  str.  32.  33.  35.  36.  40  —  44  sind  uns  frag- 
mente  eines  liedes  aus  dem  SigurJ)scyclus  im  fornyrpislag  überliefert. 
Demselben  liede  mögen  auch  Reg.  13  — 18.  26,  sowie  Sgrdr.  1.  5  nebst 
der  halbstrophe  im  prosastücke  vor  5  angehört  haben.  Ähnlich  urteilen 
Ettmüller,    Germ.  17,  13;    Edzardi  Germ.  23,   319   fgg.;    G.  Vigfüsson, 

1)  Dieselbe  ansieht  äussert,  wie  ich  erst  später  bemerkte,  W.  Eanisch  in 
der  ersten  der  hinter  seiner  dissertatiou  „Zur  kritik  und  metrik  der  Ham{)ismal " 
(Berl.  1888)  abgedruckten  thesen:  „Brynhildr  und  Sigrdi-ifa  sind  erst  durch  den  dich- 
ter der  Gripisspä  als  zwei  verschiedene  pei'souen  gefasst". 


SIÖFKIU    UND    BRliNHJLM.    I  13 

Cpb.  1,  157  Igy.   und  h\  Joiissoii    in   seiner    ausgäbe.     Nach    der  t(itung 
Rogius  erteilen  die  vögel  dem  Sig-ur{tr  ratsciiliige: 
■10    /)'///  Jui,   Si(/r(ti/t/\     h<(ii<i<i   raiijKi! 

rsd   LoiiKHfih'kt     lirijxi   /t/oiyo: 

///(//   rcilk  cina      iiilklo  fcfirslu^ 

(/(>//<    i/(')(/(/(t ,      ."/   (/(f(t   Hurllcf. 
■1 1    I-'iHilj"   lil   ({ji'ih'ii     jiröudr  Urin(f(')\ 

l'niiu    r/s//  .s/,(>j)     j/)lhl/p(ti//l/)ii/ ; 

h/fr  /l/'/rr  l:/n/i////ir     /lülh/r  ali//i, 

!>//  Il//tl/l ,  ^^i'Jf'i' f"'i  inKii/lc  l>/l.//j)/l. 
In  sti'.  41  ist  von  (ifujirrui  die  rede;  ob  die  vorhergehende  stii»phe  sie 
oder  Hrynhild  meint,  liisst  sich  mit  Sicherheit  allei-dings  nicht  entschei- 
den. Die  herausgeber  und  commeutatoren  schwanken;  es  mag  genügen 
auf  die  enirtei'ungen  Bugges  (Furnkv.  41;"))  und  Edzardis  ((rem].  L*;), 
v!22  fgg.)  zu  verweisen.  Mit  di(>sem  bin  icli  geneigt,  auch  in  der  Jung- 
frau, von  welcher  die  vTjgel  in  sti'.  40  singen,  (iu|ii'ün  zu  erblicken, 
nicht  Br\nhild.  Es  ist  an  sich  natürlicher,  in  str.  41  eine  furtsetzunc 
des  gedankens  der  vorhergehenden  strophe  zu  sehen.  'Die  „mit  gold 
ausgestattete  maid"  erinnei-t  an  (ru|)rüns  \voi'te  (Ui|>r.  11,  1'''  "^i  /mx 
11/ iJ:  (Iji'/k/'  [/(/!//■  r/i ['])/■ ,  ///>///'  r/'i ['[)/•,  (j/if  Slijv/'rjtr;  nach  Sig.  sk.  2  wird 
dem  heldeu  mit  der  jnngfrau  mcijnna  fjr)lp  geboten.  8odann  führt  die 
aufforderung  der  vögel  40 \  die  roten  liuge  zusammenzubinden,  tVdge- 
reelit  zu  der  prophezeiung  41'.  dass  er  sie  brauchen  wird  nm  (Ju|)rüu 
mit  dem  maischatz  zu  kauten.  In  den  werten  r/'  ficf/i  iiu'ett/'r  40 '^ 
liegt  kaum,  wie  Bugge  meint,  ein  hinw^eis  darauf,  dass  das  Schicksal 
8igur|)  nicht  gestatten  werde,  sich  mit  der  Jungfrau  zu  vermählen,  viel- 
mehr eine  ermunterung:  ,, suche  sie  zu  erlangen!"  (s.  Edzardi  a.  a.  o, 
824  a.  2).  Dei-  gewolte  Zusammenhang  der  beiden  Strophen  scheint 
dieser  zu  sein:  „Binde  zusammen,  SigurJ},  die  roten  ringe!  Nicht  ist 
es  königlich,  viel  zu  fürcliten;  eine  w'uuderschöne  Jungfrau  kenne  ich, 
goldgeschmückt,  köntest  du  sie  erlangen!  Zu  Gjüki  führen  gi'üne 
wege,  vorwärts  weist  das  Schicksal  den  recken^;  es  hat  der  edle  könig 
eine  tochter  gezeugt,  die  wirst  du  mit  dem  malscbatz  erwerben". 
Es  folgt  die  schlafende  Jungfrau  auf  dem  bei-ge: 
42  Scflr's  d  hövo     Hindarf jalle, 

allr  es  ütan     ekle  sveipemi, 

1)  fulldipqndum  41'*  dat.  pl.  soll  heissen:  „umlierzielionde  reckeu,  wie  du''. 
De^r  plural  in  dieser  algemeinen  sentenz  gestattet  die  anweiidnng  auf  den  vorliegen- 
den fall.  Ähnlich  steht  der  plural  Sig.  sk.  14'',  etwas  abweichend  (Jlu|)r.  IT,  .'>*'. 
Helg.  Hu.  II,  46'*,  vgl.  Bugge  Fornkv.  249  ^     K.  Oislason  Njala  11,  562  fg. 


14  si.BroNS 

])ann  hafa  hoi'sker     haier  of  gqyvan 
ör  ödekkoni     ögnar  Ijöimi. 

43  VeHk  d  fjallc     folkvUt  sofa,   ■ 
ok  leikr  yfer     lindar  vdpe; 
Yggr  stakk  Jwrne  —     aj>ra  felde 
hQ?rjefn  hale,     an  hafa  vilde^. 

Auf  Hindaiijall  im  flammenumloderten  goldenen  saale  schläft  eine 
valkyrie,  die  ÖJiinn  mit  dem  schlafdorn  gestochen  hat,  da  sie  andere 
männer  getötet  hatte,  als  der  gott  ihr  befohlen.  Die  einzelnen  züge 
sind  wesentlich  dieselben,  wie  in  der  prosa  vor  Sgrdr.  5  und  Helr. 
Brynh.  8  — 10,  nur  absichtlich  in  unsicherer  märchenhafter  beleuch- 
tuug,  wie  sie  der  Situation  angemessen  ist.  Zweimal  wird  die  schlä- 
ferin in  str.  48  umschrieben,  ihr  name  wird  nicht  genant,  so  wenig 
wie  Guf)runs  in  str.  40  fg.     Nun  aber  heisst  es  weiter: 

44  Kndft,  tnqgr,  sea     mey  und.  hjaliue, 
päs  frd  vige     Vi7igskorne-  reip; 
mät  sigrdrifa(}j     svefne  hregpa, 
skjqldunga  riipr,     fyr  skqpom.  )iorna. 

In  der  zweiten  halbstrophe  bietet  die  Überlieferung  sigrdrifar,  wäh- 
rend Bugge  Fornkv.  415''  Sigrdrlfa  änderte.  Jedenfals  versteht  Bugge 
mit  recht  skjqldimga  nipr  als  anrede,  wie  mqgr  z.  1,  nicht  als  Subjekt 
zu  indt.  Denn,  wenn  F.  Jonsson  Eddalieder  2,  126  unsere  stelle 
erläutert:  „wenn  der  vogel  sagt,  dass  Sigrdrlfa  niemals  erwachen  kann, 
so  ist  es  ein  versuch,  SigurJ)r  vom  schlafenden  weibe  fern  zu  halten'', 
so  liegt  es  nahe  dagegen  zu  bemerken,  dass  der  vogel  diesen  zweck 
einfacher  und  kürzer  hätte  erreichen  können,  wenn  er  der  valkyrie 
überhaupt  nicht  erwähnt  hätte.  Keinesfals  aber  durfte  der  vogel 
behaupten,  dass  Sigurpr  ihren  schlaf  nicht  zu  brechen  vermöge,  ohne 
eine  wissentliche  Unwahrheit  zu  sagen.  Der  held  wird  die  behelmte 
maid  schauen,  die  (oder,  wie  sie?)  auf  ihrem  streiti'oss  aus  dem  kämpfe 
ritt.  Ihr  schlaf  kann  nach  dem  ratschluss  der  nornen  nicht  gebrochen 
werden:  dass  der  skjqldunga  nipr,  Sigurpr,  allein  dies  vermag,  wird 
verschwiegen,   wie  es  der  haltung  dieser  prophezeiung  wol  entspricht 3. 

1)  43**  —  **  nach  der  überzeugenden  lierstellung  oder  richtiger  deutimg  der  Über- 
lieferung vonGrundtvig  und  Bugge.  R  liest:  ap'a  feldi  liavrgefa  hali  e  hafa  midi. 
Ergänzung  von  es  vor  a^ra  ist  unnötig  und  metrisch  nicht  empfehlenswert. 

2)  44*  vingscornir  B;  Vingskorne  lesen  mit  recht  die  alten  Kopenhagener 
und  die  neueren  herausgeber  seit  Bugge. 

3)  G.  Vigfiisson  Cpb.  T,  158  übersezt  richtig:  „Sigrdrifa's  sleep  eanuot  ])e  bro- 
ken,    thou  son  uf  the  Shieldings,    becauso  of  tlie  Fate's  decrees".     Es  geiit  nicht  an, 


SIGFKII)    TWIl    RRTTNUILn.    I 


Ob  mit  der  liaiulschrift  sijirdnfar  oder  mit  ßugge  siyrdrifa  gelesen 
wii'd,  ist  für  den  sinn  freilicli  gleichgültig.  Die  Überlieferung  Hesse 
sich  syntaktisch  wol  verteidigen,  aber  der  gQn.  sigrdrifay  sezt  einen 
nom.  '■Siiinhif  voraus,  der  sonst  nicht  überliefert,  wenn  auch  sehr 
wol  deidvbar  ist  (s.  unten);  für  Bugges  änderung  dürfte  ferner  die  ana- 
logie  von  8grdr.  1  -,  2  ■'■  '^  sprechen.  A''on  grösserer  bedeutung  ist  aber 
eine  andere  frage,  die  sich  an  dieses  wort  knüpft,  für  unseren  zweck 
von  entscheidender. 

8igrdrifa()j  ist  bisher  wol  algemein  als  elgenname  verstanden 
worden.  Ich  lial)o  wenigstens  nirgends  eine  andere  auffassung  ange- 
deutet gefunden  und  verdanke  selber  die  anregung  zu  meiner  jetzigen, 
in  Pauls  Grundriss  II,  1,  28  bereits  angedeuteten,  hier  näher  zu  be- 
gründenden auffassung  einer  brieflichen  bemerkung  meines  freundes 
H.  Gering.  Es  wäre  das  einzige  mal,  dass  Sigrdrifa  in  den  Eddalie- 
dern genant  würde;  ihr  sonstiges  vorkommen  beschränkt  sich  auf  die 
prosa  vor  str.  5  der  Sgrdr.  (Bugge  229 1-  ^^-  ^i).  Str.  40.  41  reden  von 
Guprün,  ohne  sie  zu  nennen;  in  str.  42.  43  Avird  von  der  flamnien- 
umgebeneii  valkyrie  gesungen,  ohne  dass  ein  name  genant  wird;  auch 
str.  442  spricht  nur  von  der  behelmten  maid:  auffallend  wäre  es,  wenn 
plötzlich  am  Schlüsse  der  name  der  dreimal  umschriebenen  hervorträte, 
um  sonst  nirgends  in  den  liedern  Verwendung  zu  finden!  Sieht  man 
zunächst  ab  von  anderen  Überlieferungen  und  betrachtet  unsere  Stro- 
phen für  sich,  so  liegt  es  näher,  sigrdrifa  appellativisch  zu  verstehen 
als  eine  neue  poetische  bezeichnung  der  valkyrie,  die  stilistisch  nicht 
bedenklicher  wäre  als  foJkvitr.  43-,  hqrgefji  431  Die  fornyrpislag- 
strophen  der  Fäfn.  verwenden  kenningar  in  ziemlich  ausgedehntem 
massstabe:  SigurJ)r  heisst  spiller  hauga  32  "\  hildemeipr  36-,  skjqldunga 
nipr  44'^  (dazu  kommen  Yngva  konr  Reg.  14  3,  hrynpings  npaldr 
Sgrdr.  52),  das  gold  ögnar  Ijöme  42  8,  ^^^  fQxxQT  Undar  vdpe  43^,  das 
herz  fjqrsege  32'  (das  schiff  Ecevels  kestr  Reg.  16  2,  seglvigg  16^,  väg- 
7narr  16^,  scetre  17'-,  hlunvigg  11'^).  Auch  hers  japarr  Fäfn.  36-^  (baue 
Sigmundar  Reg.  26  3,  hilmes  arfe  26^)  gehören  einigermassen  in  die- 
sen Zusammenhang.  Eine  Umschreibung  sigrdrifa  für  die  valkyrie 
Brynhildr  wäre  dem  stile  unseres  fragmentes  gewiss  nicht  zuwider: 
vgl.  Edzardi  Germ.  23,  320  fg.  Der  samler  hätte  aus  der  appellativi- 
schen bezeichnung  einen  eigennamen  gemacht,  und  Sigrdrifa,  sei  es 
nun  als  zweiter  name  der  Brynhildr,  sei  es  als  name  einer  besonderen 

skjqldunga  n/pr  (als  Subjekt  zu  j/idf)  von  anderen  königssöhnen  (im  gegeusatz  zu 
SigurJ)!-)  zu  verstehen;  nocli  viel  weniger  kann  fyr  sl:qpom.  noma  beissen  .,eli  die 
uoruen  es  fügen"  (Simroek). 


16  SIJMONS 

figur,  würde  auf  einem  misverstäudnis  beruhen.  Die  mögliclikeit  eines 
solchen  misverständnisses  dürfen  wir  getrost  behaupten:  hat  doch  der 
samler  in  der  prosaischen  einleitung  zur  V0hindarkvij)a  sich  nachweis- 
hch    einen  ähnlichen  irtum  zu  schulden  kommen  lassen^. 

Nach  Golther  Studien  s.  37  wäre  tSiyrdrifa  eine  Zusammensetzung 
mit  drifa  „Schneesturm,  schneetrift".  Weit  richtiger  hatte  bereits 
J.  Grimm  Myth.^  741  in  Sigrdrifa  „die  nordische  Victoria  oder  Nlk^j^'- 
gesehen  und  Müllenhoff  Ztschr.  f.  d.  a.  10,  156  hatte  an  ahd.  wig  trt- 
han  Graff  5,  482  erinnert.  Mit  altn.  drifa  in  der  bedeutung  „schnee- 
trift" ist  nichts  anzufangen.  Allerdings  wird  dieses  wort  in  der  skal- 
densprache  zu  Umschreibungen  für  kämpf  verwant:  so  ist  hjqrdnfa  in 
der  Gräfeldardräpa  des  Glümr  Geirason  (Hkr.  U.  136-^")  eine  leicht 
verständliche  kenning  „schwert(schnee) stürm  =  kämpf"  (vgl.  hjqrregn, 
hjqrgräp  Lex.  poet.  348  fg.);  vgl.  ierner  hjcdmdrifa  [lijalmdrifo  vipr 
Sighvatr  Hkr.  U.  307  21],  hlemmidnfa  Hüdar  Hatt.  str.  54 »  Mob., 
loptdrifa  Fms.  I,  170,  pingdrifa  [Jringdrifo  me/ui  Sighvatr  Hkr.  U. 
522  2*"'  „die  zur  voiksversamlung  strömenden  menschen"].  Die  mhd. 
volksepik  liebt  es,  die  geschosse  oder  die  heerschaaren  mit  schnee  zu 
vergleichen  (W.  Grimm  zu  Athis  E  146  =  Kl.  sehr.  3,  306;  Jaenicke 
zu  Bit.  10193),  und  die  nordische  skaldendichtnng  tut  wesentlich  das- 
selbe, nur  dass  sie  den  vergleich  in  eine  kenning  zusammendrängt. 
Damit  ist  aber  für  sigrdrifa  wenig  gewonnen,  man  müste  denn  mit 
Golther  DLZ  1890,  sp.  333  annehmen,  dass  eine  kenning  für  kämpf 
als  bezeichnung  für  die  valkyrie  gebraucht  sei.  Aber  näher  liegt  eine 
andere  deutung  des  namens. 

Die  quantität  des  zweiten  /"  von  sigrdrifa (r)  Fafn.  44''  ist  mit 
Sicherheit  nicht  zu  bestimmen.  Ich  fasse  die  halbzeile  mdt  sigrdrifa  (/j 
als  den  Sievers'schen  typus  0  3  ( X  -^  1  ^  X )  und  das  i  von  -drifa, 
demnach  als  kurz.  In  sigrdrifa  hätten  wir  ein  weibliches  nomen  agen- 
tis  mit  n- Suffix,  zu  welchem  das  masculinum  -drife  vorliegt  in  hring- 
drife  Akv.  31  ^^  [frohi  hringdrife,  d.  i.  -i  |  jl -^  X  typus  D  2),  mit 
regiüärer  schwächster  vokalstufe,  wie  liveldripa ,  inyrhripa  :  haldripe 
usw.  (vgl.  Hj.  Falk  Beitr.  14,  14  fgg.).  Neben  -drife  kent  die  altn. 
dichtersprache  -drifr  (mit  praesensvocal),  so  mit  liri^igd/rife  gleichbedeu- 

1)  Die  Sache  liegt  dort  wol  folgendermasseu.  Der  uom.  sing,  alvitr  u^uja  10' 
(über  akrltr  s.  Sievers  Beitr.  12,  488)  verführte  den  samler  dazu,  auch  1'^  und  3" 
den  gleichlautenden  nom.  plur.  als  sing,  zu  behandeln  und  demgemäss  ungar  durch 
unija  zu  ersetzen.  In  seiner  prosa  hat  er  dann  ahntr  als  beinamen  der  Hervcjr  ange- 
sehen, ebenso  vielleicht  svanhinf  2-'  als  beinamen  der  Hla]jgul)r.  Allerdings  ist  4'" 
svanhvito  der  tonn  nach  eigeimame:  stand  hier  ursprünglich  svanhvUre'^ 


SIGFRID    UNI)    URTTNHILI».    I  1*7 

teiul  hriit(i(h'ifr  (Lex.  poet.  H!l()),  bauijdrlf)-  [baniidrif  vom  li.  Olaf 
Geisli  17''  nach  Bergsbok  ^  hrainhlrif  V\i\i.\^  fornor  qrdrifr  Korni.  s. 
str.  55'  Mol).  \Jij<)rdnfr  Cod.,  hringdrlfr?  F. -lonssoii  bei  Möbius  s.  147J. 
Wie  hr'uHjdiife  oder  lirhigdnfr  den  milden  tursten  als  (k^n  „ringspen- 
der''  bezeicbnet,  so  s'njrdnfii  (oder  sigrdrif)  die  valkyrie  als  die  „sieg- 
speuderin".  Die  bildiingen  schliessen  sich  an  drifd  in  der  bedentnng- 
„stauben,  streuen",  einer  specialisierung  der  ursprünglichen  b(!deutung 
des  germanischen  verbums  dr/'han  „in  eilige  bewegung  versetzen". 
Styrdrifa  als  bezeichnung  der  valkyrie  erinnert  an  sigrmeijjay  (Fms.  Y, 
246),  sijjrfljop  {(/jöpovf  ■'^'f/r/ljojx/  „den  raben"  Eyrb.  1864,  114 2):  ist 
es  doch  das  amt  der  valkyrien,  des  sieges  zu  walten  {räpt  slyri  Gylf. 
c.  H6:  Sn.  E.  I,  120.  II,  275).  Wenn  in  dem  bekanten  ags.  bienen- 
segen  der  ausdruck  si^eirif  auffallender  weise  auf  schwärmende  bienen 
angewant  wird  (Grein -Wülker  1,  320;  vgl.  Zupitza  Anglia  1,  189  fgg.), 
so  wird  man  annehmen  dürfen,  dass  er  ursprünglich  valkyrien  bezeich- 
nete und  erst  später  auf  bienen  bezogen  wurdet 

Als  ergebnis  dieser  erörterung  glaube  ich  aufstellen  zu  dürfen: 
sigrdrifa  in  Fäfn.  44  ist  appellativische  bezeichnung  der  valkyrie,  die 
nicht  genant  wird,  aber  unter  der  nur  Brynhildr  verstanden  Averden 
kann.  Die  prophezeiung  der  ig[)ur  kent  also  mir  zwei  frauengestalten, 
die  in  Sigur[)S  Schicksale  eingreifen  werden:  Guprün,  die  er  heiraten, 
und  Brynhildr,  die  er  aus  dem  zauberschlafe  durch  den  tlanmienritt 
erwecken  wird.  Diese  reihenfolge  ist,  wie  sich  ergeben  wird,  nicht 
wilkürlich.  auch  nicht  mit  Bugge  Fornkv.  415  und  Edzardi  Germ.  23, 
323  so  zu  deuten,  dass  die  vögel  zuerst  die  hauptbegebenheit,  dann 
die  frühere  begegnung  mit  der  schlafenden  valkyrie  hervorheben,    son- 

Ij  (jalten  etwa  bienenscliwärmt}  dem  ausziehendeu  krieger  als  gutes  onieu  und 
daher  die  bienen  als  „siegspendende  frauen"  (si-^eivtf)?  Ich  kann  die  frage  nur  auf- 
werten, mache  aber  darauf  aufmerksam ,  dass  im  märchen  die  bieneukönigiu  sich  auf  den 
mund  ihres  günstlings  sezt  (KHM.  nr.  62.  Myth.-*  579).  —  Den  Eömern  galten  frei- 
lich im  algemeinen  bienenschw.ärme  als  üble  Vorzeichen,  sowol  im  lager  (Liv.  21,  46. 
Valer.  Maxim.  1,  6,  12j,  als  auf  dem  markte  in  der  stadt  (Liv.  24,  10.  27,  23) 
und  so  uocli  bei  Ammian.  Marcell.  18,  .^,  1  im  jähre  359  n.  Chr.  Auf  eine  andere 
auffassung  könte  allerdings  Plinius  n.  h.  11,  55  deuten:  scdere  (apes)  in  caitlris 
Dnisi  imperatoris,  ckhi  prosperr  pwjnaiuDi  apud  Arhaloiin)!  est,  haud  quacpMui 
perpetna  harnspicum  conjectura,  qui  dirum  id  ostentmn  existimant  semper.  Diese 
auffassung  steht  vermutlich  unter  griechischem  einflusse.  Als  Dionysius  I.  von  Sici- 
lien  einmal  die  band  in  die  mälme  seines  pferdes  schlug,  um  dasselbe  zu  besteigen, 
und  ein  bienenscliwarm  sich  darauf  niederliess,  erklärten  die  Wahrsager,  oti  tuOtu 
^loi'HQyiuv  S>]}.oi  (Aelian.  Yar.  Hist.  12,  46  =  Cic.  de  div.  1,  33,  73.  Plin.  n.  h. 
8,  158);  vgl.  auch  Diodor.  19,  2,  9.  Bei  diesen  nachweisen  haben  mich  prof.  Yaleton 
in  Amsterdam  und  mein  liiesiger  College  prof.  Boissevain  ft-eundlichst  unterstüzt. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCirE    PHILOLOGIE.      Bl).    XXIV.  2 


18  SIJMONS 

dern  nach  der  einen  der  beiden  ältesten  nordischen  sagenfassungen 
auch  chronologisch  richtig. 

Hinsichtlich  der  Sigrdrifumöl  kann  ich  mich  in  allem  wesent- 
lichen den  ausfiiln'ungen  Müllenhoffs  DA.  Y,  1,  160  fgg.  anschliessen. 
Die  kritische  analyse  dieses  „liedes",  d.  h.  der  Strophen,  welche  die 
samlung  ohne  andeutung  ihres  verschiedenen  Ursprungs  als  ganzes  bie- 
tet und  die  ausgaben  unter  dem  titel  Sigrdrifumöl  zusammenfassen, 
führt  zu  folgendem  ergebnisse.  Den  grundstock  bilden  bruchstücke 
eines  gedichtes  in  Ijöjjahättr  (A),  dessen  stoff  die  erste  begegnung  Sig- 
urj)s  und  seiner  valkyrie  bildete:  str.  2  —  4,  zu  lesen  in  der  reihen- 
folge  3.  4.  2  (Miülenhoff  s.  161),  20.  21.  (22.  23.  24.  26.  28.  29.  31. 
32.  33.  35.  37,  von  denen  gleich  näher  die  rede  sein  wird).  Bereits 
in  der  mündlichen  recitation  verschmolzen  mit  diesem  gedichte  Stro- 
phen eines  anderen  liedes  aus  dem  Sigurf)scyQlus  in  fornyrpislag  (B), 
dem  möglicherweise  auch  Reg.  13  — 18.  26.  Fäfn.  32  fg.  35  fg.  40  — 
44  angehörten  (s.  oben  s.  12.  dazu  aber  auch  unten  s.  30  anm.).  Der 
aufzeichner  hatte  nur  noch  str.  1  und  5  im  gedächtnis,  die  erzählung 
der  valkyrie  von  ihrem  geschick  war  in  ihrer  alten  poetischen  fassung 
bis  auf  einen  geringen  rest  (die  halbstrophe  in  der  prosa  vor  5)  ver- 
gessen. Eine  jüngere  einschaltung,  die  aber  die  Verbindung  von  A 
und  B  voraussezt,  da  sie  offenbar  veranlasst  wurde  durch  die  erwäh- 
nung  der  gamanrünar  5^,  ist  das  rünatal  str.  6  —  13'^.  Daran  haben 
sich  in  der  Überlieferung  angeschlossen  verschiedene  bruchstücke  alter 
gedichte:  str.  13-*~^°.   14.  —    15  — 17    (eine  zwölfzeilige  jHila).  —    18. 

19  (leztere  strophe  wol  als  abschluss  des  runenabschnitts  und  Überlei- 
tung zu  20  fgg.  gemeint).  Endlich  haben  sich  an  die  lebensregeln  der 
valkyrie  str.  22  fgg.  einige  verwante  geheftet  (str.  25.  27.  30.  34.  36), 
die  schon  Bergmann,  Die  Edda-gedichte  der  nord.  heldens.  s.  89  fgg. 
als  jüngere  zutaten  ausschied. 

Für  unseren  zweck  komt  die  strophenreihe  A  vorzugsweise  in 
betracht.  Die  aus  langem  zauberschlafe  erwachte  valkyrie  fleht  in 
zwei  herlichen  vlsur  den  tag  und  die  nacht  mit  ihrer  sippe  um  sieg 
an,  die  äsen  und  asinnen  und  die  segenspendende  erde  um  redegabe, 
Weisheit  und  heilende  bände  für  sich  und  den  berühmten  geliebten 
beiden.  Darauf  leitete  die  strophe  Le7ige  svafk  usw.  die  erzählung 
ihres  geschickes  ein,  deren  weiteren  verlauf  die  prosa,  wie  sich  aus 
der  vergleichung  von  Helr.  8  fgg.  ergibt,  im  ganzen  treu  bewahrt.  Nur 
den  namen  der  valkyrie  hat  der  samler  hinzugefügt,  die  „siegspende- 
rin"  von  Fäfn.  44  wurde  zu  Sigrdrifa,  und  diese  namengebung  ist  für 


SICiFRID    UNI)    BRüNini.n.    I  49 

die  auffassune,-  dos  liodes  vorhiini;-nisv()ll  g'owordon.  Mit  Müllenhoft' 
müssen  wir  das  ii'matal  und  die  sich  anschliessenden  strophen  (0  — 19) 
sclionun£csh)s  entfernen.  Krst  str.  20  und  21  g^eliören  wider  dem  alten 
gedichte  an.  Hrynhild,  zur  strafe  für  ihr  eigenmächtiges  eingreifen  in 
schlaf  versenkt,  hat  dem  gotto  verheissen  oder  wol  richtiger  —  nach 
Hell-.  5)  —  ihm  das  versprechen  abgerungen,  keinem  sich  zu  vermäh- 
len, der  sich  fürchten  krtnne.  Der  furchtlose  erwecker,  der  ihr  bestirnte 
bräutigam,  ist  erschienen:  in  glülienden  worten  hat  sie  glück  und  sieg 
herabgefleht  auf  den  geliebten  mann  und  sich  selber.  Und  wozu  soll 
diese  vielversprechende  einleitung  dienen?  Damit  Sigrdrifa  runenleh- 
ren  und  sprüche  der  Weisheit  auskramen  könne,  um  dann  spurlos  7a\ 
verschwinden!  Dies  mag  bereits  die  ansieht  des  samlers  gewesen  sein, 
wie  es  die  ansieht  neuerer  forscher  ist:  der  alte  dichter  unsres  Bryn- 
hildliedes,  wie  man  die  Sigrdrifumul  richtiger  zu  nennen  hätte,  bezweckte 
anderes.     In  str.  20  sagt  die  valkyrie: 

„Nu  skaÜ  kjüsa,    per's  kostr  of  hojtrint, 
hrassa  vnipna  hlynr! 

sqgn  epo  pqgn     haf  per  sjalfr  l  hug, 
oll  ero  )»ein  of  meien". 
Welche  wähl  stelt  sie  dem  beiden?     Die  antwort  kann  nur  z.  8  geben: 
sqcpi   cpa  pqgrt ,    d.  h.   sprechen   oder   schweigen.     Über  die  bedeutung 
dieser  ausdrücke   an  unserer  stelle  gibt  Sigur|)s   erwiderung  in  str.  21 

auf  klärung : 

,,]\Io)ikak  floja,    pöt  mik  feigjon  viter, 

euiküh  mep  hlegpe  horemi; 
dstrqj)  phi  vilk  qll  Imfa, 
sra  lenge  seu/  ek  life". 
Wenn  der  held  emphatisch  beteuert,  er  w-olle  nicht  fliehen,  wenn 
er  auch  dem  tode  verfallen  sei,  denn  er  sei  kein  feigling,  so  ist  es 
undenkbar,  dass  der  dichter  damit  die  folgenden  durchaus  uncharak- 
teristischen lebensregeln  einleiten  wolte.  Diesen  standzuhalten  war 
allerdings  etwas  gedukl,  aber  weder  mut  noch  todesverachtung  erfor- 
derlich. Folglich  kann  20^  unmöglich  bedeuten:  „überlege  dir,  ob  ich 
weiter  reden  oder  schweigen  soll",  vielmehr  soll  Sigurpr  sprechen 
oder  schweigen,  d.  h.  er  soll  sich  entscheiden,  ob  er  der  eben  erlösten, 
ihm  zur  braut  bestimten  Jungfrau  entsagen  oder  ob  er  ihr  CAvige  treue 
schwören  will.  Aus  seiner  antwort  darf  man  schliessen,  dass  Brynhild 
ihn  in  verlorenen  Strophen  darauf  gewiesen  hat,  dass  aus  ihrem  bunde 
Unheil  entspriessen  und  Zerwürfnisse  sich  entwickeln  werden,  die  den 
tod  des  beiden  herbeiführen.     Nur  durch  diese  annähme  wird  die  erste 

2* 


20  SIJMONS 

hälfte  von  str.  21  verstäudlioh;  ihre  zweite  hälfte  bringt  SigurjDs  ent- 
scheidung-.  Hier  macht  nun  freilich  der  ausdruck  ästrqp  Schwierig- 
keiten. Die  bedeutung,  welche  das  wort  dsträp  sonst  hat,  „liebevoller, 
freundschaftlicher  rat ",  ist  hier  unpassend.  Der  Zusammenhang  erfor- 
dert, wie  Müllenhoff  mit  recht  hervorgehoben  hat,  dass  Sigurpr  einfach 
sagt:  „deine  liebe  will  ich  ganz  haben,  so  lange  als  ich  lebe".  Man 
könte  auf  den  gedanken  verfallen,  die  stelle  habe  ursprünglich  gelau- 
tet: äst  pina  vilk  aUa  hafa,  und  erst  die  Interpolation  von  str.  22  fgg. 
habe  die  änderung  veranlasst.  Wahrscheinlicher  aber  ist  der  umge- 
kehrte Vorgang:  wie  die  zufällige  erwähnung  der  gamanrünar  5  die 
einschaltung  von  str.  6  fgg.^  so  konte  die  falsche  auffassung  der  ästrqp 
die  anfügung  der  sitten-  und  lebensregeln  str.  22  fgg.  veranlassen. 
Kann  ästt^qp  pln  dem  dichter  von  str.  21  als  „die  ehe  mit  dir  der 
geliebten"  gegolten  haben  (vgl.  göpra  räpa  Grip.  45*.  Brot  3^  und 
Oxf.  dict.  s.  V.  rää  II,  3)?  Sind  nun  aber  die  ratschlage  der  valkyrie 
str.  22  fgg.  ein  jüngerer  zusatz,  so  kann  der  alte,  durch  die  grosse 
lücke  des  Codex  Regius  verlorene  schluss  des  alten  Brynhildliedes  kein 
anderer  gewesen  sein  als  das  strophenpaar,  dessen  prosaauflösung  die 
Volsungasaga  am  schluss  von  c.  21  (B.  133 ^^~i5)  bewahrte  Sigur[u' 
und  Brynhildr  schwuren  sich  ewige  treue.  So  nimt  Müllenhoff  a.  a.  o. 
s.  161  mit  recht  an  gegen  Bugge  Fornkv.  235*'  fg.  und  mich  Beitr.  3, 
255  fgg.  Der  Inhalt  der  sogenanten  Sigrdrifumql,  den  die  kritische 
Zergliederung  und  Säuberung  der  unter  diesem  namen  herkömlicher 
weise  zusammengefassten  strophenmasse  mit  Sicherheit  ergibt,  war  dem- 
nach die  erweckung  der  Brynhildr  durch  SigurJ)  und  ihre  Verlobung. 

Yon  hervorragender  Wichtigkeit  für  unseren  zweck  ist  das  viel- 
fach misverstandene  lied  HelreiJ)  Brynhildar.  Bekantlich  hat  Sv. 
Grundtvig  (Edda^  230)  die  Strophen  6.  8  —  10  (Bugge)  ausgeschieden 
als  dem  gedichte  ursprünglich  nicht  angehörig  und  sie  in  die  Sigrdrifu- 
m^l  verpflanzt.  Dieser  ansieht  hat  sich  Bugge  nachträglich  ange- 
schlossen (Fornkv.  416".  423),  und  Golther  (Studien  s.  37  fgg.)  ist  noch 
einen  schritt  weiter  gegangen,  indem  er  auch  str.  7  als  interpoliert 
betrachtet  und  somit  Helr.  6 — 10  auswirft.  Eine  etwas  modificierte 
ansieht  über  unsere  Strophen  vertrat  Edzardi  (Germ.  23,  413  fgg.),  der 
aber  auch  str.  8  — 10  einer  anderen  fassung  der  Sgrdr.  zuwies.  Wenn 
neuerdings  Mogk  (Pauls  Grundriss  II,  1,  88)  sagt,  in  der  Helrei{),  die 

1)  Völlige  treue  der  paraphrase  soll  damit  nicht  behauptet  sein.  Namentlich 
erregt  der  ausdruck  engi  fmnx  per  vitrari  maßr  bedenken,  er  sezt  die  vorausgehen- 
den Weisheitssprüche  voraus  und  ist  wol  nicht  ursprünglich. 


SIGFRID    UND   BRUNHILD.    1  21 

er  als  „eine  rein  nordische  pflanze  späterer  zeit"  charakterisiert,  sei 
Brynhild  vom  dichter  mit  der  Sigrdrifa  zusammengeworfen,  so  scheint 
er  Avesentlich  derselben  ansieht  zugetan.  Fragt  man,  was  den  Urheber 
dei-selben  zu  seiner  ausscheidung  bewogen  hat,  so  wird  die  antwort 
lauten  müssen:  weil  in  den  betreffenden  Strophen  der  HelreiJ)  von  Bryn- 
hild erzählt  Avird,  was  sonst  (d.  h.  in  der  prosa  der  Sigrdrifumöl)  von 
Sigrdrifa  ausgesagt  wird.  Grundtvig  erklärt  ausdrücklich:  „es  verdient 
besonders  hervorgehoben  zu  werden,  dass,  sobald  man  anerkent,  dass 
diese  Strophen  von  rechtswegen  zu  Sgrdr.  und  nicht  zu  dem  gedichte 
von  Brynhild  gehören,  jede  stütze  in  den  alten  liedern  selber  für  die 
identität  der  beiden  personen  wegfält".  Offenbar  eine  petitio  princi- 
pii!  Sehen  wir  zunächst  zu,  ob  wir  mit  der  Überlieferung  fertig  wer- 
den können,  ohne  unsere  z\iflucht  zu  so  verzweifelten  mittein  zu  neh- 
men. Ich  sehe  davon  ab,  dass  die  erzählung  in  der  oben  besprochenen 
prosa  vor  str.  5  der  Sigrdrifa  nicht  in  jedem  einzelnen  zuge  genau 
übereinstimt  mit  den  entsprechenden  Strophen  der  Heireif).  Soll  aber 
eine  Interpolation  glaubhaft  gemacht  werden,  so  muss  der  nach  weis 
gefordert  werden,  dass  die  verdächtigten  verse  den  Zusammenhang  stö- 
ren oder  sich  durch  äussere  kenzeichen  als  fremdartiges  einschiebsei 
herausstellen.  Dieser  nachweis  ist  in  unserem  falle  weder  versucht 
noch  zu  erbringen.  Ein  machtspruch  erledigt  die  sache  nicht.  Wenn 
wir  das  gedieht  nehmen,  wie  es  vorliegt,  und  die  erzählung  an  und 
für  sich,  ohne  vorgefasste  meinung  von  der  sage,  zu  verstehen  suchen, 
so  ergibt  sich  der  folgende  Inhalt. 

Auf  ihrer  todesfahrt  berichtet  Brynhildr  einer  riesin  die  lu'sache 
von  ihrem  und  Sigurps  tode.  Str.  6  ist  schwer  verderbt  (vgl.  diese 
ztschr. XYIII,  110 fg.);  ich  sehe  von  ihr  imd  der  halbstrophe  7  zunächst 
ab.  "Wegen  ihres  eigenmächtigen  eingreifens  in  Öpins  ratschluss  ist 
Brynhildr  von  dem  erzürnten  gotte  in  schlaf  versenkt,  in  eine  schild- 
burg  eingesclilossen  und  durch  einen  feuerwall  umgeben.  Nur  der 
furchtloseste  held  {es  hverge  lands  hrdpask  kyntie  9  ^"  *),  der  ihr 
Fäfnirs  gold  bringt,  soll  sie  erwecken,  d.  i.  Sigurf)r  (str.  8  — 10).  Der 
erlöser  komt  auf  Granis  rücken,  allein,  statt  mit  ihr  die  Verlobung  zu 
feiern,  behandelt  er  sie  wie  seine  Schwester: 

12  svqfom  ok  unpom     i  sceing  einne, 

sem  minn  hröper    of  borenn  voere; 

hvdrtke  kndtte     hqnd  of  annat 

ätta  nötto)n     okkart  leggja. 
Es  ist  Sigurpr  in  Gunnars  gestalt.     Brynhildr  fügt  sich  in  die  umstände, 
bis  ihr  dunkler  argwöhn  sich  durch  die  vorwürfe  der  Guprün  (str.  13) 


22  SIJMONS 

als  gegründet  ausweist  und  es  sich  herausstelt,  dass  nicht  Gunnarr, 
sondern  Sigur|)r,  der  ihr  bestirnte  bräutigani,  sie  wirklich  erlöst  hat: 
pä  varpk  pess  vis,  es  vildegak,  cd  velto  mik  i  verfange.  Da  beschliesst 
sie  mit  dem  geliebten  beiden  zu  sterben,  da  sie  nicht  mit  ihm  leben 
kann.  Die  hier  gegebene  deutung  des  Zusammenhanges  ist,  obgleich 
sie  zuversichtlich  auf  widersprach  stossen  wird,  meines  erachtens  die 
einzige,  welche  der  Überlieferung  gerecht  wird^  Diese  ist  nur  ergänzt, 
soweit  der  sprunghafte  stil  des  liedes  es  notwendig  machte.  Es  blei- 
ben aber  Schwierigkeiten  übrig,  die  meiner  deutung  entgegenzuhalten 
ich  nicht  erst  andern  überlassen  will. 

Die  in  der  Helr.  auftretende  sagenform,  an  sich  logisch  und  poe- 
tisch unanfechtbar,  ist  nicht  in  Übereinstimmung  mit  allen  anderen 
nordischen  quellen.  Ihr  zufolge  wird  der  ritt  durch  die  waberlohe  nur 
einmal  unternommen,  und  zwar  sogleich  für  Gunnarr.  Folgende  sagen- 
fassung  ergäbe  sich  als  dem  gedichte  zu  gründe  liegend :  SigurJ)r  Fäfn- 
isbani  ist  der  der  Brynhildr  bestimte  erlöser  und  bräutigam,  er  erwirbt 
sie  aber  nicht  für  sich,  sondern  für  Gunnarr,  mit  dessen  Schwester  er 
sich  vermählt  hat.  Das  scheinbar  eigentümliche  dieser  sagenform  liegt 
nun  darin,  dass  SigurJ)r  nicht  bei  Brynhildr  gewesen  ist,  bevor  er  sie 
für  Gunnarr  erwirbt.  Der  flammenritt  ist  hier  also  durchaus  begrün- 
det und  keine  müssige  widerholung.  Zugleich  aber  erklärt  sich  aus 
dieser  sagenform  die  oben  (s.  17)  noch  unerklärt  gelassene  reihenfolge 
in  der  vogelprophezeiung  am  Schlüsse  der  FäfnismQl.  Diese  wurzelt 
gleichfals  in  der  anschauung,  dass  Sigur|)r  nach  der  erschlagung  des 
drachen  und  der  erwerbung  des  hortes  sofort  an  Gjükis  hof  zieht  und 
sich  mit  dessen  tochter  vermählt,  dann  erst  die  valkyrie  aus  dem  zau- 
berschlafe weckt '^.  Andererseits  ist  die  deutsche  sage,  wie  jedem  sofort 
einleuchtet,  die  erwünschteste  bestätigung  der  hier  vertretenen  ansieht 
über  die  ursprüngliche  gestalt  der  nordischen  Überlieferung.  Es  scheint 
aber,  im  interesse  einer  leichteren  Übersicht  und  um  zusammengehö- 
riges nicht  zu  trennen,  besser  die  betrachtung  der  deutschen  sage  einst- 
weilen noch  aufzusparen. 

Aber  in  der  HelreiJ)  selber,  so  klein  das  denkmal  ist,  finden 
sich    Widersprüche.      In    str.  11  3-  *    wird    sehr    auffallender   weise    die 

1 )  Zu  rneiuer  freude  ersah,  ich  aus  einer  brieflichen  niitteilung  von  dr.  R.  C.  Boev, 
dass  er  zu  derselben  auffassung  der  Helr.  gelangt  ist. 

2)  Dagegen  vermag  ich  in  der  oben  (s.  10)  besprochenen  Ordnung  der  begeben- 
heiten  in  der  Gripisspä,  wie  gesagt,  nur  ein  misverständnis  oder  richtiger  ein  mecha- 
nisches nachschreiben  der  schlussstrophen  von  Fatu.  zu  erblicken.  Jedenfals  fehlt 
dem  jungen  liede  alle  beweiskraft.  —  Ygl.  auch  das  faeröische  Brinhildlied  str.  64  fgg. 
Heinzel  Über  die  Nibs.  s.  25. 


SIGFBID    UND   BRUNHILn.    I  23 

begegniing  zwischen  Sigur[>  und  Brynhild  nach  Heimirs  wohnort  ver- 
legt, pars  föstre  minn  fletjom  styrpe.  Heimir,  den  älteren  quellen 
sonst  fremd ,  ist  in  der  Gripisspä  und  der  Vqlsungasaga  Brynhilds  pflege- 
vater  und,  wie  algemein  anerkant,  ein  später  aus  wuchs  der  sage.  Nach 
Strophe  7  "^  wird  Brynhildr  /  Hli/nfdqlom  erzogen;  Hlymdalir  aber  ist 
nach  der  Vqlsungasaga  (vgl.  auch  Sn.  E.  I,  370^.  Landnäma,  Vidba3ttir: 
Isl.  SS.  1843,  I,  324  fg.)  Heimirs  wolmsitz,  und  auch  dem  dichter 
der  Helr.  muss  diese  auffassung  geläufig  gewesen  sein.  Es  stimmen 
demnach  die  halbstrophe  7  und  str.  11  in  ihrer  sagenform  überein, 
und  schon  dieser  umstand  hätte  Golther^  von  der  athetese  der  halb- 
strophe 7  abhalten  sollen.  Aber  auch  in  str.  6  spielte  wol  Heimir 
eine  rolle.  Ich  habe  in  dieser  ztschr.  XVIII,  110  fg.  eine  Vermutung 
aufgestelt  über  die  stark  verderbte,  im  N}).  in  sehr  abweichender  ge- 
stalt  überlieferte  strophe,  die  ich  in  der  hauptsache  auch  jezt  noch 
aufrecht  erhalte.  Brynhildr  scheint  auch  in  ihr  auf  ihre  erziehung  in 
Heimirs  hause  hingedeutet  zu  haben.  Mit  dieser  auffassung  würde 
auch  für  die  von  Grundtvig  ausgeschiedene  str.  6  die  Zusammengehö- 
rigkeit mit  str.  11  erwiesen  werden.  Es  bleibt  nur  die  annähme,  dass 
in  unserem  liede  eine  sehr  alte  und  ursprüngliche  sagenfassung  mit 
einer  jüngeren  Vorstellung  verquickt  ist.  Mit  der  einzig  der  alten  sage 
entsprechenden  anschauung,  welcher  der  flammenritt  als  die  bedingung 
galt,  deren  erfüllung  den  freier  zur  Brynhild  dringen  lässt,  ist  natür- 
lich die  rolle  eines  die  Jungfrau  hütenden  pflege vaters  unvereinbar, 
womit  die  durchreitung  des  feuerwalls  zum  kinderspiel  herabsinkt.  Die 
Helreip  mag  immerhin  in  ihrer  auf  uns  gekommenen  fassung  ein  jun- 
ges lied  sein,  wie  auch  die  einführung  Heimirs  andeutet;  dies  braucht 
nicht  auszuschliessen,  dass  ihr  ältere  lieder  vorgelegen  oder  alte  Über- 
lieferungen zu  geböte  gestanden  haben  können,  und  uns  nicht  irre  zu 
machen  in  der  Überzeugung,  dass  die  in  ihr  auftretende  form  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Sigurpr  und  Brynhildr  nicht  weniger  ursprünglich 
ist  als  irgend  eine  andere  in  den   nordischen  quellen  vorkommende. 

Die  übrigen  heldenlieder  der  Edda  haben  zwar  für  unsere  frage 
verhältnismässig  nur  untergeordnete  bedeutung.  Doch  sind  einige  anga- 
ben derselben  nicht  ohne  wert.  Das  in  betracht  kommende  soll  hier 
in  kürze  geprüft  werden. 

Die  eingangsstrophen  der  Sigur])arkvipa  en  skamma  (str.  1 — 5) 
sind    mehrfach    dem    ursprünglichen    gedichte     abgesprochen     worden 

1)  Was  Golther  Studien  s.  39  fg.  für  den  mythischen  Ursprung  des  namens 
Hlymdalir  vorbringt,    ist  in  keiner  weise  überzeugend. 


24  SIJMONS 

(s.  Beitr.  3,  260.  Edzardi  Germ.  23,  174  fg.).  Sicher  ist,  dass  diesel- 
ben, mögen  sie  nun  dem  alten  dichter  oder  einem  bearbeiter  zufallen, 
eingehende  beachtung  verdienen.     Wenn  es  zu  anfang  heisst: 

Ar  vas  pats  Sigvqrp?^    sötte  Gjüka, 

Vqlsungr  unge,  es  veget  hafpe, 
so  lässt  sich  diese  angäbe  wol  niu-  unter  der  Voraussetzung  verstehen, 
dass  Sigurjir  an  Gjükis  hof  gelangt  unmittelbar  nach  dem  drachen- 
kampfe  (es  reget  hafpe).  Also  die  Voraussetzung  von  Fäfn.  40  fg.  und 
der  Helreiji!  Der  junge  held  schliesst  blutbrüderschaft  mit  Guunarr 
und  ÜQgni  (l  ^-s^,  vermählt  sich  mit  Gudrun  (so  ist  2  ^-^  doch  not- 
wendig zu  verstehen),  verweilt  bei  Gjüki  lange  zeit  in  freude  und 
freundschaft  (25-8):  diese  reihenfolge  entspricht  dem  c.  26  der  VqIs- 
ungasaga.     Dann  die  Werbung  um  Brynhildr  str.  3: 

Un%  Bry7ihildar    hipja  foro, 

svät  peim  Sigvqrpr    reip  i  sinne; 

Vqlsungr  unge,     ok  vega  kunne, 

liann  [1.  ha7ia?\  of  dtte,  ef  eiga  kncette. 
Mit  Bugge  Fornkv.  248*  u.  a.  verstehe  ich  vega  als  inf.  praes.  Zwar 
hat  Bugge  in  den  nachtragen  seiner  ausgäbe  s.  419  mit  rücksicht  auf 
die  stelle  der  Jidrekssaga  c.  226,  wo  Sigurd  zu  Gunnarr  sagt,  dass  er 
alle  wege  (allar  leipir)  zur  Brynhild  kenne  (Unger  s.  208^3)^  der  schon 
von  Grimm  angedeuteten  auffassung  von  vega  als  acc.  plur.  den  Vor- 
zug erteilt,  aber  sein  grand  ist  nicht  stichhaltig.  Eddastellen  aus  der 
niederdeutschen  Überlieferung ^  zu  deuten,  geht  nicht  an,  und  der  Yqls- 
ungasaga  ist  dieser  zug  fremd:  c.  26  (Bugge  144  2-3).  Der  relativische 
gebrauch  von  ok  ist  aus  anderen  Eddastellen  bekant  (Gering  Gloss.  123"): 
den  altgermanischen  sprachen  ist  diese  eigentümlichkeit,  ein  rest  älte- 
rer parataxis,  überhaupt  nicht  verwehrt,  und  mhd.  beispiele  sind  jedem 
zur  band  2.  Die  alte  Übersetzung  der  Kopenhagener  „qui  pugnare 
sciebat"  triff  demnach  den  richtigen  sinn  der  stelle.  Eine  frühere 
bekantschaft  Sigurps  mit  Brynhild,  bevor  er  in  Gunnars  gestalt  zu  ihr 
komt,  braucht  aus  ihr  nicht  gefolgert  zu  av erden,  und  darf  es  nicht, 
weil  str.  1  dieser  anschauung  widerspricht.  Auch  der  allerdings  dunk- 
len Schlusszeile:  kann  [l.hana?]  of  dtte  [ätte  F.  Jönsson  gegen  die  hs.], 

1)  Dass  der  betreffende  abschnitt  der  I's.  deutscher  Überlieferung  entstamt, 
ergibt  sich  aus  der  Übereinstimmung  mit  Nib.  367,  3:  die  rehten  tvazxersträxe  sint 
mir  ivol  bekant.  Wie  Bugge  auch  Zupitza  Ztschr.  f.  d.  ph.  IV,  446,  ich  selber 
Beitr.  3,  259  und  neuerdings  F.  Jousson  Eddal.  2,  128.  Heinzel  Nibs.  25  entschei- 
det sich  nicht. 

2)  Aus  ags.  prosa  gibt  Kern  Taalk.  Bijdr.  2,  207  beispiele. 


SIGFBID   UND   BRÜNHILD.    I  25 

ef  eiga  kncktte,  lässt  sich  wol  nur  bei  dieser  annähme  ein  sinn  abge- 
winnen. „Er  hätte  sie  (zur  ehe)  gehabt,  wenn  er  sie  hätte  haben  dür- 
fen", mit  andern  werten  das  Schicksal  verweigert  ihm  die  braut,  die  es 
ihm  doch  bestirnt  liat  und  die  seiner  hart.  Str.  4  schildert  dann  das 
keusche  beilager,  in  Übereinstimmung  mit  Helr.  12.  Brot  18  fg.,  vgl. 
auch  Sig.  sk.  28.  Ys.  c.  27  (B.  146  «  fgg.). 

Einer  sonderbaren  version  begegnen  Avir  im  hauptteil  desselben 
liedes  (Sig.  sk.  34  — 41)i.  Die  Ys.  c.  29  (Bugge  150^  fgg.)  und  c.  31 
(Bugge  160  ^  fgg.)  berichten  auf  grund  dieser  sti'ophen  Avesentlich  das- 
selbe; über  das  quellenverhältnis  hat  man  verschieden  geurteilt  (Bugge 
Fornkv.  253.  Hildebrand  Edda  227  fg.  Yerf.  Beitr.  3,  284  fg.  Edzardi 
Germ.  23,  176  fg.).  Es  müssen  mit  Hildebrand  und  Edzardi  str.  36  — 
38  als  einschub  aus  einem  anderen  liede  erklärt  werden;  sie  wider- 
sprechen dem  schon  vorher  gesagten  und  der  auffassung  der  sage  in 
unserem  gedichte.  In  str.  34.  35  berichtet  Brynhildr  dem  Gunnarr 
von  ihrem  unbesorgten,  freien  leben  in  ihres  bruders  hause  (34  5—») 
und  ihrem  entschlusse,  unvermählt  zu  bleiben  (Ne  viklak  pat  at  mik 
verr  ceite).  Als  aber  die  Gjukunge  zu  ihr  geritten  kommen,  pri7'  d 
hestom  pjqpkmmngar,  da  (sti-.  39  Bugge  =  36  Hildebrand)  gelobt  sie 
sich  dem  volkskönige,  der  mit  dem  golde  auf  Granis  rücken  sizt,  d.  h. 
dem  töter  Fäfnii's.  Nicht  das  gold  lockt  sie,  sondern  an  Fäfnirs  gold 
glaubt  sie  den  ihr  bestimten  bräutigam  zu  erkennen,  der  durch  die 
erschlagung  des  drachen  sich  als  furchtlos  erwiesen  hat  und  ihrem 
eide  somit  genügt  (vgl.  Helr.  9).  Dass  Sigurpr  der  erlöser  ist,  dafür 
scheinen  ihr  auch  seine  strahlenden  äugen  und  sein  aussehen  über- 
haupt zu  zeugen  (39  5-«  Bugge  =  36  5- s  Hildebrand,  vgl.  Ys.  c.  29: 
Bugge  152--).  Es  kann  meines  erachtens  gar  nicht  die  rede  davon 
sein,  den  überlieferten  Zusammenhang  von  str.  35  und  39  (36)  zu  zer- 
stören. Ja,  wenn  in  der  Überlieferung  die  str.  36 — 38  dazwischen 
ständen,  so  müste  die  trennung  beseitigt  werden.  Man  lese  die  beiden 
Strophen  nur  im  zusammenhange: 

35  Ne  vüdak  pat     at  mik  verr  cette, 
äp7'  Gjükimgar     at  garpe  ripo, 
prir  d  hestom    pj6pkonungai% 
en  peira  fqr    pQrfge  vcere. 

1)  Nach  Bugge.  lu  E  ist  clie  reihenfolge  der  Strophen  34.  35.  39.  36  —  38. 
40.  41 ,  ivnd  in  Hüdebrands  ausgäbe  ist  dieselbe  mit  recht  wider  zu  ehren  gekommen. 
F.  Jonsson  schliesst  sich  Bugge  an.  Meine  hemerkung  Beitr.  3,  285  anm.  3  nehme 
ich  zuiück:  s.  Edzardi  Germ.  23,  187  fg. 


2&  SIJMONS 

39  peim  hetomk  pä    pjöpkonunge  (36) 

es  mep  golle  sat     d  Grcma  hogom; 

vasat  hann  i  augo     ypr  of  glikr, 

ne  ä  enge  hliit     ät  älitom. 

[p6  pgkkesk  er  pjöpkonungar.] 
Diese  version  lässt  sich  mit  derjenigen,  welche  die  soeben  besproche- 
nen eingangsstrophen  der  Sig.  sk.  voraussetzen,  wol  vereinigen.  Yon 
einer  früheren  Verlobung  ist  keine  rede.  Sigur|)r  erwirbt  Brynhildr 
für  Gunnarr,  während  sie  in  ihm  den  ihr  bestimten  erlöser  zu  erken- 
nen glaubt.  Aber  die  alte  fassung  ist  schon  verdunkelt,  wenn  Bryn- 
hildr bei  ihrem  bruder  Atli  [ä  flete  bröpor  34  ^'')  erzogen  wird  und 
un vermählt  bleiben  will  (35^).  Dass  der  flammenritt  fehlt,  wird  nur 
dem  einschub  von  str.  36  —  38  zuzuschreiben  sein,  wodurch  ältere  Stro- 
phen verdrängt  wurden.  In  dem  liede,  das  der  Verfasser  der  Y^lsunga- 
saga  für  sein  c.  27  benuzte,  und  das  wesentlich  auf  derselben  stufe 
der  sagenentwickelung  stand  als  die  Sig.  sk.,  wurde  das  durchreiten 
des  vafrlogi  mit  grosser  lebhaftigkeit  geschildert.  Auch  dieses  in 
Ys.  c.  27  paraphrasierte  lied  sezte  keine  frühere  bekan tschaft  zwischen 
Sigurpr  und  Brynhildr  voraus,  wie  sich  namentlich  aus  der  erzäh- 
lung  vom  Wechsel  der  ringe  (Bugge  146  ^^  fgg.)  klar  ergibt  (Beitr.  3, 
279  fgg.). 

Ganz  andere  sagenauffassung  atmen  die  eingeschobenen  Strophen 
36  —  38  des  kurzen  Sigurpliedes.  Ihnen  zufolge  erzwingt  Atli  die  Ver- 
mählung von  seiner  Schwester,  um  sich  vor  den  angriffen  der  Gjuk- 
unge  und  Sigur|)s  zu  schützen.  Atlis  bürg  wird  bestürmt.  Er  sucht 
Brynhildr  zur  freiwilhgen  Vermahlung  zu  bestimmen,  indem  er  andern- 
fals  ihr  das  erbe  zu  entziehen  droht.  Sie  ist  schwankend,  was  sie  tun 
soll:  nachgeben  1  oder  kämpfen.  Schliesslich  wählt  sie  die  Vermählung, 
durch  Sigurps  schätz  geblendet.  Wesentlich  dieselbe  auffassung  finden 
wir  in  Oddrünargrätr  17  fgg.  Auch  nach  Gut)r.  I,  25  fg.  wird  dem 
Atli  die  schuld  alles  unheils  zugeschrieben;  die  stelle  ist  aber  dunkel 
und  bleibt  besser  aus  dem  spiele.  Es  setzen  also  die  Interpolation  der 
Sig.  sk.  und  Oddr.  eine  gewaltsame  erwerbung  der  Brynhildr  voraus. 
Namentlich  Oddr.  17  fg.  deutet  mit  gröster  bestimtheit  auf  kämpfe  bei 
Brynhilds  erlösung  oder  bezwingung.  Sie  sizt  stickend  im  gemache 
(vgl.  Ys.  c.  24:   Bugge  136  ^^  fgg.).     Da,    heisst  es,    erdröhnte  (düsape, 

1)  vega  37"  ist  jedenfals  verderbt:  Rask  schlug  vceffj'a  vor,  was  Grundtvig 
aufnahm  (dagegen  Bugge  s.  421),  F.  Jönsson  ändert  ansprechend  rcr  eiga.  Eben  die 
von  Bugge  hervorgehobene  häufigkeit  der  Verbindung  von  vega  und  vaJ  fella  erklärt 
die  corruptel. 


SIGFRID    UND    liRUNHILD.    I  27 

s.   Bug;go   Foinkv.  427''  fi^.)  hinimel   und  erde,    als  der  toter  Fäfnirs  die 
Imi-^-  (Ml)lickto.     Und  weiter: 

pci  ras  ly'u)  rcf/ef  vqluko  svcrJ)C, 
ok  borg  hrofni,  s?'(s  Br///i////(/r  <i/fr. 
^'ün  einer  ,,anspi('lunü-  auf  den  valVIogi",  die  (iijlthei'  Studien  s.  55  im 
anschluss  an  Buggo  u.  a.  in'Al'"  ''  findet,  steht  nichts  (hi.  Das 
rrdi'öhnen  von  hinniicl  und  (M'de  ist  e})ischer  ausdruclc  für  die  i^üwalf 
tloi^  ang'riiles,  wie  ahnlieh  ailt^  bei'ge  erzittern  beim  herannahen  I'('»rs 
liok.  551,  wie  die  oidc  erbebt,  als  o]»in  zu  lEcIs  hause  reitet  J^dr.  8'' 
und  8kirnir  sich  (iymirs  gehöften  naht  8km.  14  '.  Aaelmehr  ist  in  der 
Version,  der  wir  in  Oddi-.  17  fg.,  Sig-.  sk.  oG  —  88  (Vs.  c.  29:  Eugg;e 
150''  fg-g.:  e.  Hl:  ßugge  KiO '^  t'gS-)'  vielleicht  auch  in  (iul>r.  1,  25  fg., 
begegnen,  der  tlammenritt  durch  kämpfe  ersezt.  Denselben  zug  kent 
['s.  c.  168  in  anderer  Verwendung,  nämlich  kämpfe,  welche  8igur[)r 
in  Brynhilds  bürg  bei  der  erkiesung  Granis  zu  bestehen  hat,  während 
bei  dei-  Werbung  um  Brynhild  für  Gunnar  c.  227  weder  flammenritt 
noch  kämpf  eine  rolle  spielen.  Mit  Golther  Studien  s.  55  fgg.  Germ. 
84,  267.  274  fgg.  ist  c.  168  als  eine  erfindung  des  Überarbeiters  dei- 
l's.  zu  betrachten;  die  kämpfe  luit  den  Wächtern  gehörten  ursprüng- 
lich zur  Werbung  und  sind  von  ihm  in  falschen  Zusammenhang  ge- 
bracht. Auch  dem  Verfasser  dieses  capitels  war  also  eine  Überlieferung 
bekaut,  die  die  Averbuug  der  Brynhild  nicht  mit  dem  flammenritt., 
sondern  mit  kämpfen  verknüpfte.  Dass  er  dabei  nordischer  sage  folgte, 
ist  wahrscheinlich,  muss  aber  einstweilen  dahingestelt  bleiben.  —  End- 
lich findet  sich  auch  in  dem  faeröischen  liede  von  Brinhild  str.  77  fgg. 
(Hammershaimb  s.  23)  bei  der  erwerbuug  Brinhilds,  mit  dem  flammen- 
ritt verbunden,  die  spur  von  kämpfen.  AVenn  hier  8jürdur  mit  seinem 
Schwerte  die  hei/gsdijr  erbricht,  so  kann  direkte  beeinflussung  des 
berichtes  der  I^s.  vorliegen,  welche  dem  Schlüsse  des  liedes  ja  unstrei- 
tig zu  gründe  liegt  (Golther  Studien  s.  57.  Ztschr.  für  vgl.  litteratur- 
gesch.  n.  f.  2,  279  fgg.),  während  der  daneben  behaltene  flammenritt 
nordischer  Überlieferung,  speciell  der  Volsungasaga,  entstamt. 

Die  nordische  sagenfassung,  die  Brynhilds  Werbung  mit  anwen- 
dung-  von  gewalt  voraussezt,  ist  als  eine  jüngere  Umgestaltung  leicht 
kentlich.  Sie  hat  den  flammenritt  durch  kämpfe  ersezt:  nur  Vs.  c.  29 
(Bugge  150  ^'^  fg.)  ist  beides  durch  contamination  des  sagaschreibers 
verbunden.  Fäfnirs  gold  ist  nicht  mehr,  wie  in  der  älteren  sage,  das 
merkmal  des  erwarteten  erlösers,  sondern  das  lockmittel,  das  die  Jung- 
frau gefügig  macht  (Sig.  sk.  88.  Gu|)r.  I,  26;  vgl.  Germ.  23,  177). 
Atli  erzwingt  ihre  Vermählung,  er  ist  gewissermassen  an  die  stelle  des 


28  SIJMONS 

erzürnten  gottes  getreten.  Nimmermehr  darf  man  daher  in  dieser 
sagengestalt  mit  Golther  (Studien  s.  58)  „einen  älteren  stand  der  nor- 
dischen sage"  mutmassen,  wo  vielmehr  alles  auf  eine  verflachung  und 
Verwischung  des  alten  mythus  deutet. 

3. 

Es  erübrigt,  die  resultate  der  vorstehenden  Untersuchungen  über 
die  formen,  in  denen  das  Verhältnis  Sigfrids  zu  Brunhild  in  den  nor- 
dischen quellen  für  die  Mbelungensage  erscheint,  kurz  zusammenzu- 
fassen. 

1.  Der  eigenname  Sigrdrifa^  den  der  samler  der  Eddalieder  für 
die  von  Sigur{)r  aus  dem  zauberschlafe  erweckte  valkyrie  verwendet? 
findet  seinen  Ursprung  in  mis verständlicher  auffassung  von  Fäfn.  44  5, 
wo  sigrdrifa  eine  appellativische  bezeichnung  (kenning)  für  Brynhildr 
ist  (oben  s.  15  fgg.). 

2.  In  keinem  der  Eddalieder,  mit  einziger  ausnähme  der  Gripisspä, 
kommen  zwei  valkyrien  neben  einander  vor  oder  findet  sich  eine  deut- 
liche bezieh ung,  aus  welcher  sich  entnehmen  liesse,  dass  sie  die  auf 
Hindarfjall  schlafende  Jungfrau,  welche  Sigurpr  erweckt,  als  ein  von 
Brynhildr  Bupladöttir,  welche  SigurJ)r  für  Gunnarr  erwirbt,  verschie- 
denes wesen  aufgefasst  haben. 

3.  Die  aufstellung  der  schlafenden  Jungfrau  auf  dem  berge  als 
einer  besonderen,  von  Brynhildr  verschiedenen  figur,  rührt  ver- 
mutlich vom  dichter  der  Gripisspa  her,  in  der  wir  den  ersten  uns 
bekanten  versuch  erblicken  dürfen,  aus  dem  nebeneinander  der  ver- 
schiedenen sagenformen,  in  denen  Sigurps  Schicksale  der  nordischen 
dichtung  geläufig  waren,  ein  biographisches  nacheinander  herzustellen 
(oben  s.  9  fgg.).  —  Der  samler  der  Eddalieder  (resp.  der  Verfasser 
der  „Sigur{)arsaga")  ist  auf  diesem  wege  weiter  gegangen,  indem  er 
der  in  Gripisspä  noch  namenlosen  valkyrie  den  misverständlich  erschlos- 
senen namen  Sigrdrifa  erteilt  (s.  6  fg.).  Der  Überarbeiter  der 
Snorra  Edda,  welcher  eine  valkyrie  Hildr,  auch  Brynhildr  genant, 
von  Brynhildr  Bujjladöttir  unterscheidet,  bietet  in  seiner  unter  dem 
einflusse  der  liedersanilung  stehenden  erzählung  eine  zwar  geschickt 
angefertigte,  aber  eigenmächtige  combination  ohne  selbständigen  sagen- 
geschichtlichen wert  (s.  7  fgg.).  Der  Verfasser  der  Yqlsungasaga  end- 
lich beseitigt  zwar  die  doppelbenennung  widerum,  unterlässt  es  aber, 
die  aus  diesem  schritte  sich  ergebenden  consequenzen  zu  ziehen  und 
gelangt  somit  zu  einer  doppelten  Verlobung  Sigurps  und  Brynhilds, 
bevor  jener  sich  in  Gunnars  gestalt  ihr  naht  (s.  4  fgg.). 


SIGFRID    UND    BRUN'IIII.n.    T  .  29 

Ich  möchte  an  dieser  stoHe  dem  einwände  bcgejo-nen.  den  Heinzel 
in  (hn-  »il)en  s.  11  angeführten  schrift  (Über  die  Nil)s.  s.  27)  gegen  die 
hier  begründete  auffassnng  des  entwickehnigsganges  erhebt.  Heinzel 
meint,  es  sei  von  vornherein  waiirschoiniich,  dass  die  sagenform,  welche 
zwei  valkyrien  unterscheide,  (his  iiltrre  bewahrt  habe,  „da  allerdings, 
sobald  die  sage  zu  biographischer  behandlung  vorschritt,  sich  eine 
ästhetische  veiiudassung  ergab,  aus  den  zwei  Walküren  eine  zu  machen, 
d.  i.  die  in  t\('\-  leb(>nsgeschichte  Siegfrieds  ganz  isolierte  Sigrdrifa  mit 
l!i\nhil(lr  zu  verschmelzen,  nicht  abei-  aus  dei-  einen  Brvnhildr,  wenn 
dies  das  urspi'üngliche  ist,  zwei  wulküren  zu  machen".  Ich  glaube 
zuniichst,  dass  diese  argumentation  des  ausgezeichneten  forschers  das 
gegenseitige  Verhältnis  und  den  dadurch  bedingten  w^ert  unserer  quel- 
len nicht  genügend  lierücksichtigt.  Ferner  betone  ich  den  wesentlichen 
unterschied  zw^ischen  der  von  Heinzel  vorausgesezteu  und  abgelehnten 
aimahme,  dass  die  doppelheit  der  valkyrien  dui'ch  bewuste  Spaltung 
einer  urspiiinglichen  figur  entstanden  sei,  und  der  meinigen,  dass  sie 
auf  Vereinigung  abweichender  sagenformeu  zu  biogi'aphischer  darstel- 
luug  beruhe.  Vor  allem  aber,  welche  „ästhetische  veranlassung"  konte 
für  die  alte  sage  und  dichtung  vorhanden  sein,  ihrem  lieblinge  eine 
tat  beizulegen,  die  für  seiu  ferneres  Schicksal  jeglicher  bedeutung  ent- 
behrte und  somit  keinem  einzigen  poetischen  zwecke  entsprach?  Lässt 
es  sich  der  alten  sage  wol  zutrauen,  dass  sie  Sigrdrifa  bloss  dazu  ein- 
geführt haben  solte,  um  sie  nach  ihrem  erwachen  spurlos  verschwänden 
zu  lassen  (vgl.  oben  s.  9.  19  und  Literaturbl.  für  germ.  und  rem.  phil. 
1890,  sp.  217)? 

■1.  Die  älteren  Eddalieder  kennen  zwei  hauptformen  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Sigurjtr  und  Brynhildr.  Beiden  geraeinsam  ist  der 
name  der  valkyrie  Brynkildr  oder  Hüdr  (Helr.  7  ^,  vgl.  Sn.  E.  I,  360 1»)  i, 

1)  Es  ist  bekantliuh  gerni.  und  weiterhin  idg.  brauch,  statt  des  zusammen- 
gesezten  eigeunamens  nur  das  eine  der  beiden  glieder  zu  setzen.  Die  kürzung 
gescliah  zwar  in  den  meisten  fällen  durch  weglassung  des  zweiten  gliedes,  aber 
auch  das  erste  glied  wird  zuweih^n  gespart.  Es  ist  Hildr  also  blosser  kurzname  für 
BrynkUdr,  wie  Bcra  —  Kostbera  Atlm.  .34  ^  53»;  vgl.  pj6fr  =  Frippjöfr  Fas.  11, 
91  fgg.  [Brugnianu  Grundriss  II,  1,  33  führt  aus  Jord.  Get.  c.  54  an  Vulfits  =: 
Him-ulfus,  aber  nach  Mommsens  kritischem  apparat  (Mon.  Genn.  Auct.  antiq.  V,  1, 
130)  ist  uuidfo  verlesen  aus  unulfo  in  den  handschriften  der  zweiten  klasse  =  hun- 
ulfo  A]. 

Eine  Hildr  Bupladöttir  kent  die  Asniundarsaga  kappabana  (Fas.  II,  463  fgg.). 
Nach  der  Egilssaga  ok  Äsmundar  (Fas.  III,  36.ö  fgg.)  hat  könig  Heiiryggr  von  Russ- 
land zwei  töchter,  die  beide  Hildr  heissen.  Die  ältere  rar  kqllup  Brynhildr;  koin 
ßaf  tu  Jji'ss,    af  hnn  iHindi\   vip  riddaru  ipröttir.     Die  jüngere   nam  hamiyrpir  oh 


30  SIJMONS 

ihre  erlösung  durch  und  ihre  liebe  zu  SigurJ)r,  sowie  zauberschlaf  und 
flammenritt,  die  in  der  alten  sage  tatsächlich  unzertrenlich  zusammen- 
gehörten. Die  wichtige  abweichung  zwischen  beiden  hauptformen  aber 
ist  diese: 

a)  SigurJ)r  erweckt  die  schlafende  valkyrie  durch  den  flammen- 
ritt und  verlobt  sich  mit  ihr  [Sigrdrifumql ,  ergänzt  durch  die  para- 
phrase  der  Y^lsungasaga  c.  21  (oben  s.  18  fgg.)]- 

h)  Sigurl)r  erweckt  die  ihm  bestimte  schlafende  valkyrie  durch 
den  flammenritt,  erwirbt  sie  aber  nicht  für  sich,  sondern  für  Gunnarr, 
dessen  Schwester  er  geheiratet  hat.  Der  tragische  conflict  entsteht 
nicht  durch  Sigurps  treulosigkeit,  sondern  durch  den  betrug  bei  der 
erwerbuug  [Helrei|)  Brynhildar  (s.  20  fgg.),  das  lied,  von  welchem  die 
Vs.  c.  27  zwei  Strophen  bewahrt  (s.  26);  vorausgesezt  wird  diese  sagen- 
form in  Fäfnismol  40 — ^44  (s.  12  fgg.)^  und  vermutlich  auch  in  Sigurjj- 
arkvipa  sk.  1  —  4.  34  fg.  39  fg.  (s.  23  fgg.)]. 

5.  Diesen  beiden  hauptformen  treten  in  den  Eddaliedern  spuren 
von  zwei  neben  formen  zur  seite,  deren  kenzeichnende  eigentümlich- 
keiten  folgende  sind: 

c)  Brynhildr  wird  bei  ihrem  bruder  Atli  [in  Sig.  sk.  34  mit  b 
verbunden  (s.  26);  die  Vs.  c.  31  (Bugge  160*^)  hat  Atli  durch  Bryn- 
hilds  vater  ersezt]  oder  bei  ihrem  schwager  Hei  mir  erzogen  [in  Helr. 
mit  b  verbunden  (s.  22  fg.);  selbständig  erscheint  diese  fassung  in  dem 
Vs.  c.  23.  24  zu  gründe  liegenden  liede]. 

Dass  in  dieser  sagenform  jüngere  speciell  skandinavische  Umbil- 
dung vorliegt,  bedarf  keines  beweises.  Ist  doch  das  verwantschaftliche 
Verhältnis  zwischen  Brynhildr  imd  Atli,  der  Guprün  zur  sühne  als  frau 
erhält,  ein  wenig  glücklicher  versuch  der  nordischen  sage,  zwischen 
der  Sigfridssage  und  der  Burgundensage  ein  bindeglied  herzustellen. 
Als  das  Verständnis  für  die  alte  mythische  sage  verblasste,  fand  der 
norden  in  Atlis  oder  Heimirs  pflege  eine  neue  form  für  Brynhilds 
geschieh te,  die  weiter  ausser  betracht  bleiben  kann.     Erst  für  den  ver- 

sat  i  sketmnu,  ok  var  hon  Bekkhildr  kqllup.  Vermixtlich  eine  reminiscenz  der 
Vs.  c.  23  (Bugge  135  i^-^o):  vgl.  Golther  Studien  s.  12  fg. 

1)  "Wenn,  wie  oben  angenommen  wurde  (s.  12.  18),  die  fornyrJ)islag- Strophen 
derSgrdr.  demselben  liede  angehörten,  wie  Fäfu.  40fgg.,  so  muss  mindestens  Sgrdr.  1 
bei  der  Verbindung  der  fornyrl)islag-  und  lj61)ahättr- Strophen  eine  Umgestaltung 
erfahren  haben.  In  der  sagenform  b  nante  der  erlöser  sich  nicht  Sigurl)r  (Sgrdr.  1  ^-  *). 
sondern  Gunnarr  (wie  Vs.  e.  27 :  Bugge  145 '").  Die  jetzige  fassung  von  Sgrdr.  1  ist 
in  Übereinstimmung  mit  der  in  den  Ijöljahattr-strophen  der  Sgrdr.  herschenden  sagen- 
form a. 


SIGFRIP    UND    DRUNHILD.    I  3-1 

tasser  der  Volsun_i;a-Ragnarssag-a  (vi^l.  Heitr.  8.  199  fg'fx.  Heinzel  Nibs. 
4  aiun.)  \\  iirde  Heiinir  eine  b(Ml(>iituii2,svolle  persrnilielikoit,  da  ihm 
Aslaug  zur  (M-zielmng  übergeben   wird. 

d)  15ryiihildr  wird  von  Atli  (dafür:  Ijii|»li  Vs.)  zin-  Vermählung 
bestirnt  und  (hnch  anwcndung  von  gewalt  erworben  [die  interpolation 
der  Sig.  sk.  3()  —  HS;  Oddrünargrätr  1  7  fg.;  (iuj>rünarl<vjj)a  T,  25  fg.  (?)  — 
vgl.  Ys.  c.  29.  81  (oben  s.  26  fgg.)|. 

Inwieweit  diese  form  einer  erneuten  beeintlussung  der  nordischen 
sage  durch  die  deutsche  zu  verdanken  ist,  mag  einstweilen  dahingestelt 
bleiben. 

H.  l)i(^  älteste  uns  bekante  biogi'aphische  darstellung  von  Sigurps 
Schicksalen  in  der  (iripisspä  beruht  nachweislich  auf  einer  reihe  von 
liedern,  die  dem  dichter  in  einer  ähnlichen  pseudo- chronologischen 
folge  vorlagen,  wie  die  durch  Volsungasaga  ergänzte  liedersamlung  sie 
aufweist  (oben  s.  9  und  dazu  Edzardi  Germ.  23,  325  fg.).  Er  fand 
also  in  seinen  quellen  hintereinander  vor  die  sagenformen  rt  (Sgrdr.), 
c  (das  durch  die  lücke  in  R  verlorene  lied  von  Sigurps  besuch  bei 
Heimir  =  Vs.  c.  23.  24),  b  (das  gieichfals  bis  auf  zwei  Strophen  ver- 
lorene lied  von  der  erwerbung  Brynhilds  durch  Sigur|)  für  Gunnarr  = 
Vs.  c.  27).  Diese  drei  abweichenden  sagenformen  für  ein  und  dasselbe 
factum  verarbeitete  er  zu  einer  chronologischen  aufeinanderfolge  von 
drei  verschiedenen  begebenheiten,  indem  er  gleichzeitig  die  eine  figur 
der  valkyrie  in  zwei  spaltete  (s.  unter  3).  Das  misliche  einer  doppel- 
ten vorverlobung  (auf  dem  berge  und  bei  Heimir)  konte  ihm  natür- 
lich nicht  entgehen:  diese  wunderliche  erzählung  blieb  dem  Verfasser 
der  Vqlsungasaga  vorbehalten  (Beitr.  3,  2(52).  Der  Verfasser  der  Grip- 
isspä  vereinigt  die  drei  sagenformen  in  der  weise,  dass  er  Sigur}.is 
veriiältnis  zu  der  bei  ihm  namenlosen  erweckten  Jungfrau  auf  dem  berge 
auf  belehrung  beschränkt,  die  begegnnng  bei  Heimir  aber  als  eine  vor- 
verlobung auffasst,  so  dass  der  held,  um  Brynhild  für  Gunnarr  erwer- 
ben zu  können,  erst  vergessen  muss,  dass  er  ihr  eide  geleistet  hat. 
Diesem  zwecke  dient  der  betrug  der  Grlrahild  (sti*.  33):  der  vergessen- 
heitstrank  wird  freilich  nicht  geradezu  erwähnt  und  kann  also  auch 
erst  vom  Verfasser  der  \"olsuugasaga  nach  anderen  zaubertränken,  von 
welchen  die  sage  berichtet  (Golther  Studien  s.  60),  eingeführt  sein. 
Wenn  nicht  alles  täuscht,  trägt  der  dichter  der  Gnpisspä  die  schuld 
an  der  bedenklichen  Verwirrung,  welche  nicht  nur  die  jüngeren  skan- 
dinavischen prosabearbeitungen,  sondern  auch  die  heutzutage  geläufigen 
Skizzen  der  nordischen  form  der  Nibelungensage  entstelt.  Die  Spaltung 
der  valkyrie   in   Sigrdrifa-Brynhildr  ist   dabei  nicht  das  schlimste:    da 


32  SMMONS,    SlGVRID   UND    BRUNHILD.    I 

sie  ergebnislos  blieb  und  den  verlauf  der  sage  nicht  weiter  berührt, 
so  ist  sie  harmlos  in  vergleich  mit  der  weit  wesentlicheren  neudichtung 
einer  früheren  Verlobung.  Denn  diese  tastet  den  ethischen  gehalt  der 
sage  an.  Die  reinste  und  edelste  heldengestalt,  welche  die  germanische 
phantasie  erschaffen,  erniedrigt  sie  zu  der  rolle  des  treulosen  liebhabers, 
oder  sie  lässt  ihn,  unter  dem  verhängnisvollen  banne  eines  minne- 
tranks,  zum  willenlosen  Werkzeuge  herabsinken,  dem  unsere  mensch- 
liche Sympathie  versagt  bleiben  muss.  Wie  sehr  auch  die  erhabene 
gestalt  der  Brynhild  an  tragischer  grosse  verliert,  wenn  sie  den  beiden 
kent,  der  sich  für  Gunnarr  ausgibt,  ihm  sogar  ewige  treue  geschworen 
hat,  bedarf  keiner  ausführung.  In  diesem  punkte  schliesse  ich  mich 
ganz  den  erörterungen  Golthers  an  (Studien  s.  64  fg.).  Durch  die 
annähme  einer  früheren  Verlobung  wird  aus  dem  grossartigen  drama, 
welches  die  gigantische  macht  des  Schicksals  verkörpert,  ein  schwäch- 
liches intriguenstück.  Nur  zeihe  man  nicht  die  alte  nordische  sage 
einer  entstellung,  die  erst  dem  Ungeschick  und  der  verstand nislosigkeit 
eines  späten  dichters  zur  last  fält.  Die  beiden  alten  formen  der  nor- 
dischen sage  (a  und  b)  spiegeln  vielmehr  die  ursprüngliche  fränkische 
sage  im  wesentlichen  getreu  und  unverfälscht  wider.  Zu  ihrer  recon- 
struktion  bedarf  es  zunächst  einer  prüfung  der  deutschen  sagengestalt 
in  ihren  verschiedenen  traditionen^  sowie  einiger  quellen,  welche  die 
als  a  bezeichnete  form  der  nordischen  sage  in  anderem  zusammenhange 
überliefern.  Diese  nebst  den  sich  ergebenden  folgerungen  bleibt  einem 
zweiten  artikel  vorbehalten. 

GRONINGEN,    WEIHNACHTEN    1890.  B.    SIJMONS. 


ÜBEE  DIE  „NEUTEALEN  ENGEL"  BEI  WOLFEAM  VON 
ESCHENBACH  UND  BEI  DANTE. 

Der  gralmythus  hat  bei  Wolfram  bekantlich  folgende  von  den 
übrigen  grallegenden  abweichende  gestalt.  Der  gral  ist  ein  kostbarer 
stein  —  etwa  in  der  form  der  patene  ■ — ,  welcher  sich  in  der  hut 
jener  engel  befand,  die  einst  im  kämpfe  Lucifers  gegen  gott  sich  indif- 
ferent verhielten: 

Parz.  471,  15    di  neivederhalp  gestuonden, 
da  strtten  hegunden 
Lucifer  und  Trinitas, 
swaz  der  selben  enget  was, 


.1.    SEKBEK,     NEUTKALE    ENliEI,  33 

die  edc/eti  mit  die  ircrdcii 
muosen  üf  die  erden 
XHO  demselben  steine, 
der  stein  ist  i})))ner  reine, 
ieii  enn:ei\ ,  op  (jot  itf  si  rerkus, 
ode  ob  ers  fürl)a\   verlos, 
ircis  dax  sin  reJd,  er  na  in  se  nider. 
In   l)r/u,u'  auf  die  strafe  kerrigiort  sicli  (\('y  dichter,  indem   er  Tre- 
vrizent  an   einer  späteren  stelle   (798,  (5  ig.)    sagen  liisst,    die   neutralen 
engel  seien  ewig  \-crloren. 

]\Ian  mag,  \nn  sicli  die  entstehung  dieses  gralmytlms  zu  erklären, 
einerseits   an   die   er/iddung   im  „Wartburgkrieg''  denken,    wonach   der 
gral    ein    aus    Lucifers    kröne    gebrochener    edelstein    ist,    andererseits 
annehmen,    dass    Wolframs    (xewährsmann    Kyot    eine   jüdisch -moham- 
medanische sage  von  einem  heiligen  stein  als   Unterpfand   alles  glückes 
benüzte  —  die  frage  nach  den  „neutralen  engein"  ist  damit  nicht  erledigt. 
Redet  doch  auch  Dante  davon,  wenn  er  Infeiiio  o,  oT  fg.  sagt: 
Vermischt  sind,  sie  mit  jenem  feic/en  eliorc 
Der  enget ^  welelie  nicht  empörer  nriren, 
Xoc}/  (jott  (jctren ,  für  sich  gesondert  lileiliend. 
Er  versezt   sie   in   eine   art  vorhölle    und    geselt    sie    der  verächtlichen 
schar  jener  bei,  die  einer  fahne  im  ewigen  kreislauf  nacheilen  müssen: 
Nicht  seinen  glair,    \n  triitjot,  sties.s  der  liiiiuin't 
Sie  ans,  urjch  nin/t  sie  auf  die  tiefe  liölle, 
Weil  sinnier  .stol:  auf  sie  doch  blichru  /:ö//ten. 
Es  liegt  nahe,  in  der  alten  theologie  nach  dieser  anschauung  zu  forschen. 
Die  Scholastik   des  mittelalters  vertritt   die  lehre,    dass   der  stolz 
die  Ursache  vom  stürze  Lucifers  und  seines  anhangs  gewesen  sei  (Tho- 
mas Aquin.  summ.  th.  P  qu.  03,  2);  dieser  stolz  aber  begründete  nach 
scholastischer  auffassung  eine  begehungssünde,  peccatum  commis.siotris, 
schloss   daher  jede  blosse  Unterlassung,  pnira   omissio,   jede  sogenante 
neutralität  von    vornherein  aus.     Also  konte  von   „indifferenten  engein" 
im  sinne  AVolfi'ams  und  Dantes  nicht  die  rede  sein. 

Indessen  findet  sich  doch  bei  einem  jüngeren  hauptvei-treter  der 
Scholastik,  bei  Suarez,  eine  erwähn ung  von  indifferenten  engein,  frei- 
lich, in  ablehnendem  sinne.  Es  hatten  nämlich  einige  theologen  —  wie 
Hervaeus,  Cajetanus,  Eerrara,  Aegidius  und  Bussolis  —  eine  abwei- 
chende erklärung  von  Lucifers  sünde  versucht  und  waren  dadurch 
genötigt  worden,    diese  als  ein  peccatum  omissionis.,  als  unterlassungs- 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.   XXIV.  O 


34  .7.    SEEBKR 

Sünde  zu  fassen  (Suarez,  tom.  2  de  augelis,  1.  7  c.  10,  n.  16).  Gegen 
diese  wante  sich  nun  Suarez  und  erklärte  (ebd.  c.  18  n.  24):  nidlus 
angelorum  fuit  quasi  indifferens ,  sed  omnes  fuerunt  aut  honi  aut 
mali;  und  n.  25:  quod  autem  in  illo  initio  secundae  morae  nidlns 
fuerit  quasi  indifferens,  prohari  potest,  tum  quia  praeceptum  Dei  pro 
illo  momento  urgebat,  et  ita  non  statim  obedire  esset  resistere  et  pec- 
care,  quod  7ion  per  omissionem  puram,  sed  per  superbiam  factum  est. 

Die  lezte  bemerkung-  richtet  sich  auch  gegen  Bonaventura  (in 
2.  dist.  5.  a.  2.  qu.  2),  der  behauptet  hatte,  die  von  Lucifer  verführten 
engel  ^audientes  Ludferum  (eius  suasionem)  potuerunt  non  statim 
Uli  consentire,  sed  prius  circa  sibi  proposita  recogitare  et  postea  con- 
sentire''''. 

Daraus  ergibt  sich,  dass  die  Scholastik  der  ansieht  von  neutralen 
engein  durchaus  nicht  günstig  war^  die  oben  berührte  controverse  aber 
immerhin  für  Dante,  den  theologen  unter  den  dichtem,  gelegenheit 
bot,  den  „Neutralen'"  im  Inferno  einen  platz  anzuweisen.  Gilt  dies 
auch  von  Kyot- Wolfram? 

Mir  scheint  die  (Parz.  471,  15  fg.)  eigentümliche  strafe  und  die 
— später  widerrufene  —  rettung  der  indifferenten  engel  darauf  hinzu- 
weisen, dass  die  theologischen  anschauungen  hiemit  nichts  zu  tun  hat- 
ten. Zwar  stelte  Origines  die  lehre  auf,  dass  auch  die  dämonen  einst 
gerettet  werden;  er  zog  aber  den  satz  nach  der  reprobation  desselben 
zurück,  und  seitdem  sprechen  die  theologen  einstimmig  von  der  ewigen 
Verwerfung  der  gefallenen  engel.  Wir  müssen  uns  also  nach  einer 
andern  quelle  für  Wolframs  darstellung  umsehen.  Diese  meine  ich  in 
der  deutschen  volkssage  gefunden  zu  haben  und  folgere  daraus, 
dass  der  gralmythus,  wie  ihn  der  deutsche  Parzival  bietet,  Wolfram 
selbst  und  nicht  seinem  gewährsmann  angehört.  Ich  bringe  folgende 
belege  bei. 

In  Tirol  besteht  der  glaube,  „dass  nicht  alle  engel,  welche  dem 
Lucifer  anhingen  und  vom  himmel  gestürzt  wurden,  in  die  hölle  kamen. 
Yiele,  die  sich  nur  hatten  aufreden  lassen  und  nicht  eigentlich 
böse  waren,  blieben  im  stürze  an  bergen  und  bäumen  hängen  und 
wohnen  noch  jezt  in  hohlen  räumen.  Sie  müssen  bis  zum  jüngsten 
tage  auf  der  erde  bleiben".  (Zingerle,  Sagen,  märchen  und  gebrauche 
Tirols,  s.  39).  Alpenburg  erklärt  (Mythen  und  sagen  Tirols):  „Die 
volkssage  bringt  die  entstehung  der  zwerge  mit  dem  falle  der  engel  in 
beziehung",  und  teilt  ähnliches  über  die  „Pütze"  mit. 

Aus  der  Schweiz  berichtet  A.  Lütolf  (Sagen,  brauche  und  legen- 
den.    Luzern  1865)    speciell    über    die    entstehung  der   „  erdleutchen " : 


NEUTRALE    ENGEL  35 

Als  Lucifer  fiel,  wurde  ihm  und  seinem  anhange  von  gott  eine  trist 
gesezt,  in  der  sie  in  der  höUe  ankommen  solten.  Da  fielen  die  ein- 
stigen engel  so  dicht  wie  Schneeflocken;  aber  nicht  alle  waren,  da  die 
trist  verstrichen,  schon  in  der  hölle  angelangt.  Die  andern  blieben 
zwischen  himmel  und  erde  hängen  und  wurden  die  „erdleutchen". 

Daraus  ist  ersichtlich,  wie  die  heidnische  sage  von  den  zwergen  — 
oder,  wenn  wir  uns  an  die  klassifikation  von  Grimm  und  "Wolf  hal- 
ten, die  sage  von  den  döckalfar  —  noch  bis  heute  im  volke  fortlebt, 
nur  im  christlichen  gewande.  Die  vergleichung  der  Tii-oler-  und  Schwei- 
zersage ergibt  zugleich,  dass  man  bemüht  war,  den  christianisierten 
mythus  nun  auch  aus  der  christlichen  lehre  zu  entwickeln.  Den  an- 
knüpfungspunkt  bot  wie  von  selbst  der  fall  der  engel,  namentlich  die 
stellen  Ephes.  11:  .^prindpem  potestatis  ae'ris  huius^'  imd  I.  Petr.  V: 
^^adversarius  fester  diabolus,  tamquam  leo  rugiens  circuit  quaerens, 
quem  devoret"-,  was  Augustin  (Sup.  Genes.  1.  3,  c.  10)  in  den  satz 
zusammenfasst :  „aeV  caliginosus  est  quasi  carcer  daemonibus  usque 
ad  tempus  iudicii''^. 

Nun  kann  ich  eine  parallelstelle  aus  dem  14.  Jahrhundert  anfüh- 
ren, die  nach  der  einen  seite  den  Übergang  von  den  obigen  volkssagen 
zu  Wolframs  auffassung  bildet,  nach  der  andern  diese  in  engere  bezie- 
hung  zur  theologie  bringt.  Die  stelle  findet  sich  in  der  chronik,  welche 
Hans  Sentlinger  im  auftrag  seines  herrn  Niklas  dem  Vintler  auf  Run- 
kelstein  geschrieben  und  „einen  teil  gedichtet"  hat  (1394) i.  Er  be- 
schreibt: 

1)  Lucifers  sünde:  Bl.  4^  col.  2,  z.  31  fg.: 

Do  tut  unz  die  gesckr'ift  chunt 

dax,  Lucifer  ein  hMhew  stunt 

in  dem  hi7nel  aldo  wa% 

in  seiner  schon  ein  Spiegel  glaz. 

sein  hochvart  in  niht  mer  da  Hex, 

die  in  in  die  hell  stiez 

und  all  sein  volgar 

in  immer  werndew  sivar. 

2)  Die  neutralen  engel:  Bl.  4'',  col.  1,  z.  30  fg.: 

etleich  engel  tateyi  schein 
daz  si  gedahten  m  irm  müt, 
swer  under  in  daz  pest  tut, 

1)  Der  pergamentcodex  befindet  sich  im  besitze  des  berni  Fi-iediicb  v.  Vintler 
in  Bruneck. 


36  J.    SEEBER,     NEUTRALE    ENGEL 

da  süll  wir  pei  beleiben. 
wer  onag  ünx  dann  üstreibe?i? 
die  selben  warn  Zweifler, 
da  von  tvam  si  immer 
dem  vil  hoch  gelobten  got. 
da  von  si  Uten  grozzefi  spot. 

3)  Ihre  bestrafung:  Bl.  4^  col.  2,  z.  1  fg.: 

Ufid  da  got  dax  icort  vol  sprach, 
die  engel  man  do  vallen  sah 
auz  dem  him^melreich 
all  gemainleich. 

die  mit  Lucifer  tvarn  an  der  schar, 
die  sah  man  7nit  im  vallen  gar. 
Mit  im  si  verstozzen  sind, 
da  von  si  sind  der  hell  chind. 

Und  auch  die  zweiflar 
die  sint  got  vil  unmar, 
wan  si  sind  verstozzen 
mit  andern  im  genozzen 
von  got  ewicleich. 
ez  regent  von  dem  himelreich 
drei  tag  nnd  drei  nacht 
alz  im  got  het  gedacht 
Nicht  wan  teivfel  her  ze  tal 
ditz  waz  ein  jamerleicher  val. 
si  vielen  in  der  hell  grünt, 
do  in  ward  ach  und  we  chunt 
immer  in  der  hell  glüt  ... 

Die  verse:  ez  regent  von  dem  himelreich  usf.  schliessen  sich  eng 
an  die  ausführuiig  der  Schweizersage  an,  sodass  man  wol  schliessen 
darf,  die  „neutralen  engel"  der  chronik  seien  direkt  aus  den  erdleut- 
chen,  norgen  und  putzen  der  volkssage  entstanden;  dasselbe  scheint 
mir  umsomehr  von  den  „Neutralen"  im  Parzival  zu  gelten,  weil  Wolf- 
ram noch  zwei  ursprünglichere  züge  des  zwergmythus  bewahrt  hat. 

Die  zwerge  sind  die  hüter  verborgener  schätze;  im  Parzival 
haben  diese  engel  den  gral,  das  kostbarste  kleinod,  zu  hüten,  welches 
allen  menschen  verboigen  bleibt,  ausser  denen,  die  in  geheimnisvoller 
weise  dazu  berufen  werden.  Die  zwerge,  erdleutchen,  norgen  usf. 
werden  gerettet,  ebenso  Wolframs  „Neutrale".     Später  allerdings  wider- 


KÖSTl.lN,    HEITKA'IK    /.TK    F.KKLÄ  I.T.Ni  1     LriUKIJS  37 

nit't  (lies  (lor  (lichter,  und  zwar  in  einer  form  uiul  ^■edaiikenvorbindun^', 
die  es  wahrscheinlich  nuirht,  dass  seine  erste  darstcllung  tad(;l  und 
Widerspruch  gefunden  habe  (so  auch  Bai'tsch,  Ausg-.  III,  178).  Parz. 
798,  6  heisst  es:  du  reit  (iblvitciis  /ist  habe  Trcvi-izcnt  geloj^en. 

MÄlunSClI    WEISSKIKCllKN.  JOSEF    8EEBER. 


BElTElGE  AUS  LUTHEES  SCHRIFTEN  ZUM  DEUTSCHEN 

WÜRTERBUCHE. 

1.    Mit  lungon  auswerfen. 

In  der  vorrede,  welche  Luther  der  ausgäbe  seines  Grossen  kate- 
chisnuis  vom  jähre  1580  beigab,  redet  er  von  nutz  und  frucht  des 
göttlichen  wertes,  fragt  dann  „Und  Avir  solten  solche  —  —  frucht  so 
leiciitfertiglich  verachten  —  — ?"  und  fährt  fort:  „So  solt  man  uns 
doch  —  —  mit  hunden  aushetzen  und  mit  lungen  auswerfen" 
usAv.     (Luthers  Averke,  Erl.  ausg.  bd.  21  s.  29). 

Was  heisst  „mit  lungen  ausAverfen"? 

Die  alte,  nicht  von  Luther  selbst  abgefasste  Übersetzung,  Avelche 
in  der  ofticiellen  samlung  der  lutherischen  bekentnisschriften ,  dem 
concordienbuch,  aufnähme  gefunden  hat,  sagt  dafür  nui"  „digni  sane 
essemus  —  —  qui  canibus  etiam  exagitareraur".  Hat  sie  das  Avort 
von  den  lungen  nicht  verstanden  oder  aus  anderer  Ursache  Avegge- 
lassen? 

Mir  sind  keine  älteren  deutungen  des  Avortes  oder  erörterungen 
darüber  bekant^.  Es  mag  dies  damit  zusammenhängen,  dass  ältere 
und  AvunderlicherAveise  auch  noch  neuere  und  heutige  theologen  unse- 
ren katechismus,  auch  in  gelehrten  deutschen  abhandlungen  und  büchern, 
lateinisch  zu  eitleren,  also  avoI  auch  nur  in  jener  Übersetzung  zu  lesen 
pflegen. 

Endlich  neuestens,  in  der  ausgäbe  von  Luthers  Averken  für  das 
christliche  haus,  BraunscliAveig  1890  (bd.  3  s.  130),  hat  der  bearbeiter 
des  katechismus,  W.  Bornemann,  die  erklärung  versucht:  „mit  der 
kraft  der  lungen  ausAverfen,  ausspeien".  Ich  selbst,  damals  über  meine 
meinung    gefragt,    Avolte    erklären:     „einen    verfolgen    und    hetzen    mit 

[1)  Das  Deutsche  \YÖi-tL'rljiicli  (VI,  1304),  welches  ausser  deu  beiden  von  Köst- 
lin  besprochenen  stellen  noch  eine  dritte,  ebenfals  aus  Luther  (Hauspostille,  festteil, 
bl.  58"),  beibringt,  hat  eine  deutung  nicht  versucht.  Red.l 


38  KÖSTLIN 

einem  geschrei,  mit  dem  man  sich  die  langen  ausschreit".  Ein  mit 
der  spräche  jener  zeit  vertrauter  germanist,  dem  ich  die  sache  vortrug, 
stimte  mir  bei. 

Seither  aber  ist  ein  ganz  gleichartiger  ausdruck  aus  einer  andern 
Schrift  Luthers  an  den  tag  gebracht  worden,  nämlich  aus  der  schritt 
„Dass  diese  werte,  das  ist  mein  leib,  noch  feststehen"  vom  jähre  1527, 
Erl.  ausg.  bd.  30  s.  33: 

„0  das  wäre  ein  kühner  held,  den  man  solt'  anspeien  und  mit 
lungen  zum  dorf  auswerfen". 

Mit  dem  beisatz  „aus  dem  dorf"  muste  mir  meine  erklärung,  die 
mir  schon  vorher  seltsam  schien,  vollends  unwahrscheinlich  werden. 
Und  hier  haben  wir  nun  eine  alte  Übersetzung  in  dem  1558  erschie- 
nenen, durch  eine  vorrede  Melanchthons  vom  jähre  1556  eingeführten 
7.  bände  der  Wittenberger  lateinischen  ausgäbe  von  Luthers  werken. 
Sie  übersezt  (s.  384''),  offenbar  mit  dem  bestreben,  genau  zu  sein: 
„Heros  sane  fortis  et  egregius,  dignus  qui  foedatus  ora  vultumque  sputu 
et  pilis  ex  stercore  equino  confectis  e  pago  ejiciatur".  Ohne 
allen  zweifei  hat  sie  also  unter  den  lungen  dasjenige  verstanden,  was 
wir  rossbollen  oder  pferdeäpfel  nennen,  und  unstreitig  passt  dies  vor- 
treflich  in  den  Zusammenhang.  Nicht  zu  verwundern  ist  dann  auch, 
wenn  der  Übersetzer  des  katechismus  die  werte  ebenso  verstand,  aber 
aus  einem  katechismus  lieber  wegliess. 

Wie  selten  aber  „lungen"  zu  dieser  bedeutung  gekommen  sein? 
Mein  herr  kollege  Sievers,  der  die  frage  getreulich  mit  mir  überlegte,' 
wies  mir  den  weg,  den  ich  unter  seiner  Zustimmung  auch  noch  andern 
fachmännern  hier  zur  erwägung  vorlegen  möchte.    Man  vergleiche  dazu 
namentlich  die  angaben  im  Grimmschen  wörterbuche. 

Fest  steht  die  bedeutung  von  klunge  =  knäuel;  so  schweizerisch: 
fadenklung.  Daraus  wird  „lunge"  in  jenem  sinne  (=  belle)  geworden 
sein,  und  zwar  zur  zeit  und  an  orten,  wo  der  sonstige  gebrauch  des 
wertes  klunge  in  abgang  kam. 

Wir  haben  hieran  um  so  weniger  zu  zweifeln,  da  „klung"  und 
„lung"  auch  sonst  eigentümlich  nebeneinander  herläuft  und  ineinander 
übergeht.  So  hat  „lungel"  neben  der  bedeutung  „lunge"  (lat.  pulmo) 
auch  die  bedeutung  „liederliche  weibsperson"  und  hiemit  eben  dieselbe 
bedeutung  mit  „klungel,  klüngel",  was  1)  knäuel,  quaste,  2)  lieder- 
liches Weibsbild  und  schlingel  heisst.  Ferner  steht  nebeneinander 
„klungern"   =  sich  faul  herumtreiben,  und  „lungern",  herumlungern. 

Ganz  ähnlich  steht  im  englischen  noch  heute  nebeneinander 
„clump"  und  „lump"  =  klumpen,  stück  (woher  der  neuere  deutsche 
name  „lumpenzucker"  stamt). 


BEITRÄGE    Zn{    EKKLAHrNd    LT'THERS  39 

Auch  an  aiuleni  bcispiokMi  dafür  IVlilt  os  nicht,  dass  an  die  stelle 
eines  Wortes,  das  in  al),i;'ani;'  kam  und  nicht  niciir  recht  verstanden 
wurde,  ein  viel  f^-ebrauchtes  gleichklin<;-endcs  anderes  wort  trat,  dessen 
eigentliche  bedeutung  doch  eine  ganz  andere  war  und  blieb.  Ja  merk- 
würdiger weise  bietet  gerade  hiefür  auch  wider  das  wort  lunge  mit 
noch  ganz  anderer  Verwendung  sich  als  beispiel  dar.  In  gewissen 
gegenden  Deutschlands  nämlich  reden  gebildete  und  ungebildete  von 
„lungenbraten".  Sie  meinen  damit  lendenbraten.  Ihrer  wnnderlichen 
l)enennung  aber  liegt  ohne  zweifei  zu  gründe  das  wol  nur  wenig  mehr 
im  Volk  fortlebende  wort  „lummel"    =   lendc. 

2.    Spielen  tragen   =   aufziehen. 

In  (>ben  derselben  gegen  Zwingli  und  Ökolampad  gerichteten 
Schrift  sagt  Luther  im  Schlussabschnitt  (a.  a.  o.  s.  149): 

„Es  trägt  mich  auch  ihre  rotte  spielen  mit  solchem  urteil, 
dass,  weil  ich  wider  die  bauern  geschrieben  habe,  sei  der  geist  von  mir 
gewichen,  dass  ich  verstockt  nicht  möge  verstehen  die  helle  Wahr- 
heit usw." 

Mir  wurde,  als  ich  über  den  sinn  dieser  worte  von  den  heraus- 
gebern  der  oben  genanten  Braunschweiger  ausgäbe  befragt  wurde,  die 
Vermutung  vorgelegt,  das  tragen  könte  hier  den  sinn  des  lateinischen 
ferunt  haben:  „sie  (die  rotte)  berichten";  und  was  sie  von  ihm  sagen, 
wäre  das,  dass  er  mit  ihrem  urteil  spiele. 

Nie  aber  hat  Luther  „tragen"  so  gebraucht.  tJberdies  zeigt  auch 
die  alte  Übersetzung,  dass  nicht  von  Luther  gesagt  sein  kann,  er  spiele 
mit  dem  urteil.  Sie  lautet:  vestrae  haereseos  asseclae  me  hoc  quoque 
nomine  et  judicio  passim  calumniantur,  quod  —  —  Spiritus  a  me  dis- 
cesserit.  Sicher  gehört  vielmehr  „spielen  tragen"  zusammen,  ebenso 
Avie  wir  sagen:  spazieren  fahren,  ein  kind  spazieren  tragen. 

Was  dies  bedeute,  wird  freilich  durch  jene  Übersetzung  noch 
nicht  näher  erklärt.  Man  möchte  zunächst  denken:  herumtragen  wie 
ein  Spielzeug,  einen  als  Spielzeug  gebrauchen  mit  gerede  über  ihn. 
Nach  der  analogie  mit  „spazieren  tragen"  möchte  mau  aber  erwarten, 
dass  der  getragene  selbst  irgendwie  zum  spielen  kommen  werde. 

Auch  hier  hat  nun  Sievers  weiter  geholfen  durch  hinweis  auf  die 
reichen  mitteilungen  in  Schmellers  Bayer.  Wörterbuch  ed.  Frommann 
bd.  2  s.  664.  Hiernach  heisst  „einen  ausspielen":  ihn  zum  scherz  und 
spott  nachäffen.  ,, An  der  Um",  sagt  Schmeller,  „ist  besonders  zur 
fastnachtszeit  üblich  das  leut- ausspielen,  Avobei  einzelne  lächerliche  bege- 
benheiten,    die  sich   das  jähr  über  im  orte  ei-eignet,    im  kostüme  und 


40  KÖSTLIN 

mit  den  gebärden  derjenigen,  die  sich  dabei  biosgegeben  haben,  zur 
belustigung  der  Zuschauer  scenisch  vorgestellt  werden".  Schmeller 
führt  auch  an:  „aufspielen  über  einen  —  ihn  zum  gegenständ  der 
Unterhaltung,  gewöhnlich  der  boshaften,  nehmen".  Ferner  erwähnt  er 
ein  „ aschermittwochgericht  der  zwölf  jungfi-auen  zu  Burgebrach  (in 
Oberfranken,  Baiern)  über  eine  ausgestopfte  figur". 

Hiernach  Avird  Luthers  sinn  klar  sein:  die  gegner  verhöhnen  und 
lästern  ihn  hin  und  her,  wie  man  bei  solchem  brauch  einen  in  effigie 
umhertrag,  vorführte,  spielen  liess,  lächerlich  machte  mid  wol  auch 
aburteilte  (vgl.  jenes  aschermittwochgericht).  Dazu  passt  auch,  dass 
Luther  das  urteil  bezeichnet,  das  eben  hiebei  die  gegner  über  ihn  spre- 
chen. Auch  dass  er  diese  gerade  hier  eine  rotte  nent,  wird  im  Zusam- 
menhang damit  bedeutuug  haben:  sie  gleichen  den  mutwilligen  und 
boshaften  aufführern  jener  spiele,  die  haufenweise  herumzogen. 

Yon  hier  aus  wird  endlich  auch  die  herkunft  der  bedeutung  von 
„aufziehen"  =  sich  über  einen  lustig  machen,  festzustellen  sein. 
Grimms  Wörterbuch  1,  784  denkt  an  ein  „ziehen  auf  die  spötterbank", 
daneben  auch  an  eine  gieichbedeutung  mit  aufhalten,  hinhalten;  M.Hey- 
nes deutsches  Avörterbuch  1,  704  fg.  ans  leztere.  Dabei  steht  fest  (vgl. 
bei  Grimm  und  Heyne),  dass  man  nach  dem  älteren  Sprachgebrauch 
einen  nicht  bloss  „aufzieht",  indem  man  ihm  selbst  etwas  vorhält,  um 
sich  über  ihn  lustig  zu  machen,  sondern  ganz  algemein,  indem  man 
ihn  um  irgend  einer  sache  willen  und  in  irgend  einer  Situation  zum 
gegenständ  des  lachens  macht.  Als  einfachste  erklärung  aber  bietet 
sich  nun  gCAviss  der  ursprüngliche  sinn  dar:  man  zieht  ihn  auf  auf 
jener  spottbühne;  noch  bestimter:  man  zieht  ihn  dort  auf  wie  die  am 
faden  oder  draht  hängenden  spielpuppen. 

3.    Quecksilber  in   den  teich  werfen. 

Keine  entscheidung,  sondern  nur  eine  Vermutung  oder  frage  wage 
ich  mit  bezug  auf  einen  anderen,  offenbar  sprichwörtlichen  ausdruck, 
den  Luther  in  jener  schrift  s.  19  fg.  gebraucht  hat.  Er  führt  dort  aus: 
dem  teufel  zum  trotz  habe  er  mit  saurer  arbeit  im  gegensatz  gegen 
die  menschengebote  wider  die  heilige  schrift  hervorgebracht  usw\;  jezt 
habe  dagegen  in  seine  und  der  seinigen  mitte  der  teufel  leute  ein- 
gemengt, die  seine  lehre  nicht  dazu  aufnehmen  solten,  um  ihm  in  jener 
arbeit  und  jenem  kämpfe  beizustehen,  sondern  um,  w^ährend  er  und 
die  seinigen  vorne  stritten,  in  ihr  beer  von  hinten  einzufallen  und  sie 
so   zwischen  zwei  feinde  zu  bringen  und  desto  leichter  zu  verderben. 


ISEITK.'UiE    ZVH    KK'KLAIirNi;     I.nHERS  41 

„Das'',  sagt  Luther,  „licisst  (moin'  ich  ja)  qnccksilbcr  in  den  teich 
geworfen ''. 

Die  hiteinische  Übertragung  sezt  an  die  stelle  dieser  worte  ein 
otfenbar  auch  sprichwörtlich  gewordenes  lateinisches  bild:  ,,Hoccine  est 
floribus  immittore  austros".  Sie  kann  damit  nur  heissc  Südwinde  mei- 
nen, welche  den  blumen  verderben  bringen. 

Im  (Trimmschen  Wörterbuch  (7,  2836)  worden  die  Avortc  Luthers 
auf  die  bewcglichkeit  des  quecksilbers  und  seiner  unendlich  vielen 
küg(>lchen  bezogen.  Was  soll  aber  diese  in  jenem  zusanuuonhang?  in 
ihm  han(h?lt  es  sich  ja  jodenfals  um  eine  verderbliche  Wirkung,  die 
das  (juecksilbei-  im  teich  üben  soll.  Man  müsste  nur  etwa  an  einen 
aberglauben  denken,  wonach  das  quecksilber  dort  mit  seiner  beweg- 
lit'hkeit  verderbliche  bewegungen  oder  stürme  hervorbringen  solte.  Yon 
einem  derartigen  aberglauben  ist  mir  wenigstens  nichts  bekant. 

Eben  dort  lesen  wir  aber,  dass  das  quecksilber,  und  zwar  nament- 
licii  nach  Paracelsus,  auch  als  gift  diente,  wobei  dahin  gestelt  bleiben 
mag,  in  welchem  zustand  oder  w^elcherlei  Zubereitung  es  so  gebraucht 
wurde.  Hat  es  nicht  diese  bedeutung  auch  hier?  Es  wird  heim- 
tückisch und  heimlich  in  eiuen  teich  geworfen,  um  seine  fische  zu 
verderben.     Man   denke   an   die   damals   so   zahlreichen  fischteiche. 

4.    Wenn thät. 

In  bd.  XXIII,  41  und  293  dieser  Zeitschrift  wurden  fünf  belege 
mitgeteilt  für  die  bedeutung  von  „thet"  =  „entete'^  =  „nicht  thäte, 
nicht  Avirksam  oder  vorhanden  wiire'^  Hier  folgen  zwei  weitere  aus 
Luther  i. 

In  der  schrift  wider  Hans  Worst  vom  jähre  1541  (Neudruck  her- 
ausgegeben von  Knaake  bei  Niemeyer  1880,  s.  54;  Erl.  ausg.  27,  55)  sagt 
Luther  von  den  Papisten:  Es  ist  nun  dahin  kommen,  „dass  sie  das 
licht  unverschämt  scheuen,  ja  viel  ding  selbst  itzt  lehren,  das  sie 
zuvor  verdammt,  dazu  nichts  zu  lehren  hätten,  wenn  unsere  bücher 
theten''. 

In  Luthers  Bibelübersetzung  1.  Kön.  21,  7  ist  es  zwar  üblich 
geworden  zu  drucken:  „Was  wäre  für  ein  königreich  in  Israel,  wenn 
du  so  thätest^',  und  hiefür  ist  dann  in  der  „revidierten  Bibel'',  soge- 
nanten  „Probebibel"  vom  jähre  1883  (Halle,  buchhandlung  des  Waisen- 
hauses) gesezt  worden:  „wenn  solches  geschähe".  Bei  Luther  aber 
hiess  es:    „wenn  du  thätest".     Mein  herr  College  Burdach,  mitarbei- 

1)  Vgl.  dazu  noch  s.  43  dieses  heftes.  Red. 


42  KAWERAU,    IN   BUS   CORREPTAM 

ter  an  der  superrevision  jener  bibel,  hat  mich  darauf  aufmerksam  ge- 
macht als  auf  ein  neues  beispiel  jener  eigentümlichen  ausdrucksweise, 
die  also  Luther  ohne  bedenken  dort,  bei  einer  rede  der  schlimmen 
königin  Jesabel  an  ihren  gatten  Ahab,  ohne  bedenken  auch  fürs  deutsch 
seiner  Bibel  verwante.  Eigentümlich  ist  dort  das  Verhältnis  Luthers  zum 
hebräischen  grundtext.  Dieser  besagt  nämlich  eigentlich:  „Du,  nun  übe 
königsmacht  (dasselbe  wort  im  hebräischen  mit  königreich)  über  Israel!" 
oder  fragend:  „du,  übst  du  nun  königsmacht  usw.?"  Und  zwar  ist 
dieses  „üben"  mit  dem  gewöhnlichen  worte  für  „thun"  (nip^-n)  aus- 
gedrückt. Es  fragt  sich,  wie  weit  Luther,  der  hier  jedenfals  selbstän- 
dig, ganz  abweichend  von  der  falsch  übersetzenden  Yulgata,  und  zu- 
gleich frei  übersezt  hat,  hiebei  die  einzelnen  hebräischen  worte  genau 
verstand.  Und  hiebei  mag  ihm  nun  das  „thun"  im  grundtext  ein 
besonderer  anlass  gewesen  sein,  sein  „Wenn  du  thätest"  in  der  Über- 
setzung anzuwenden,  so  sehr  auch  dessen  sinn  von  dem  des  „thim" 
im  hebräischen  abweicht.  Jedenfals  aber  wird  er  es  in  ebendemselben 
sinne,  wie  in  den  zuvor  ausgehobenen  belegsteilen  gebraucht  haben. 

HALLE    A.   S.  JULIUS    KÖSTLIN. 


„IN  BUS  COEEEPTAM'^   —  EINE  ANFEAGE. 

Luther  ruft  1530  in  seiner  „Vermanung  an  die  geistlichen  ver- 
samlet  auff  dem  reichstag  zu  Augsburg"  (Erl.  ausg.  24 2  s.  363)  den 
deutschen  prälaten  in  erinnerung,  wo  sie  wol  nach  dem  Wormser 
reichstage  geblieben  wären,  wenn  damals  ein  prediger  das  volk  zur 
gewaltsamen  Vertreibung  der  geistlichen  aufgestachelt  hätte:  „ —  wäre 
nur  ein  prediger  aufgestanden,  der  dazu  geraten  hätte,  wo  weitet  ihr 
geistlichen  itzt  sein?  In  bus  correptam!"  Ebenso  lesen  wir  in 
den  tischreden  (Erl.  ausg.  61,  282)  in  einer  Schilderung  des  todes  des 
Wiedertäufers  Hetzer:  „Als  er  nun  gerichtet  werden  und  sterben  sollte, 
da  führe  er  auch  in  bus  correptam.  Denn  das  war  sein  leztes  wort 
gewesen:  Herr  Gott,  wo  soll  ich  hin  etc."  An  beiden  stellen  ist  es 
also  sichtlich  sprichwörtlicher  ausdruck  für  ein  ende  mit  schrecken,  ja 
wie  es  scheint,  gradezu  für  die  hölle.  An  der  zweiten  stelle  gibt  eine 
neuere  ausgäbe  es  sachlich  zutreffend  wider  mit  „in  des  teufeis  rä- 
chen". An  der  ersten  umschreibt  es  J.  Ficker  in  seiner  bearbeitung 
der  Schrift  für  die  Braunschw.  Luther -ausgäbe  III,  353  mit:  „zu  schar- 
fer busse,  zu  Züchtigung".  Weder  du  Gange  noch  Dietz  geben  aus- 
kunft  und  anhält  für  das  Verständnis  dieser  sprichwörtlichen  redeweise. 


BIRLINCtEH,    thfli'  43 

Ich  möclitr  daher  die  aufmorksainkcit  auf  diesoll)(>  loukon  und  fragen: 
kann  jcniand  ihn  aiisdnu'k  sonst  nocli  in  (h>r  littoratur  na(•h^v(Mson? 
kann  jemand  den  schhissel  zur  sprachlichen  und  sachlichen  erklärung 
bieten?  Dass  an  einen  druckfehler  nicht  zu  denken  ist,  beweist  das 
vorkommen  in  zwei  ganz  verschiedenen  Schriften. 

KIEL.  KAWKRAU. 


THETE  DAS,  THET,  THÄTE   =   MHD.  ENTETE. 

Die  Studien  über  Luthers  spräche  und  die  revision  des  bibeltex- 
tes  lenkten  auf  das  kaum  beachtete  fhei,  thlit  =  mangelte,  fehlte  das, 
wiire  das  nicht  vorhanden.  Ich  habe  bd.  XVI,  s.  374  dieser  Zeitschrift, 
aus  Sebastian  Francks  spiichwörtersamlung  und  Conrad  Dieterichs  pre- 
digten über  das  buch  der  Weisheit  eine  anzahl  beispiele  mitgeteilt, 
was  den  Verfassern  der  beiden  artikel  ztschr.  XXIII,  41.  293  entgangen 
ist.  Dieser  gebrauch  ist  süddeutschen  denkmälern  durchaus  fremd.  Die- 
terich war  ein  Hesse,  von  Hayna  oder  (rmunden,  von  1614 — 1639  in 
Ulm.  Ich  füge  zwei  weitere  belege  hier  bei.  Boltes  ,,  Der  bauer  im 
deutschen  liede  1890"  hat  einen  liederdruck  von   1647  s.  15;  str.  12: 

König,  fürsten  und  herren 

Muss  er  mit  gott  ernehren, 

Schlösser  vnnd  städt  die  weren  nicht. 

Hatten  nicht  zu  verzehren 

Wenn  der  bawer  nicht  thet. 
Älter,    wol   noch   in   die  zweite  hälfte  des  15.  Jahrhunderts  gehö- 
rend, ist  „Der  bawrn  lob"  s.  109  fgg.  nürnbergisch,  v  55  fgg. : 

Ich  lob  dich,  du  edler  bawr 

Für  alle  creatawr, 

für  alle  herrn  auf  erden 

Der  kayser  muss  dir  gleych  werden. 

Dir  scholt  nymer  geschehen  kain  layt, 

Das  sprich  ich  auf!'  meinen  ayt 

Thestn,  so  müst  mancher  in  sorgen  allda. 
Bolte  fügt  bei:  etwa  thetestu  nit. 

Ygl.  Verwys-Verdam  mittehiederl.  woordenboek  II,  240:  ruclor^ 
endfde  (en  dact  =  en  dadc  hei),  en  hadde  gedae/i  wenn  (eine  person 
oder  Sache)  es  nicht  getan  hätte,  nicht  gewesen  wäre,  es  nicht  gehin- 
dert hätte". 

BONN.  ANTON    BIRLINGER. 


44  ZINGERLE 

PEEDIGTLITTEEATUE  DES  17.  JAHEHUNDEETS. 

I. 

Die  katholische  predigtlitteratur  des  17.  Jahrhunderts  ist  viel  zu 
wenig  beachtet  und  gewürdigt  —  und  doch  erschliesst  sich,  beson- 
ders in  den  predigten  der  volkstümlichen  Franziskaner  und  Kapu- 
ziner eine  reiche,  frische  quelle  für  kultur-  und  Sittengeschichte ^  Die 
spräche  ist  meist  für  das  volk  berechnet,  an  treffenden  gleichnissen, 
derben  vergleichen  und  an  hunior  fehlt  es  diesen  kanzelrednern  nicht. 
Für  die  gebildeten  zuhörer  gibt  es  citate  aus  lateinischen  Schriftstellern 
oder  stellen  aus  der  alten  mythologie.  Da  kehren  gewisse  fornieln 
wider,  die  sich  bei  den  Kapuzinern  bis  in  die  mitte  dieses  Jahrhun- 
derts erhalten  haben.  Nachdem  aussprüche  der  kirchenväter  für  die 
Sache  angeführt  worden,  wird  als  höchster  beweis  ein  spruch  eines 
griechischen  oder  lateinischen  Schriftstellers  gegeben  mit  den  werten 
„und  selbst  der  blinde  beide  Ovidius"  oder  „wie  der  blinde  beide  Cicero" 
sagt.  Die  citate  werden  zuerst  in  lateinischer  spräche,  dann  in  deut- 
scher gegeben,  stellen  aus  lateinischen  dichtem  oft  in  gereimten  ver- 
sen.  Ich  habe  mir  einige  verschollene  predigtsamlungen  aus  jener  zeit 
erworben,  die  ich  mit  vergnügen  las.  Eine  führt  den  titel:  „Cande- 
labru7n  apocalypticum  Septem  lu7ninaribus  coruscans  ode?^  Äpocalyp- 
tischer  Leichter  mit  sibefi  Liechtern  und  Facklen  flammendt,  das  ist: 
Sibenfache  Predigten  durch  siben  Jahrgang,  auff  alle  Sonn-  und 
Feyrtäg  ieglichen  gantzeri  Jahrs  aiißgetheilt.  Ersten  Leichters  oder 
ersten  Jahrs  Dominical  oder  sonntäglicher  Theil.  Verfasst  und  be- 
schriben,  wie  auch  mit  nutzlichen  Marginalien  und  viererley  Registern 
aufs  beste  versehen.  Durch  R.  P.  F.  Joannem  Copistranu7n  Brin- 
zing,  S.  Fra7icisci  Ordens,  der  strenger7i  Observanz',  Straßburger  Pro- 
vintz  Priestern  7md  der  Zeit  ordinari  Pfarrprediger7i  bei  U.  L.  Frawen 
in  Ba7nberg.  ■ —  Stüfft  Ke7npten,  get7'uckt  durch  Rudolff  Dreher,  im 
Jahr  1677.  4^.  451.  s.  Die  register  nicht  eingerechnet.  Der  zweite 
teil:  y,Erste7i  Leichters  oder  ersten  Jahrs  Festivalodenden  feiertäglicher 
TheiV"  Kempten,  im  jähre  1681.  4*^  hat  ohne  register  544  selten.  Der 
erste  teil  ist   „Dem  Hoch  würdigsten   des  H.  Rom.  Reichs  Fürsten  und 

1)  Einen  Kapuziner -prediger  aus  dem  17.  Jahrhundert  behandelte  auf  meine 
anregung  mein  freund  Adolf  Hueber  in  der  schrift:  Über  Heribert  von  Salurn. 
Beitrag  zur  künde  deutscher  spräche  am  ende  des  17.  Jahrhunderts.  Innsbruck, 
Wagnersche  Universitätsbuchhandlung.  1872.  Birlinger  hat  schon  seit  25  jähren 
diese  litteratur  gepflegt,  und  viele  kapuzinerpredigten,  wie  werke  der  Franziskaner 
für  spräche,  sittenkunde,  mythologie  ausgebeutet. 


l'KEDKiTI.ITTERATUR   DES    17.    .IHS.         '  45 

HpiTii,  Herrn  Pctro  riüli])])!),  .l^ischoHV'ii  zu  Banibere,-  und  Würtzburg, 
Hertzogen  in  Fraucken",  der  zweite  dem  „Reverendissimo  et  celsissimo 
S.  R.  T.  Principi  Domino  Domino  Rupcrto  AW)ati  ('ampidononsi,  Augu- 
stissimae  Imperatricis  Arcliimarschallo"  gewidmet. 

Der  erste  teil  ist  in  demselben  jähre  ei'seliienoii,  in  dem  Abra- 
iiam  a  Santa  C-lara  liofpredlgrr  in  Wien  wurde.  Beide  sind  geistes- 
verwante  redner  ihrer  zeit.  Auch  Bi'inzing  ist  „volkstümlich  und 
von  mächtiger  darstellungskraft"  \  auch  er  sieht  in  seineu  predigten 
auf  elVckt  und  iiutcihaltung,  liebt  derbe  spässe  und  Wertspiele,  geschich- 
ten  und  sclnvänke,  prunkt  nicht  selten  mit  gelehrsamkeit,  und  man 
begreift,  dass  damals  die  lente  lieber  zu  den  kurzweiligen  predigten 
giengen,  als  heutzutage  zu  den  huigweiligon  erbau ungsreden,  die  lei- 
der alzuoft  von  politik  durchzogen  sind. 

Schon  die  inhaltsgaben  im  ersten  register  sind  für  unsern  P.  Jo- 
hannes bezeichnend,  z.  b. :  „Wie  erschröcklich  am  Jüngsten  tag  in  dem 
förchtigen  tiial  Josaphat  das  letste  gericht  seyn  werde",  „warheit 
bringt  feindschaft",  „wie  man  lebt,  so  stirbt  man",  „die  weit  ist  eine 
betrogene  wüste",  „ein  böses  weib  ist  das  grösste  übel  von  der  weit". 
„Am  sontag  Quinquagesimae.  Thema:  sepeliatur  sepiütura  asini  Je- 
rem.  22,  19.  Er  soll  in  des  esels  grab  begraben  werden.  Jerem.  22,  19. 
Innlialt.  Leiclipredig  Bacchi  deß  Faßnachtgotts".  „Das  vertrunekne 
Elend",  „Jetziger  Welt  Politic  ist  des  Teuffels  Hauß-Regel",  „Großer 
Reichtunib,  großer  Untergang",  „Ein  Geitziger  ist  einem  Wassersüch- 
tigen gleich".  Im  festteile  ist  der  Inhalt  ernster  und  weniger  volkstüm- 
lich angegeben. —  Charakteristisch  ist  die  „Leichpredig  Bacchi"  I,  s.  116 
— 125,    eine  wahre  fastnachtspredigt  voll  hunior  und  derben  witzen. 

In  der  erwartung,  dass  ein  P.  Franziskaner  das  gedächtnis  seines 
redemächtigen  mitbruders  durch  eine  ausführliche  besprechung  und 
Würdigung  dieser  predigten  ehren  wird,  beschränke  ich  mich  zunächst 
darauf,  das  Sprichwort  in  diesen  reden  zu  verzeichnen  und  anderes 
darüber  mitzuteilen. 

I.  teil. 

„Die  Wahrheit  sagen  bringt  Ungunst"  s.  4. 

„Der  wolf  artet  den  hofleuten  nach"  s.  17. 

„Gar  zu  grob,  wenn  man  es  greiften  kau"  s.  17. 

„Wie  man  lebt,  so  stirbt  man"  s.  21. 

„AVann  das  kind  stirbt,  so  hat  die  gevatterschaft  ein  end"  s.  57. 

1)  W.  Scherer,  Geschichte  der  deutschen  litteratur  338. 


46  ZINGERLE 

„So  muss  man  die  fiichs  fangen"  s.  59. 

„Böse  weiber  sind  bissiger  als  die  hund"  s.  60. 

„Alles  verthon  vor  meinem  endt     Macht  ein  richtigs  testament" 
s.  24. 

„Beim  wein  ist  es  gut  lustig  sein,  sprechen  die  durstigen  brü- 
der"  s.  150. 

„Wenn  den  esel  das  futter  sticht,  so  gumpt  er"  s.  155. 

„Fürwitz  wird  theur  bezahlt"  s.  163. 

„Man  lebt  wie  hund  und  katzen"  s.  177. 

„Gleich  und  gleich  geselt  sich  geren.  Der  wolf  sucht  wölf  und 
flieht  den  beren"  s.  199. 

„Da  ligt  der  haas  im  pfeffer"  s.  202.  297.  430. 

„Der  wolf  grabt  ihme  selbsten  ein  gruben"  s.  205. 

„Der  loser  an  der  wand     Hört  seine  eigne  schand"  s.  205. 

„Untreu  schlägt  sein  eignen  herren"  s.  206. 

„Stärker  ist  das  gelt.     Als  sonst  die  gantze  w^elt"  s.  208. 

„Außwendig  schön,  inwendig  faul  Yerführt  das  aug,  betrügt  das 
maul"  s.  329. 

„Der  fux  wüste  wol,  wo  der  has  im  pfeffer  lag"  s.  362. 

„Du    gehst  auß   oder  ein,     So   steht  der  tod  und  wartet  dein" 
s.  374. 

„Wer  sich  mischet  under  die  klew,  Den  fressen  die  säw"  s.  395. 

„Wer  die  Wahrheit  geiget,  dem  zerschlagt  man  die  geigen  am 
köpf"  s.  395. 

IL  teil. 

„Was  die  alten  sungen.  So  zwitzern  die  jungen"  s.  6\ 

„Je  böser  der  mensch,  je  besser  das  glück"  s.  89. 

„Zu  hoff  leben  ist  ein  gefährlich  leben.  Lang  z'  hoff,  lang  z'  höll" 
s.  257. 

„Es  ist  keen  messer,  das  schärpfer  schirt.  Als  wenn  ein  betler 
zum  herren  wird"  s.  263. 

„Auf  leid  folgt  freud"  s.  282. 

„Wo  der  teufel  nit  kan,  so  schickt  er  ein  böses  weib"  s.  287. 

„Wo  der  teufel  nit  hin  kann,  da  schickt  er  ein  böses  weib" 
s.  309. 

„Böse  weiber  sind  ärger  als  der  teufel"  s.  287. 

1)  „Kegis  ad  exemplum  totus  componitur  orbis"  s.  5  wird  damit  glossiert. 


rREDlOTUTTF.RATn?    DKS    17.    .IHS.  47 

„Der  Tcutsch  sagt  im  spricliwort:    Der  neid   wird    zu   hott'  gcbuh- 
i-cn.  in  düsteren  auferzogen   und  stirbt  im  spital"  s.  ;>87. 
„Das  glück  will  einen  neider  haben"  s.  r>38. 
„Der  unschuldig  muss  leiden"  s.  338. 
„Glück  und  glas.     Wie  leicht  bricht  das"  s.  344. 
„Wer  auf  gott  traut,  hat  wo!   baut''  s.  425. 

Häufiger   begegnen   lateinische  sprüche  und  versus    memoriules, 
oft  mit   ül)ersetzung  in  reimen. 

I.  teil. 
„Tempus  gemma  pretiosius  omni. 

Die  zeit  ist  das  theurest  auf  der  weit, 
Wird  nimmer  kauft  umb  alles  gelt"  s.  38. 
„Die  zeit  verschwiudt     Wie  rauch  im  wind. 
Zergeht  behendt,     Wirdt  nimmer  gweudt"  s.  40. 
„Sine    crux    et    sine    lux,    ohne    reu    und    laid,    ohne    buss    und 
belebt"  s.  58. 

.,Qui   tetigerlt  plcem,    inqulnabitur  ab  ea.     Wer  mit  bech   umb- 
geht,  der  besudelt  sich  leichtlich"  s.  77. 

.,Figulus  figulum  odit,  der  hafner  neidet  den  liafner"  s.  85. 
„Etiam  capillus  unus  habet  suani  umbram,  auch  ein  kleines  liär- 
lein  hat  seinen  schatten"  s.  88. 

,,Anserum    convivia    sunt    gratiora,    mit    den    gänsen    ist    es   gut 
essen"  s.  150. 

,,Quod  cito  fit,  cito  perit,  was  bald  wird,  das  vergeht  bald"  s.  165. 
,,Ut  enim  avis  cantii,    sie  bomo  loquela  notatur,    dann  gleichwie 
der  teutsche  poet  singt: 

Den  vogel  am  gsang. 
Den  hafen  am  klang. 
Die  Jungfrau  am  gang"  s.  199. 
„Ex  uihilo  nihil  tit,  sagt  der  Lateiner  im  sprichw^ort:  Auß  nichts 
wird  nichts,   als  w^olt  er  mit  dem  Teutschen   sagen:  Arme  leute  haben 
nichts,  wer  nacher  geht,  der  findet  nichts"  s.  262. 

„Felix    quem   faciunt  aliena  pericula   cautum,    \\o\   dem,    der  an 
anderer  leuten  schaden  witzig  wird. 

Wo  so  vil  gefallen,     Kan  mir  nit  gefallen"  s.  359. 
„Omue  trinum  perfectum,   alles  was  sich  dreiet,    das  ist  volkom- 
men"  s.  394. 


48  ZINGERLE 

„Deliberandum  est  diu,  quod  statueudum  est  semel,  was  eimuabl 
muss  geschehen,  das  soll  zuvor  wol  erwogen  sein"  s.  436. 

IL   teil. 
„A  Jove  principium"   will  mit  dem  Teutschen  sagen:    „Der  erst 
geht  voran"  s.  2. 

„Qualis  rex,  talis  grex:  Wie  der  könig,  also  die  imderthanen, 
wie  der  pfaff,  also  die  pfarrkinder,  wie  der  hirt,  also  die  schaff,  wie 
der  pfeiffer,  also  die  dantzer"  s.  4.  „Wie  der  hirt  also  sinnd  die  schaf, 
wie  der  pfaff,  also  die  pfarrkinder"  s.  5. 

„Non  est  conveniens  cantibus  ille  color: 

Traurig  sein  und  schwartz  sich  kleiden 
Tauget  nit,  wo  lauter  freuden"  s.  78. 
„Volat  irrevocabile  verbum: 

Das  wort  fliegt  fort,"kombt  nit  mehr  her, 
Nit  haben  gredt,  oft  besser  wer"  s.  172. 
„Qui  cito  dat,    bis  dat:    Wer  gschwind  gibt,    der  gibt  zweimal" 
s.  203. 

„Non  est  in  pota  saepe  salute  salus: 

Gesundheit  trinken     Machet  hinken"  s.  223. 
„Yil  getrunken.     Hart  gehunken"  s.  223. 
„Insanire  facit  vel  sanos  copia  vini: 

Auch  die  weisen  werden  narren. 
Fahren  auf  dem  schellen -karren, 
Wann  des  weins  zu  viel  genossen, 
Wann  das  glas  oft  eingegossen"  s.  223. 
„Finis  coronat  opus:    Avans  end  gut  ist,    so    ist  alles   gut,    oder 
mit  dem  poeten  zu  singen: 

Wol  geschlossen,     Gut  geschossen"  s.  231. 
„Exeat  ex  aula,  qui  cupit  esse  pius: 

AVillst  bleiben  fromm,     Gen  hof  nit  komm"  s.  257  u.  308. 
„Omnia  vincit  amor: 

Die  lieb  ist  stark  und  überwindt, 
Die  lieb  die  ist,  so  alles  bindt"  s.  260. 
„Conveniimt  rebus  nomina  saepe  suis: 

Was  die  sach  von  selbsten  ist. 
Zeigt  der  nam  oft  zu  der  frist"  s.  262. 
„Hast  du  auch  nomen  et  omen? 

Ist  dein  nam     Wie  dein  fam? 

Ist  dein  prob     Wie  dein  lob?"  s.  264. 


PREDIGTI.ITTERATUR    DES    17.    .THS.  49 

„Fortunao    comes    iiividia   ^agt    der  Lateiner   im    spriicliwort,    will 
mit  dem  Teutschon  sag-en:    Das  o-lück    will   einen   neider  haben'''  s.  277. 
„Andaees    fnrtuna    jnvat,    timidus(|ue    i'epellit:     j-^iscli    n'ezuekt    ist 
halb  ,i;etbchteu"  s.  324. 

„Ubi  nil  potest  h3onina,  assuatur  pellis  vulpina,  saj^t  der  poli- 
ticus:  Kannst  nichts  mit  gwalt  außrichten. 

Vorteil   kann  den   liandel   sehlichten, 
Wo  des  lewon  zoni  niclits  ist, 
Gebrauch  dich  dos  fuchsen  list"  s.  324. 
„8(datiuin  est  miseris,  socios  habuisse  dolorum,  sagt  der  Lateiner 
im  spriiehwort,  will  mit  dem  deutschen  poeteu  singen: 
Muss  ich  leiden    und  soll  es  sein. 
Freut  michs  doch,  bin  uit  allein"  s.  34L 
„Parturiunt  montes,  nascetur  ridiculus  mus: 
Yil  geschrei  und  wenig  woll, 
Außen  liier  und  innen  lioL'  s.  378. 
„Nnnqiiam  deorsuni'    Nimmermehr  under  sich: 
In  der  höh  bei  meinem  gott 
Halt  ichs  stet  in  freud  und  spot  s.  40 L 

„Graviora  non  tiniet  amor: 

Dieß  und  noch  vil  mehr  dazu 
Acht  die  lieb  vor  lauter  ruh"  s.  459. 
Ich  gebe  noch   eine   reihe  anderer  stellen,    welche    freie    Übertra- 
gung zeigen. 

I.   teil. 

„Lautam  statim  intulit  coenam,  quam  non  paraverat:  Er  hatte 
alsobald   speiß  und  trank  genug  ohne  koch  und  keller''  s.  ()3. 

„Misit  eum  in  carcerem:  es  half  nichts  dafür,  er  nuißte  fort  ins 
nobishaus"  s.  69. 

„Fortuna  patitur  invidiam,  sagt  dei-  Lateiner  im  spiiiclnvort,  als 
wolt  er  mit  dem  Teutschen  sagen:  das  glück  muss  einen  neidei-  haben: 
oder  mit  dem  poeten  singen: 

Gleichwie  auf  d'  freud  folgt  gwisses  leidt. 
Also  wirdts  glück  mit  haß  verneidt"  s.  79. 

„Tollatur  ergo  e  medio  causa  et  cessabit  elTectus:  So  werf  man 
dann  ein  solch  stinkendes  todten-aaß,  einen  solchen  glüenden  höUen- 
brandt  auß  der  gemain  hinauß  in  ein  kothlachen,  so  wird  das  übel 
aufhören"  s.  223. 

ZEITSi  HK'n^T    F.    DEUTSCHE    rilll.OLOraE.       P.D.    XXIV.  4 


50  ZINGERLE 

„Mortis  inevitabile  fatum 

Aequa  sorte  destinatum 

Mihi,  tibi,  omnibiis. 

Pomp  und  pracht, 

Hoffart  und  macht, 

Gelt  und  gut, 

Freud  und  muth 

Führt  der  todt  ins  grab  am  strick"  s.  267. 

„Natat  in  aquis  et  saltat  in  terris: 

Es  schwimmt  im  wasser  wie  ein  fisch. 
Und  springt  auf  erden  wie  ein  hirsch"  s.  299. 
„Mel  in  ore,  fei  in  corde,  das  ist:  Honig  im  mund,  gall  im  her- 
tzen,  als  wolt  er  sagen: 

Süß  in  Worten  und  conversieren. 

Aber  schau,  thues  hertz  probieren, 

Für  das  hönig  gibt  er  gallen, 

Laß  dir,  freund,  solch  vögl  gfallen"  s.  330. 
„Plus  dare  non  habes,  plus  petere  nequis: 

Mehr  zu  schicken  ist  nit  mein. 

Mehr  begehi-en  ist  nit  dein." 
„Plus  dare  non  habes,  plus  petere  nequeo: 

Mehr  zu  geben  ist  nit  dein. 

Mehr  begehren  ist  nit  mein. 

Nemb  mir  mein  hertz,  gib  mir  das  dein. 

Laß  beede  hertzen  ein  hertz  sein"  s.  391. 

„Nimb  du  mein  hertz,  gib  mir  das  dein. 

Laß  beede  hertzen  ein  hertz  seyn"  H,  19. 
„Tibi  soll:    Dein  allein     Soll  alles  seyn"  s.  393. 
„Dulcis  amor  patriae,    quem  non   bona  patria  mulcet,   saxeus  est 
adamas,  bestia,  nuUus  homo: 

Gleich  dem  vich     Halt  den  icli, 

Härter  als  ein  adamant, 

Wie  ein  stein     Muß  der  sein. 

Der  nit  liebt  sein  vatterlandt"  s.  446. 

n.   teil. 
„Ad  omnia  utilis: 

Alles,  was  kann  nützlich  seyn, 

Hat  der  palmbaum  gantz  allein"  s.  100. 


PKEDIGTLITTEItATUl;    DES    17.    JUS.  51 

„Niiiniiiis  umbra: 

(iottos   wcscii   al)i;t'nialilt 
Zeii;t  <lie  tatel  so  o-ostalt"  s.  144. 
„(j)iii(l   (lico,  iiiinus  dico: 

Was  icli  sag,  ist  alls  nit  i^mig, 
Wer  soll  reden  liior  mit  fui^? 
Aber  was   ralits?  soll   leb   schweigen? 
Gnug'  hier  rechni   kan   nit  seyn, 
Gar  stillsciiweigen   ist  nit  fein'^  s.  179. 
,.Fraeiia  pati   discant  et  (hirnni  qnodqiie  subire: 
Juneti   uiio  pariter  t'oemiiia  virqne  jugo: 
Lelirne  meiden,  lehrne  leiden. 
Der  du  wilst  im  ebestand  seyn, 
Dann  alldorteu  aller  Sorten 
Findest  schmertzen,  creutz  und  pein''  s.  234. 
„Quantum  potes  tantum  aude: 

Mach  es  nur  wies  dir  gefällt. 
Tragt  es  ein,  so  ists  schon  recht. 
Alles  ist  in  dich  gestelt, 
Fi'age  nur  nach  keinem  recht. 
Kanstu  dirs  zu  nutzen  machen, 
Laß  die  weit  darwider  pochen. 
Du  must  trutzen,  du  must  pochen, 
D'  weit  politic  rieht  solch  sachen"  s.  317. 
„Nusquam  honestius  moriar  quam  hie: 

Nirgends  werd  ich  besser  sterben. 
Nirgends  grössers  lob  erwerben"  s.  41ü. 
„0  suavis  sors,  o  bona  mors: 

0  süsses  glück!    o  guter  tod, 
0  schöner  sieg!    o  gnad  von  gott!"   s.  411. 
„Ümnia  amato. 

Nichts  ist  mein.  Alles  sein"  s.  449. 
Unser  prediger  liebt  es,  mit  klassischen  Schriftstellern  zu  prun- 
ken und  seine  kentnis  der  alten  litteratur  mit  historien  und  versen  zu 
zeigen.  Er  wirkte  ja  zur  zeit  der  renaissance,  welcher  der  jüngere 
klerus  mit  besonderer  hebe  huldigte.  Im  „Elenchus  alphabeticus  aucto- 
rum,  quorum  potissimum  opera  in  hoc  de  sanctis  tomo  sum  usus" 
sind  folgende  schriftsteiler  des  altertums  verzeichnete 

1)  Er  macht  die  bemerkung:    „Notes  tarnen  veliiu,  Lector  caiulidissime ,   quod 
iiuUateuus  rae  iactitcm,  quasi  omnes  legissem  ego  propriis  in  opei'ibus,  cum  ob  hbro- 

4* 


52  ZINGERLE 

„Aelianus,  Aristoteles,  Aiilus  Gelliiis,  Herodotus,  Homeriis,  Ho- 
ratius,  Juvenalis,  Liicaniis,  Martialis,  Mela  historicus,  Ovidius  Naso, 
Pausanias,  Plato,  Plautus,  Plinius,  Plinius  junior,  Plutarcbus,  Seneca, 
Solinus,  Siietonius,  Yalerius  Maximiis,  Yirgilius  Maro''. 

Den  aus  lateinischen  dichtem  entlehnten  versen  gibt  er  eine 
gereimte  Übersetzung  oder  Umschreibung  bei.    Ich  gebe  beispiele  davon. 

I.  teil. 
„Virgilius:   Quid  non  mortalia  pectora  cogis 
Auri  Sacra  fames? 
All  hertzen  zwingt. 
All  gmüther  gwint 
Deß  golds  sehr  grosser  hunger, 
Das  gelt  die  weit 
Steiff  gefangen  helt, 

Ist  stärcker  als  der  donner  usw."  s.  108. 
„Quisque  suum  nomen  portabat,  quivis  honorem: 
Ein  jeder  gott  sein  namen  hett, 
Ein  jeder  trug  sein  anibt. 
Was  jeder  zu  verrichten  hett, 
Miecli  (sie!)  ihn  der  weit  bekannt"  s.  173. 
„Audaces  fortuna  juvat  timidosque  repellit: 
Frisch  gezuckt  ist  halb  gefochten. 
Es  fällt  kein  aich 
Vom  ersten  straich"  s.  201. 
„Horat.  I.  epic.  fJ.     Et  genus  et  formam  regina  pecunia  donat. 
Adl,  gstalt,  form,  auch  was  da  liebt  die  weit 
Bringt  bey,  bezahlt  und  gibt  das  gelt"  s.  208. 
Hör.  I,  ode  37.    „Nunc  est  bibendum,  nunc  pede  libero  pulsanda 
tellus  etc.:  Bald  essen,  bald  trinken.     Bald  frölich  Ju  schreyen, 

Bald  hupfen,  bald  springen,     Bald  führen  ein  reyen  etc." 

s.  240. 
„Grandia  concessit  überaus  pondera  mundus: 
Alles,  was  ich  hab  begehrt.     Hat  die  weit  mir  geben: 
Schöne  gaben  hats  beschert,     Darzii  auch  langes  leben"  s.  209. 
„Est  anior  ingratus,  si  non  sit  amator  amatus: 
Lieben  und  nit  geliebt  werden 
Ist  der  gröste  schmertz  auff  erden"  s.  277. 

rum   defectuiii   fei'ine   ordiiiarium   vix    lülus   modoi'uoriun  scriptoriim  hoc  sibi  ari'Ogare 
ausit;  inultos  taiiien  lej^i,  ast  ])hii'ps  ab  aliis  liiuc  iude  citatos  reperi  et  iuserui". 


PK'EIlIOTUTTERATUK    11ES    17.    .IHS.  53 

„Virg-ilius,  (ItH'  Piditur  könii;'.  i\[ille  triihens  varios  opposto  solo 
colores:  Tausend   tarhii;-  liocli£2,'eziehrot 

Braii^'t  am  iiiniinel  au%efiiliret 
In  dem  f;wiilck  der  reji^-enbog'on 
Von  der  sonnen  glantz  ci'zogen"  s.  291  '. 
„Oninia  si   jierdas,  taniani  servai'C  momonto: 
Geht  alls  /u  nTund     Tn  böser  stund, 
Schau,  bhalt  (hnu  clir     Dir  wird  nit  mehr"  s.  303. 
.,(-^,uo  plus  sunt  |)otae,  plus  sitiimtur  aquae: 
Wer  da   vi!   hat,  noch   mehr  beii;ehrt, 
Durchs  trinken  wird  der  durst  vermehrt''  s.  376  u.  378. 
„Facilis  descensus  Averni  etc.: 

Zum  uiidergang'  ist  breit  der  steg, 
Ins  lu'Hlish  feur  ist  baut  der  Aveg"  etc.  s.  403. 
„Post  nubila  phoebus:  Nach  regen  wirds  gern  schön,  oder: 
Es  ist  nun  wahr,     Kunclt,  offen  bahr, 
Auff  trübe  zeit     Folgt  fröligkeit"  s.  410.  411. 

IL  teil. 
„Et  via  sublimis  cnelo  manifesta  sereno  lactea  nomen   habet: 
Am  fii'mamont  ein  weg  sich  weißt 
Von  milch,  schön  über  d'massen, 
Den  potcntaten  allermeist 
Zum  hiramel  zeigt  die  Strassen"  s.  5(3'-^. 

„Diesem  Ludovico  hätte  der  poet  Martialis  wol  mögen  jenen  vers 
vorsingen,  den  er  in  seinem  4.  buch  Epigrammatum  8eptimo  innter- 
lassen:  0  nox  quam  longa  es,  quae  facis  una  senem? 

Wie  lang  bistu,  o  tolle  nacht. 

Die  junge  haar  so  graw  gemacht"  s.  129. 

1)  S.  2'J3  gibt  er  die  reime  über  den  regeubogen: 

„Will  zwar  was  seyn,     Ist  doch  nur  scliein. 
Außwendig  schön,     Inwendig  nichts. 
Verführt  das  aug,     Spott  des  gesichts. 

1j')  Über  die  milchstrasse  sagt  er  s.  55:  „Die  milchstrassen,  von  dem  gemeinen 
manu  aber  Via  sancti  Jacobi:  Sanct  Jacobs  Straße.  S.  56.  Endtlich  fingieren 
die  poeten,  es  sey  via  lactea  dia  Jacobsstrassen  deßwegen  genennt,  weilen  die  himm- 
lische Juno  an  selbigem  ort  Ilerculem  und  Mercurium  die  götter  mit  ihrer  milch 
getränkt  und  solch  schöne  farl)en  hinderlassen.  Andere  aber  als  wie  Ovidius  und 
Maro  sagen:  Es  sey  die  Strassen,  durch  welche  könig  und  kayßer,  fürsten  und  poten- 
taten  gen  himmel  fahi-eu''. 


54  ZINGERLE 

„Foecundi  calices,   quem  non  fecere  disertum?    singt  zwar  Hora- 
tius  Flaccus,  der  Yeniisinische  poet: 

Wer  trimcken  hat  vom  siessen  wein 
Soll  dessen  zimg  ja  bredt  gniig  seyn"  s.  143. 
„Unde?    Tam  subito  corvus,  qui  modo  cygnus  erat: 
Woher?    Ein  schwartzer  rapp  und  jener  mann, 
Der  weisser  war,  als  nie  kein  schwan"  s.  258. 
„Magnum  iter  ascendo,  sed  dat  mihi  gloria  vires, 
Non  juvat  ex  facili  lecta  corona  jugo 
hat  unser  betler  mit  Propertio  dem  poeten  gesungen: 
Kaucher  weeg  steht  noch  bevor, 
Förcht  mir  nit,  der  glory  thor 
Steht  mir  offen,     Das  macht  hoffen, 
Leichter  streit     Verdient  kein  freud"  s.  366. 
„Ovidius   der  poeten  printz  imd  könig   in  seinem  buch   de  arte 
amandi  singt  so: 

Qui  non  vult  fieri  desidiosus,  amet: 
Lieb,  so  wirstu  nimmer  trag. 
Lieb,  so  hastu  gschäfftig  tag"  s.  401. 
Heiter    stimt    folgende    stelle,    bei    der    am    rande    Homer    e.  5 
I(l)iad  steht: 

„Hermenides,    der    berühmt    kunstvoll    trojanische   baumeister, 
wie    Homerus    singet,    ward    also    sehr   von    Minerva,    der   königin, 
geliebt,  dass  sie  ihm  einst  anerbotten,  er  solle  von  ihre  begehren,  was 
er  immer  wolle,  so  werd  ers  erhalten.     Worauff  er  lüstiglich: 
Lingua  ferat  regimen,  supplimat  ipsa  necem: 
Meiner  zungen  gib  die  kraft, 
Ubern  todt,  daß  hab  sie  macht. 
Welches  er  auch  glücklich  erlangt;    Mieche  (sie)    alsobalden  die  prob, 
eilete  zu   dem   verblichenen  todten-cörper  Latoma    seiner   holdschafft, 
(welche  die   eifersüchtige  Jnno  umbs  leben  gebracht),    berührt  selbige 
mit  seiner  zung.     Et  ecce  und  nemmet  wahr!    Jussa  redire  parat: 
Sie  lebt,  steht  auff,  geht  heim  nach  hauß, 
Danckt  ihrem  mann  schön  überauß"  s.  166. 
II,  s.  3  beruft  der  prediger  sich  suf  Diodorus  6.  buch  und  erzählt: 
„Gandericus  der  Wandalische  könig  fragte  einest  bei  einem  panquoth 
oder  mahlzeit  Socraten  den  weltweisen,  was  er  darvon  hielte,  Avem  ein 
monarch,   ein  könig,   ein  kaiser,    ein  obrigkeit  von  füglichsten  zu  ver- 
gleichen wäre?     Auf  welchs  Socrates:  Oculo;  einem  aug." 


rKEDTfiTLITTEHATUR    DES    17.    .IIIS.  50 

An  iüinlichcii  aiiacluduisincn  und  irtümorn  fehlt  es  bei  dvn  cin- 
g-efüg-ten  „historien^^  nicht.  So  liest  man  1,  1.7:  „in  der  weltborühnib- 
ten  insel  Ponto.  in  w(>lelier  Cicero  sein  exiliuni  und  elend  außst(;hon 
niulJte^\  und  I,  419  „Rosiniunda,  könig  Heinrichs  in  Engehindt  ange- 
hende ges])(>ns  und  braut,  wie  Aulus  (iellius  schreibt,  l)rannte  der- 
massen  in  feuriger  liebe  aufV  gegen  ihrem  gemael  könig  Heinrichen, 
daß  sie  sich  nicht  gesclieuet,  aiter  und  giff't  auß  seinen  wunden  mit 
iln-eni  eigenen  mund  herauB  zu  saugen  usw." 

Noch  einige  beisi)iele  dvv  Übertragung  aus  spiltern  lat.  gedichten: 

„Mille  annis  jam  peractis 

Nulla  fides  est  in  pactis, 

Mel  in  ore,  verba  lactis, 

Fei  in  corde,  fraus  in  factis: 

Schon  über  tausent  jähr  man  zehlt, 

Daß  man  kein  glaub  noch  trew  mehr  hält, 

Sieß  wort  im  nuind,  doch  lauter  lug, 

Im  hertzen  gall,  im  w^erck  betrug."  I,  s.  295. 

„0  felicem  sortem 

Talern  occumbere  mortem, 

0  wie  ein  grosses  glück 

Bringt  ein  solch  letster  augenblick"  I,  247. 
„Wer  sollte  da  nit  billig  auffspringen  und  mit  dem  newen  poeten 
weinendt  singen: 

Eheu!  quid  homines  sumus? 

Et  pulvis  et  cinis  et  fumus. 

Unser  leben  kürtzlich  besteht. 

Wie  der  rauch  im  wind  zergeht"  I,  369. 
Dass  hymnen  und  Sequenzen  vom  prediger  benüzt  wurden,    ist 
selbstverständlich.      Jedoch    gebraucht    er    dieselben    seltener,    als    man 
vormutet.     Einige  beispiele: 

„Vagit  infans  inter  arcta  conditus: 

Eingefätscht  in  windelein 

Weint  das  kleine  kindelein"  I,  315. 

„Loquens  magnis  parvulis 

veritatis  jaculis 

aeque  feriebat: 

Allem  z'gleich,  arm  und  reich 

Hat  die  warheit  er  gesagt. 

Niemand  gscheudt,  alle  gmahnt. 

Blibc  immer  unverzagt"  I,  431. 


56 


„Qui  Paraclytus  diceris, 

Doniim  Dei  altissimi, 

Föns  vivus,  ignis,  charitas 

Et  spiritalis  unctio. 

Du  wirst  der  tröster  recht  genant, 

Ein  gab  vom  hohen  himmel  gsandt. 

Du  bist  die  lieb,  der  brunn,  das  feur 

Uns  armen  auff  der  weit  zur  steur"  II,  115. 

„Veni  Creator  Spiritus 

Mentes  tuorum  visita, 

Imple  superna  gratia 

Quae  tu  creasti  pectora: 

Komb  heiiger  geist,  erforscher  der  weit. 

Besuche  die  gmüther,  wies  dir  gefält, 

Erfülle  mit  gnaden  vom  himmel  herab 

Die  hertzen  erschaffen  durch  deine  genad"  II,  122. 

„Mors  est  malis,  vita  bonis. 

Yide  paris  sumptionis 

quam  sit  dispar  exitus: 

Todt  und  leben 

Kan  es  geben 

Beden  eins  zu  gleicher  frist. 

Nutzt  dem  grechten. 

Schadet  dem  schlechten, 

Schaw,  wie  ungleich  dises  ist"  II,  154. 

„Sacra  beato  conjuge, 

Sacratior  e  filia, 

Nepote  sacratissima: 

Heilig  ist  sie  durch  den  mann. 

Höher  bringts  die  tochter  an. 

Das  größte  lob  doch  ihr  entsprießt. 

Weil  Jesus  ihr  enkel  ist"  II,  234.  238.  244. 

„Ave  maris  Stella 

Dei  Mater  alma: 

Sey  gegrüßt,  o  meeresstern. 

Grosse  mutter  unsers  herrn"  s.  271. 

„Ergo  vivit,     Nam  adivit, 
Aeternao  vitae  gaudia: 


TREDIGTLITTEKATUK    DES    17.    .IIIS.  57 

So  lebt  er  (hinn     Der  seelig  mann, 
Weil  gott  ihm  geben     Das  ewig  leben''  II,  3(36. 
Ähnliches  I,  1  H>,     II,  10l>,  149. 
Das  alte  kirehenlied: 

„Christ  ist  erstanden 

Von  seiner  inarter  alle 
Deß  sollen  wir  alle  froh  seyn, 

Christus  will   unser  trost  seyn.     Alleluia" 
l)il(let  den  schluss  der  osterpredigt.      II,  s.  H7. 

Einigemal  wird   ein  doutselier  poet  angeführt,  /..  b.:    ,Jch  aber 
beschließ  es  mit  dem  teutschen  poeten,  sag  und  sing  dir  also: 
Mein  rath  will  ich  dir  geben, 
Bitt,  sey  mir  nit  entgegen. 
Lieb  gott  mehr,  als  die  weit. 
Das  bringt  allhier  die  grösto  freud 
Und  dort  die  ewig  seeligkeit: 
Laß  die  weit  fahren 
Bey  deinen  jähren''  I,  27 L 
„Du  bist  anß  jener  leuthen  zahl,    von  welchen   der  teutsche  poet 
singt:  Yiel  schmeichlen  und  liebkosen, 

Sie  reden  zucker  und  rosen, 

Seynd  unter  äugen  gut, 
Beynebens  ist  ihr  hertz  ein  schalck, 
Gefüttert  mit  dem  katzenbalck. 
So  vorneu  freundlich  lecken 
Und  binden  hecken"  I,  297. 

„Was  der  teutsche  poet  singt: 

Wir  streben  auff  der  Avelt 

Nach  vilem  gut  und  gelt, 

Und  wann  wir  solches  erwerben 

So  legen  wir  uns  nieder  und  sterben"  1,  373. 
Der  schlussvers  lautet  I,  375: 

,,So  fallen  wii-  nieder  und  sterben". 
„Lingua  Deorum!     Das  ist   die   zungen   der  götter!    oder   wie   es 
der  teutsche  poet  vertiert: 

Weil  die  himmel  uns  betrohen, 

Ghorchen  wir  gar  gern  all. 

Diese  stimmen  seynd  vom  hohen 

Unser  götter  zorn  —  schall"  II,  173  — 175. 


58  ZINGERLE 

„Auf  gott  und  unser  liebe  frawen 

Steht  all  meine  hofthung  und  vertrawen: 
singt  der  einfeltige  teutsche  poet"  II,  s.  269. 

„0  schöne  gottes  hand, 

Wie  bist  allhier  zu  land 

So  schmerzlich  zu  gedulden, 

Ach,  wie  muß  man  so  theur 

In  diesem  strengen  feur 

Bezahlen  alle  schulden"  II,  s.  375, 
wobei  am  rande  steht:  „Der  teutsche  poet  in  einem  bekannten  gesang". 
„Die  viertzigste  predig.    Am  vierzehenden  sontag  nach  pfingsten" 
I,  362 — -67  schliesst  mit  den  reimen: 

„Mein  rath  will  ich  dir  geben, 

Bitt,  sey  mir  nie  entgegen: 

Lieb  gott  mehr  als  das  gelt, 

Das  bringt  allhier  grosse  freud 

Und  dort  dir  ewig  seeligkeit. 

Laß  gelt  und  gut  fahren 

Bey  deinen  jähren.     Amen", 
diawol  dem  prediger  angehören.  —    Die  reime: 

„Yor  geübt     Macht  beliebt"  I,  436 

und:         vJuiig  "^011  jähren     Schön  von  hären, 

Schmal  von  landen.     Weiß  von  bänden  usw."  I,  437 
sind  vermutlich  entlehnt. 

Den  alten  spruch:  „Trink  und  iß   Gott  nicht  vergiß",  ändert  er  in: 
Trink  und  iß     Gott  vergiß. 
Verschwitz  deine  ehr     Dir  wird  nicht  mehr" 
um  das  lateinische:  „Ede,  bibe,  lüde,  post  mortem  nulla  voluptas"  zu 
geben. 

ObAvol  Brinzing  die  meisten  seiner  historien  und  exempel  der 
bibel  oder  der  mythe,  legende  und  geschichte  entlehnt,  so  bringt  er 
auch  volkstümliche  anekdoten  und  orzählungen  bei.  So  z.  b.  II,  s.  83 
die  bekante  geschichte  von  einem  besoffenen  bauern,  die  man  in 
,„G.  Görres  und  Fr.  Pocci's  festkalender "  in  versen  findet.  Am  rande 
steht:  „Ein  schöner  schimpf  von  einem  vollen  bauern",  im  register: 
„Philippus  mit  dem  zunamen  Bonus  stelte  einst  einen  lächerlichen 
bossen  mit  einem  bezechten  bauern  an.  NB.  ist  ein  gutes  ostermährl. 
Historia  lepidissima."  Ich  gebe  dies  exempel  volständig  zur  probe: 
Philippus,   mit  dem  zunamen  Bonus,    der  gute,    königliche  gubernator 


riiKDlGTLlTTEKATCK    DES     17.    .IIIS.  59 

ul)cr  die  s|);mis<'lii'  Xidci-hind ,  der  hat  ciiiost  (.'inen  lächerlich-  doch 
driikwiii'dii^cii  schiinpIT  anucstclll.  Ks  fände  di(>ser  hertzoi;-,  als  er  (üiis- 
mals  hey  srhoii  anbrecheiider  nacht  heiiiib  iiacher  holT  fahren  woltc, 
anfV  der  elfeniMi  Strassen  dort  lii;'en  einen  toll,  [)litz,  |)lat/,,  sternvollon 
l)anr(M),  \veK'lier  mehr  ttxlt  als  lebendig-  /n  seyn  schine,  wo  ihn  nit 
(laß  helle  scdniai'chen  noch  eniptindtlieh  zu  sein  veri'athen  hette:  volu- 
tatns  in  luto  ae  serdibns,  (juas  \(»inuerat:  sag'en  die  autheres:  (>r  sey 
in  d()[)])leteni  koth  und  nin'ath  ^■eleij;-en,  theils  in  jenem,  so  die  i^-asson 
von  sieh  hiitte,  theils  in  dem,  so  er  Selbsten  i^-omacht.  Dison  nun 
b(>filcht  der  fürst,  solle  man  als])ald  auffheben,  in  ein  caroschen  wcrf- 
W'n,  und  mit  nacher  hotf  biüiii^-en:  dictum  factum:  was  der  herzog 
befohlen,  das  wui'd  gehoi'sani liehst  vollzogen,  usw.  Der  gut  toll-  und 
volle  Hensa,  kam  nun  nacher  hoff,  wie  der  Pilatus  ins  credo,  wußte 
aber  so  wenig  von  sich  seibsten,  als  ein  stock  aufl"  der  gassen,  man 
müßt  ihn  aus  der  gutschen  hellen,  ihre  vier  die  stiegen  hinautf  tragen, 
und  wäre  vonnothen  gewesen,  man  liätt  darzu  gesungen: 
8chau  Hensa  schau! 
Bist  du  nit  ein  sau? 
Da  trägt  man  (Tsau  die  stiegen  auf!', 
Wers  sehen  will,  der  schnauff  und  laufl': 
Schau  Hensa  schau. 
So  bald  nun  dises  newe  hoffschwein  (sit  venia  verbo),  hal)  wollen  sagen, 
diser  noAve  hoff'junker,  doch  seiner  selbst  unwissendt,  in  das  zimmer 
gebracht,  Avürd  er  auß  befelch  des  hertzogs  außgezogen,  säuberlich 
gereingt,  auff  hochspaniscii,  mit  einem  stolzen  knöbelhart  barbiert, 
und  also  in  dem  allerscht'inst-  und  kostbahrlichsten  zimmer  deß  gantzen 
pallasts,  in  das  herrlichste  beth  einlogiert.  Es  hat  diser  gute  höffling 
nit  vil  wiegens,  noch  zu  singen  gebraucht,  dann,  somno  vinoque  sepul- 
tus,  er  schliefe  so  numter  uund  schnarchte  so  holdseelig,  daß  es 
schine,  auß  der  hoö'haltung  war  giUiling  ein  rauschendto  schneidtmühl 
worden.  Jetz  hört  wunder!  Zu  morgens  nit  gar  früh,  sonderen  in  dem 
die  schöne  sonn  schon  wol  einen  zimlichen  zirkel  ihres  creises  abge- 
messen, und  unser  newer  hoif-cavalier  den  rausch  allgemach  außge- 
schlafi'en,  da  erwacht  er  endlich,  sieht  hin  und  wider,  verkehrt  die 
äugen,  als  wie  ein  kalb  im  stattelbogen,  verwundert  sich  nit  wenig, 
daß  sein,  sonst  so  harter  strohsack,  in  ein  so  weiches  federbeth  ver- 
wandlet; greift  auff  den  köpft',  und  ziecht  herab  ein  ülu'rauß  kostbahre, 
mit  gold  und  perlein  gestickte  schlaö'hauben ,  trähts  in  den  liäuden 
oft'termahls  herumb,  Jean  den  handel  nit  genugsamb  fassen,  setzt  doch 
wider  auff',  und  fragt  sich  seibsten  voller  frewden:  sumne  ego  vel  alius? 


60  ZINGERLE 

bin  ichs,  oder  bin  ichs  nit?  die  kunstvoll-  und  überkostbahre  vorhäng 
an  dem  betli,  der  gantz  pur  vergulte  himrael  der  bethladen,  die  schön 
planiert  nnd  kunstlich  außgemachte  stöhlen  und  säulen  machen  ihn 
allgemach  glauben,  er  sey  einmal  kein  baiu*  mehr,  sonderen  entweders 
in  die  zahl  der  götter  mit  der  Minerva  verzuckt,  oder  in  einen  könig, 
wie  Diomedes ,  verwandlet.  Endtlich  springt  er  voller  frewden  auß  dem 
beth,  siebet  noch  mehr  schönes  an  den  tapezereyen,  schillereyen ,  ge- 
mählten  usw.  ünder  andern  aber  einen  Spiegel,  der  das  gantze  zimmer 
gleichsamb  in  einem  epylogo  oder  kurtzen  begriff  kunstlich  repraesen- 
tierte:  vor  disem  stund  nun  unser  Gouemier  mit  so  begihrigen  äugen, 
daß  er  schine  gar  verzuckt  zu  seyn.  Nichts  aber  auß  allem,  was  er 
darinn  gesehen,  gefiele  ihm  besser,  als  sein  spaunischer  hart,  schrye 
deßwegen  nimmer  zweifflendt,  sonderen  voll  deß  glaubens  auft:  Mein 
aydt  ich  bins.  Ja  du  bists,  aber -was?  der  alt  bauren  Hensa,  und 
sonst  gar  nichts.  Indessen,  ex  condicto  &  jussu  principis,  lieffen  der 
diener,  der  laqueien,  der  bagi,  der  edelknaben,  der  hoffjünkeren  so  vil 
zu,  daß  das  zimmer  angefüllt  wurde;  einer  brachte  pantofel,  der  ander 
hosen  und  wammes,  der  dritte  kragen  und  handdezel,  der  vierdte  etwas 
anders;  warteten  dem  frembden  printzen  nit  änderst  auff,  als  war  er 
ihr  natürlicher  herr  und  fürst:  Aller  aber  reden  und  anbringen  war 
insgemein:  sie  erfrewen  sich  hertzlich,  daß  ihro  durchl(aucht)  die  ver- 
strichene nacht  so  süeß  geruhet  und  so  glücklich  passiert  hette. 

Nach  disem  allem,  in  dem  er  angekleydt,  der  regierung  nun 
würklich  sich  undernommen,  sagt  Archimedes  Christianus:  so  hab  er 
sich  also  maisterlich  in  den  handel  geschickt,  daß  mäuiglich  hett  glau- 
ben sollen,  er  wäre  ein  gebohrner  printz:  tot  felicitatibus  beatus,  tot 
honoribus  affectus,  in  aulä  se  habuit,  non  ut  rusticus,  sed  ut  heros 
herum,  ut  eorum  princeps:  dann  durch  so  vil  gluckseeligkeiten  groß 
gemacht,  und  durch  so  vil  ehreutbietungen  angefrischt  hat  er  sich  zu 
hoff  nit  als  ein  baur,  sonderen  als  ein  fürst  eingefunden:  bey  der  taf- 
fei, nach  der  taflfel,  under  tags,  ja  die  gantze  zeit  seine  grandeza  also 
spaunisch  spendieret,  daß  er  bey  sich  selbsten ,  und  alle,  so  deß  spüs 
unwissendt,  vermeynt,  ja  geschworn  hätten,  hie  est:  der  ists:  allein 
mit  anbrechendem  abeudt,  under  wehrendten  nachtessen  name  auch  sein 
regiment  ein  endt:  dann  der  hertzog  Philippus  in  persohn,  als  andere 
cavalier,  so  schon  darzu  underrichtet  waren,  deckten  den  guten  bau- 
ren, so  der  zeit  einen  regenten,  wenigsts  bey  sich  selbsten  und  seiner 
einbildung  nach  vertretten,  also  mit  trinken  in  dem  allerkostbähristen 
Avein  zu,  daß  er,  wie  deß  anderen  tags,  abermal  plitz,  platz,  stern  voll 
worden,  in  jenes  orth,   wo  er  gestern  gefunden,  mit  seinen  alten  bau- 


PRKDIGTT.ITTEHATTIR    DES    17.    .7HS.  61 

1011  kicxdcrcii  i;('tr;ij;(Mi,  in  (l<'in  kotli  \(H-liel)  iicliiucn  inürßte,  usw. 
Dil  lictt  (hiiiii  {\i'y  spnl^  ein  ciul,  das  regimcnt  ,>;\vanii  ein  loch,  der 
hol!"  war  voller  laclicns,  und  <l('i-  t;iito  l)aiir  wußte  ait  wie  vil  es 
ü,eschliii;vn,  usw.  Die  cinhilduiii;'  allein  von  seiner  i^-eweseuon  gluck- 
seeliii'keit  blibo  noch  in  der  ineinori,  wie  er  aber  dar/u  und  darvon 
kunnncn,   wußte  er  weniger,  als  der  esel   von   der  lauten. 

Unter  di^n  vielen  histurien  und  fabeln,  di<'  nicht  fremd  sind  oder 
verbreitet  waren,  kann  ich  nur  folgende  nennen:  Historia  faceta  oder 
liicherliche  geschieht  von  einem  doctor  medii-inae  mit  siiiuem  gumpeten 
niaulesel   1,   löl.  Histori   von    dreien    Studenten   und  einem   teufel, 

weicher  ihren  diener  vertreten  1,  162.  —  Lustige  histori  von  einem 
Schalksnarren  und  seinem  glückshafen  auf  dem  reichstag  zu  Regensburg 
1,  19(3;  im  zweiten  teile:  die  weitverbreitete  legende,  wie  eine  kloster- 
juugfrau  sich  die  schönen  äugen  ausgestochen  habe,  um  einen  in  sie 
verliebten  Jüngling  von  böser  liebe  zu  heilen  I,  s.  300,  die  bekante 
legende  von  Theophilus  11,  s.  205,  der  eine  ähnliche  legende  von  einem 
Jüngling  in  Kegensburg  folgt  s.  205.  Von  Skanderbegs  säbel,  der  so 
gut,  dass  er  einen  geharnischten  mann  entzwT^ien  kihmen  s.  170. 

Unser  prediger  greift  aber  auch  zu  fabeln,  um  Sittenlehren  zu 
geben,  so  z.  b.  „Fabel  vom  kranken  löwen,  ehrabschneiderischem  wolf 
und  dem  lustigen  fuchs"  I,  205.  „Fabel  vom  löwen,  baren,  wolf  und 
fucthsen,  wie  der  fuchs  sich  hr>fflich  entschuldigt,  daß  er  nit  in  deß 
Itiwen  holen  möchte"  I,  859.  ,, Fabel  abermahlen  vom  löwen,  büreMi 
und  fuchsen,  Avie  sie  mit  einander  auf  die  jagt  gezogen  und  den  raub 
geteilt  haben"  I,  393. 

Für  kulturgeschichte,  alte  brauche  gibt  der  prcnliger  auch  einige 
beitrage.  So  berichtet  er  über  das  „  bliudeniausen "  (blinde  kuh)  fol- 
gendes: „Das  blindemausen  macht  mir  den  eingang!  wer  es  nicht  kann, 
den  will  ich  es  lehren;  merkt  wol  auf:  beim  blindemausen,  welches 
die  kinder,  die  buben,  die  niägdlein,  die  Jugend  vor  all  anderer  kurtz- 
weil  gern  treibt  und  oft  spilt,  da  linden  sich  ein  dreierlei  Sorten  der 
leut  und  persohnen.  Erstlich  sein  die  zuseher,  Avelche  da  nit  mit  spi- 
lon,  doch  aber  kurtzweil  halber  dem  spil  gegenwärtig  seynd  und  zu 
schawen:  hernacher  ist  der  jenig,  weicher  den  blinden  führt  und  mit 
verbundenen  äugen  suchen  muß;  und  letstlich  seyn  die,  welche  in  das 
spil  gehören,  mit  machen,  sich  verbergen  und  suchen  lassen.  Wann 
nun  der  gute  tropf,  welcher  zum  suchen  verdampf  ist  worden,  sein 
ambt  zu  verrichten  allgemach  anlangt,  hin  und  wider  mit  blind  ver- 
l)undenen  äugen  und  außgespanten  armben  seine  mitspiler  suchet,  so 
muß  er  sich  in  der  warheit   nur   zui'   gedult   richten,    des  zupfens,    des 


62 


rupfens,    des  vexierens,    des  verlachens,    des   anfübrens    ist   kein   end; 
bald   ertapt   ibn   einer  beim   armb,    ein   anderer  beim  haar,    der  dritte 
beim  küttel,  der  viert  beim  fuß,   der  fünft  oder  sechste  anderstwo  und 
muß  sich  also  nur  darein  schicken,  biß  er  einen  erwischt;    under  des- 
sen aber  hat  er  vil  gefahren  und   elend  zu  gewarten,    er  stoßt  als  ein 
blinder  binden  und  vornen  an,    er  lauft  an  stül  und  bänk,   an  tisch 
und  Öfen,    an  mauren   und  wand,   ja  büeßt  so  oft  ein,    daß  ihme  das 
suchen  verlaiden   möchte,    doch   hilft  nichts   darfür,    so  lang   und  viel 
muß  er  der  sucher  seyn,    biß   er  endlich    einen   ertapt,    an   sein    stell 
brino-et  und  erlößt.     Und  was  noch   das  ärgist  und  elendest  ist,    weil 
nit  alle  im  spil,    die  gegenwärtig,    sondern  theils  leut  auch  nur  Spec- 
tatores  und  zuseher  seynd,  so  bekommt  der  blinde  tropf  oftermals  den 
unrechten,  ergreift  einen,  der  nur  zusieht  und  nit  mitmacht,  vermeint 
der  handel  seye  gewonnen,    hebt  ihn   freudig   stark,    thut    die   larven 
eilends  herunder,  aber  spürt  erst  am  end,  wann  er  die  äugen  aufthut, 
daß  es  gefählt  ist;  da  lachen  ihn  alsdann  auß  seine  gesellen  und  gespi- 
len,    seine  mit-consorten   und  zuseher,    mit   einem  wort,    er  wird    zu 
schänden,    muß  den  spott  zum  schaden  haben   und  entweders  auf  ein 
newes  vorthun  und  wider  anfangen  oder  aber  gar  vom  spil  ausgeschlos- 
sen seyn  und   hinder  den   ofen  schlieffen.     Dieß  ist  und  heißt  blinde- 
mausen,    ist  also  in  diesem  spil  nit  alles  gold,    was  glantzet,    nit  alles 
aigen,  was  man  erhascht,  nit  alles  gewinn,  was  man  fangt".  I,  167.  68 1. 
Auf  den  totentanz  beziehen  sich  I,  374,  375  die  stellen: 
„Du  gehest  aus  oder  ein. 
So  steht  der  tod  und  wartet  dein". 
„So  komt  der  tod  und  heisst:  Vade  mecuni: 
S'ist  auß  mit  dir, 
Komb  her  mit  mir. 
Leg  ab  den  crantz 
Zum  todtentanz". 
In  der  ersten  predigt    des  zweiten  teiles    bespricht  er  neujahrs- 
wünsche  und  geschenke  und  weist  diese  sitte  schon  bei  den  alten  Rö- 
mern und  Cretensern  nach.    S.  2.     Ausführlicher  spricht  er  s.  222  fgg. 
über    das    gesundheittrinken.      (Am    rande    steht:    „Vor   alter  hat  man 
auch  schon  dapfer  gsundheit  trunken"    und  er  beruft  sich  auf  den  h. 
Basilius,  den  hönigflüssenden  kirchenlehrer  Ambrosius  und  Augustinus 

1)  In  ähnliclier  weise  beschreibt  P.  Conrad  vou  Salzburg  das  bliudemauseu 
in  einer  predigt:  Fidus  salutis  monitor  (Salzbui'g  1083)  s.  120.  Icli  habe  die  stelle 
in  meiner  schrift:  Das  dentsclie  kindersi)iol  im  mitt<dalter  (Tnnsbruck  1873)  s.  44 
mitgeteilt. 


rRKDUn'MTTF.RATl'H    HES    17.    .TKS.  63 

den  ii'i'ossoii),  wie  iib(>r  die  I  u  ftniMsfcr.  Xiclit  alle  vci'stossonc  eng(d 
sind  in  di'i  \u>\\.  soiidcni  deren  \il  sind  hei  nns  in  d<'r  well,  in  dein 
Infi"  nsw.  I,  S').  S(».  Aneh  iilter  die  Sai;  i  tta  ri  i ,  die  pt'eiiscliützen, 
die  mit  hüte  des  tent'els  InnseliieKeii  nnd  den  eidt'ernfsten  verwunden, 
maeld  er  ^rt'issere  mitteiluniz,'  II,  l.')7.  Es  sind  dies  die  s(»i;eu;inteu 
„treisein'itzen". 

IJei  (\('v  so  hiiuti^'en  vorfiihrnnt;'  von  ansspi'ü(dien  der  apostel, 
kirelienviiter  und  dichter  nsw.  hisst  er  es  an  riiinnliehen  ej)itheta, 
(h'i'  antoren  nicht  fehlen,  /,.  I).  „Der  weltpivdi^-ei-  l'aulns"  11,  1, 
,,l)er  ti'i'osse  welt|)ic(lii;'ei'  l'auius''  il,  ',V.V,i.  „  i\lath;ins,  der  joeheime 
seci'etai'ius  (h'r  adei-heiHi^sten  dreifaltii^-keif'  I,  "201.  „Der  hr)nigflie- 
Mende  Anihi'osins"  1,  LJ79.  „Der  Iir)nigflieli5en(h'  Dernardus"  II,  74. 
,.Daniel  (h>r  (JohltVoninie''  I,  4'J7.  Auch  die  heidnisclien  schriftsteHer 
nent  er  niciit  blind,  sondern  gibt  ilnien  ehrende  bezeichnungen,  z.  b. 
„Der  römische  wolrednei'  Cicero",  II,  1.  „Der  weise  Seneca''  II,  'JO. 
„Ovidius  der  poeten  printz  nnd  JcTuiig"  II,  401.  „Der  bei-idimte  poet 
nnd  gewaltige  reimendichtei'  Martialis''  I,  191  usw.  Esopns  nent  er 
aber  den   „wunderbarlichen  Eabelhans"   I,   7(S. 

Ein  frisclies  leben  gewinnen  diese  predigten  durch  die  anreden 
an  die  zuliörer,  mit  (h'nen  er  manclunal  gespräche  führt.  Die  gewöhn- 
lichen formein  sind:  „Werthiste  zuhörer'',  „Andächtige  zuliörer'',  „Liel)- 
ste  Zuhörer",  „Herzliebste  zuhörer",  „Andächtige,  außerwählte,  aller- 
liebste Zuhörer",  „Außerwöhlte,  andächtige  Christen,  allerliebste  zuhöirer", 
„Andächtige  briider  und  Schwestern",  „Andächtige  hertzen",  „Außer- 
wehlte  hertzen",  Allerliebste  hertzen".  Eine  stehende  forinel  ist  „Ewre 
liel)  nnd  andacht".  Oft  benent  er  aber  auch  seine  zuliörer  „sünder". 
„Hast  du  es  gehört,  mein  sünder?"  I,  7.  11.  „Da  merkt  auf,  ihr  Sün- 
der und  Sünderin,  da  spitzt  ewere  obren,  ihr  kinder  der  weit"  I,  23, 
vgl.  I,  41.  67.  70.  Er  wendet  sich  aber  nicht  nur  an  seine  zuhörer, 
sondern  in  apostrophen  an  heilige  und  andere  personen,  z.  b.  „Holla, 
weiser  Salomon,  ein  andere  gleichnuli  her!''  I,  279.  „Pfui  dich,  Da- 
vid!" I,  317.  „Aber  holla,  Pilate,  gemach  an,  gemach  an,  wo  liinauß?" 
I,  432. 

Zum  Schlüsse  noch  eine  probe:  „Bey  den  durstigen  zech-  und 
Saufbrüdern  ist  ein  algemeines  spricliwort,  welches  also  lautet:  Anse- 
rum  convivia  sunt  gratiora,  das  ist:  Mit  den  gänsen  ist  es  gut  essen; 
wollen  sagen:  gleichwie  die  gäns  auf  faiste  waiden,  langes  gras,  gutes 
fueter  und  grüne  beiden  nit  lieben,  achten  noch  verlangen,  es  sey  denn 
darbey  ein  nasse  pfütz,  kühler  bronnen  oder  wasserstrom,  in  welchem 
sie  ihre  durstige  zungen  zum  ofterinahlen  befeuchtigen,   al)k üblen,  ein- 


64  GOLTHER 

netzen  und  laben  können;  also  und  auf  gleiche  weis  lieben  sie  die- 
jenige tisch,  häuser,  mahlzeiten,  bruderschaft  und  Zusammenkünften 
am  eifrigsten,  wa  der  weihbronner  hier  oder  wein  ist;  wa  der  geseng 
gott  herr  wirth  ist,  wa  der  schenk  ein  Juncker  keller  ist,  und  Ava  der 
trinkauß  Jungfrau  köchin  ist.  Mit  einem  woi't  sagen  die  saufbrüder, 
da  ist  es  gut  gast  seyn,  wo  das  tranks  ein  mühlrad  treibt,  wa  der 
trukne  tisch  abgeschafft  ist,  wa  der  gläser  und  kannen  so  vil  auf 
der  tafel,  als  stund  im  sommerlangen  tag"  I,  150. 

GUFmATJK.  IGNAZ    ZINGERLE. 


KONEAD  HOFMANN. 

Am  30.  September  1890  starb  iii  Waging  bei  Trai;nstein,  wo  er  sich  ia  den 
sommerferieu  zur  erholung  aufzuhalten  pflegte,  K.  Hofmaun,  professor  für  altdeut- 
sche und  altromanische  spräche  an  der  Münchener  hochschule. 

Alberich  Konrad  Hofmann  war  geboren  am  14.  november  1819  in  der  ober- 
fräuMschen  Benediktiner  -  abtei  Banz  in  der  nähe  von  Bamberg.  Sein  vater  war  her- 
zoglicher rentamtmann  daselbst.  In  Banz  inmitten  einer  schönen  natur  verlebte  er 
seine  kinderjahi-e.  In  Bamberg  durchlief  er  die  6  klassen  der  dortigen  vorbereitungs- 
schule  in  drei  jähren  und  wurde  1830  ins  gymnasium  aufgenommen,  das  er  1837 
absolvierte.  Hofmann  bezog  zunächst  die  Münchener  Universität,  ohne  sich  über  die 
wähl  seines  künftigen  lebensberufes  völlig  klar  zu  sein.  Von  1837  —  43  hörte  er 
philosophische,  medicinische,  endlich  philologische  Vorlesungen.  Durch  Massmanu 
imd  Schmeller  erhielt  er  die  ersten  anregungen  für  die  germanische  philologie.  Nach- 
dem er  sich  endgiltig  zum  Studium  der  philologie  entschlossen  hatte,  besuchte  er 
Erlangen,  Leipzig  und  Berlin.  Er  trieb  namentlich  orientalia,  sanskrit,  zend,  ara- 
bisch und  palaeographie.  Am  29.  Januar  1848  promovierte  er  in  Leipzig  mit  einer 
abhandlung  über  eine  upanishad;  die  dissertation  wurde  aber  nicht  gedruckt. 

Im  jahi'e  1850  —  51  hielt  er  sich  in  Paris  auf.  Die  französische  reise  übte 
eine  nachhaltige  wh'kung  auf  seinen  ferneren  studiengang  aus,  indem  er  hier  zum 
ersten  mal  dem  romanischen  nahe  geführt  wurde.  Auf  den  bibliotheken  lernte  er 
das  französische  mittelalter  direkt  aus  den  (quellen  kennen,  von  denen  er  eine  grosse 
anzahl  in  eigenhändigen  abschritten  besass.  Er  kehrte  nunmehr  wider  nach  München 
zurück.  Schmeller  nahm  sich  seiner  an  und  gewann  ihn  für  die  universitätslaufliahn. 
Noch  wähi'end  seiner  aktlvität  schlug  ihn  Schmeller  der  fakultät  als  nachfolger  vor,  indem 
er  selber  von  seiner  professur  zurücktreten  wolte  (vgl.  J.  Nicklas,  Schmollers  leben 
und  wirken  s.  163  fg.).  Der  tod  SchmeUers  am  27.  juli  1852  erledigte  die  stelle 
rascher,  als  aUe  beteihgten  es  gedacht.  1853  wurde  Hofmann  ao.  professor  an  der 
imiversität;  1853/54  war  er  zugleich  als  praktikant  an  der  hof-  imd  Staatsbibliothek 
tätig  und  benüzte  diese  zeit  dazu,  den  von  Schmeller  so  musterhaft  geordneten  hand- 
schriftenschatz ,  vornehmlich  den  deutschen  teil  dui'chzuarbeiteu.  1853  wurde  er 
auch  ao.  mitglied  der  akademie  der  Wissenschaften  zu  München.  1856  erfolgte  seine 
ernennung  zum  ordentlichen  professor,  1859  zum  ordentlichen  mitglied  der  akademie. 
1857,    1858,    1859  machte   er  mit  königlicher  Unterstützung  wissenschaftliche  reisen 


KOXRAD    HOFMANN  65 

nach  Paris,  London.  Oxford,  St.  Ciallcn  und  liorn.  nni  Studien  auf  doni  i;-el)ii'to  der 
gennanisflion  und  romanischen  spraclien  anzustellen  (vgl.  (j(^lehrte  anzeigen  der  k. 
bayer.  ak.  d.  wiss.  bd.  r)0,  ISüO.  nr.  43  —  4G).  In  seinen  vorlosungeu  uinfassto  er 
anfangs  ein  sehr  weites  gebiet,  indem  er  neben  romanisch  und  germanisch  bis  J.SG4 
auch  iibiM'  sanskrit  und  pahK^ographie  vortrug.  Am  lü.  Oktober  1860  wurde  er  ofli- 
ciell  nelten  dem  altdcutsclien  auch  mit  der  vm'tretung  des  altromanischen  an  der 
^Iihichener  hochschule  betraut.  ]5is  zum  Schlüsse  des  lezten  sommer.scnK-sters  hielt 
er  collegicni,  und  zwar  jjllegte  er  meistens  im  Semester  zwei  grosse  vierstündige  und 
zwei  kleine,  zwei-  oder  einstündige  Vorlesungen  aus  beiden  gebieten  zu  halten.  iSTl 
war  er  zum  mitglied  der  königl.  dänischen  altcrtumsgeselschaft  eriiant  ■woi'den. 

Aus  llofmanns  privatleben  ist  mitzuteilen,  dass  er  sich  ]S.")3  zu?n  ersten  male 
v(M'mähIte  mit  Mario  K'rause.  der  tochter  des  philosoi)hcn  Krause.  Siciben  kinder 
entsprangen  dieser  ehe,  drei  von  ihnen  giengen  dem  vater  im  todc  voran.  1884 
gieug  Holmanu  eine  zweite  eh(^  ein. 

ITofmann  cntfaltet(>  namentlich  in  der  ersten  zeit  seiner  akadenüscben  laufbahn 
eine  rege  schriftstellerische  tätigkeit.  Von  seinen  toxtausgaben  sind  zu  nennen  Amis 
et  Amiles  und  .Tourdain  di'  Blaivies  18.')2;  2.  aufl.  1882;  <'iirai-tz  de  Txossilho  ISöf)  — 
1857;  Primavera  y  tlor  de  romances  1856  (mit  Ferd.  Wolf  zusammen);  .Toufrois  1880 
(mit  Munckerl;  xrnvollendot  blielien  eine  ausgäbe  der  (,'hanson  de  Roland  nach  der 
Oxforder  und  Yenediger  handschrift  und  Karls  des  grossen  pilgerfahrt  anglonormän- 
nisch.  kimrisch  und  englisch,  beide  im  vorlag  der  k.  bayer.  ak.  d.  wiss.  1866,  aber 
nicht  im  liuchhaudel  ausgegeben.  Von  deutschen  texten  fülire  ich  au  das  Hildebrands- 
liei]  18.")0  (mit  Vollmer);  Lutwins  Adam  und  Eva  1881  (mit  Wilh.  Meyer);  unvollen- 
det wider  Reinaert  de  Vos  nach  der  Brüsseler  und  Comburger  handschi-ift.  Zahl- 
reiche textkritische  und  litterarhistorische  aufsätze  veröffentlichte  Hofmann  in  den 
Abhandlungen  und  Sitzungsberichten  der  Münehener  akademio;  in  den  Denkschriften 
erschienen  Giüllaume  d'Orenge  (abh.  VI.  3.  18.ö2);  ein  katalan.  tiere]ios  von  Ramon 
Lull  (abh.  XII.  3.  1871);  Zur  textkritik  der  Nibelungen  (abh.  XIII;  1,  1872);  Die 
altburguudische  übersetzimg  der  predigton  Gregors  über  Ezechiel  (abh.  XVI,  ],  1881). 
i'ber  Schmeller  hielt  er  1885  eine  rede,  welche  in  den  Denkschriften  der  akademie 
vom  selben  Jahrgang  veröffentlicht  ist.  Schon  früher  hatte  er  in  den  rielehrteu  anzei- 
gen der  akademie  bd.  40,  1855  nr.  14  — 16  über  des  sei.  Schmeller  amtliche  tätigkeit 
an  der  k.  Staatsbibliothek,  und  nr.  33  ülier  Schmellers  litterarischen  nachlass  bericli- 
tet.  Von  Schriften  Hofmanns,  welche  der  geschichte,  nicht  der  philelogie  im  engeren 
sinne  zufallen,  nenne  ich  <^?uellen  zur  geschichte  Friedrichs  des  siegreichen,  bd.  I 
Matthias  von  Kemnat  und  Eikhart  Artzt;  b.  II  Beheim  und  Eikhart  Ai-tzt,  erschienen 
in  den  Quellen  und  erörterungen  zur  bayer.  und  deutschen  geschichte  II  u.  HI  1862 
und  1863;  dann  das  Spruchgedicht  des  Hans  Schneider  über  Ulrich  Schwarz  von 
Augsburg  in  den  Sitzungsberichten  der  akad.  1870  I.  Nelien  diesen  grösseren  arbei- 
ten, deren  blosser  titel  ohne  weiteren  kommentar  bereits  wol  ein  genügend  deutliches 
liild  von  Hofmanns  Vielseitigkeit  und  weitumfassenden  Studien  gibt,  laufen  noch  viele 
kleinere  artikel  her,  die  in  den  Gelehrten  anzeigen  und  Sitzungsbei'icliten  der  akade- 
mie, in  VoUmoellers  Roman,  forschungen,  in  der  Zeitschiift  für  deutsches  altertum 
usw.  A'eröffentlicht  wurden.  Ein  Verzeichnis  dieser  oft  sehr  wertvollen  schritten  findet 
sich  im  Almanach  der  königl.  bayer.  akad.  d.  wiss.  für  das  jähr  1884  s.  192  fgg. 
Bemerkenswert  ist  noch  Hofmanns  rede  über  die  gründung  der  Wissenschaft  altdeut- 
scher spräche  und  litteratiu",  erschienen  im  vorlag  dm-  akad.  1857. 

ZKITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIP:.       RP.    XXIV.  5 


66  OOLTHKK 

An  Hofmanns  textkritisclion  arbeiten  wird  sein  Scharfsinn  in  entzifferung  schwie- 
riger handschriftensteilen  und  bei  herstellung  des  verderbten  Wortlautes  gerühmt.  Bei 
seinen  litterargeschichtlichen  Schriften  gab  ihm  seine  ausserordentliche  Vielseitigkeit 
und  seine  grosse  belesenheit  oft  die  mittel  zur  erklärung  der  quellen  fast  spielend  an 
die  hand;  namentlich  besass  er  eine  eingehende  kentnis  der  realien  des  mittelalters ; 
er  kante  genau  diejenige  litteratur  jeder  gattung,  welche  im  mittelalter  verbreitet 
war.  So  gelang  es  ihm  denn  auch,  manche  verdeckte  anspielung  in  den  denkmäleru 
aufzufinden  und  zu  erläutern.  Ganz  besonders  zeigte  sich  dies  bei  seiner  erklärung 
Wolframs  von  Eschenbach,  der  ihm  unter  den  alten  dichtem  der  liebste  war.  Das 
veiii'autsein  mit  dem  altfranzösischen  einerseits,  mit  den  algemeinen  mittelalterlichen 
Verhältnissen  in  allen  ihren  zweigen  andererseits  sezte  ihn  in  stand,  das  geistige 
leben  Wolframs,  seine  seltsamen  Umformungen  und  Verarbeitungen  der  ihm  zu  gebot 
stehenden  und  von  seiner  zeit  dargebrachten  wissenschaftlichen  kentnisse  zu  verstehen 
und  zu  deuten.  Leider  nur  hat  Hofmaun  gerade  von  seiner  Wolframforschung  fast 
nichts  veröffentlicht.  Ein  hauptsächlicher  vorzug  seines  Schaffens  liegt  überhaupt 
darin,  dass  er  bei  der  erklärung  der  alten  denkmäler  sich  ganz  und  gar  in  die  zeit 
ihrer  entstehung  zurückzuversetzen  vermöchte  und  demnach  vermöge  seines  reichen 
Wissens  auch  alle  die  verschiedenen  einüüsse,  unter  denen  das  wei'k  möglicher  weise 
gestanden  haben  könte,  rasch  und  sicher  zu  bestimmen  wüste.  Hinsichtlich  derKyot- 
frage  glaubte  Hofmann  entschieden  an  eine  reine  fiktion  Wolframs,  dem  seiner  mei- 
nung  nach  nur  Christians  unvollendeter  Perceval  vorlag. 

Einer  Zersplitterung  der  kräfte,  einem  blendenden  geistreichen  vielwissen  redete 
Hofmaun  durchaus  nicht  das  wort;  er  wüste  sehr  wol  die  grenzen  zu  bemessen,  über 
die  ein  einzelner  nur  schwer  hinausgelangt,  und  im  hinblick  auf  ein  tiefes  gründliches 
wissen,  auf  eine  selbständige  kritik  des  forschers  schien  ihm  die  teilung  ins  mittel- 
alter und  in  die  neue  zeit  als  eine  notwendige.  Dagegen  selten  bei  einer  arbeits- 
teilung  nun  auch  auf  dem  einzelnen  gebiet  die  weitesten  anforderungen  ihre  erfül- 
lung  finden.  In  diesem  sinn  verlangte  er  namentlich  vom  deutschen  philologen  mit 
entschiedenheit  eine  selbständige  kentnis  des  romanischen,  insbesondere  des  altfran- 
zösischen; denn  ohne  diese  sei  ein  richtiges  urteil  in  Sachen  der  mhd.  litteratur- 
geschichte  schlechterdings  unmöglich.  Die  Vereinigung  der  altromanischen  und  alt- 
germanischen Studien,  insbesondere  die  klarlegung  der  Wechselbeziehungen  zwischen 
den  führenden  germanischen  und  romanischen  Völkern  im  mittelalter  war  sein 
lieblingsgedanke,  für  den  er  besonders  im  colleg  mit  grosser  wärme  eintrat;  er  ver- 
stand es  auch,  dem  schüler  und  hier  wider  insbesondere  dem  germanisten  die  richt- 
punkte  aufzustellen,  nach  denen  man  zumal  unter  seiner  leitung  in  kurzem  sich 
zurecht  zu  finden  vermochte.  So  wie  Hofmann  es  meinte  und  betrieb,  war  die  Ver- 
einigung des  altromanischen  und  altgermanischen  keine  Zersplitterung  der  Studien  des 
einzehien,  keine  ausbreituug  und  Zerstreuung  des  wissens  in  die  weite,  sondern  eine 
durchaus  einheitliche  harmonische  Vertiefung,  eine  von  den  tatsachen  gebotene  for- 
derung. 

Hofmanns  wissenschaftlich  -  schriftstellerische  tätigkeit  findet  ilire  notwendige 
ergänzung  in  seiner  lehrtätigkeit.  Nicht  allein  in  den  Vorlesungen,  die  er  frei  imd 
ungezwungen,  oft  humoristisch  und  drastisch,  wie  es  der  augeublick  gab,  zu  halten 
pflegte  und  in  denen  er  sich  an  kein  festes  thema  band,  sondern  auch  im  gespräch 
kam  stets  seine  ganze  volle  Individualität  zum  ausdruck,  dem  einzelnen  gegenüber 
ebenso  wie  im  kreise  seiner  schüler.  Wer  ihn  so  aus  seiner  lehrtätigkeit  oder  aus 
persönlichem  Umgänge  kennen  lernte,   der  konte  lebhaft  bedauern,   dass  Hofmann  als 


KONRAD    IIOFMANX  6? 

Schriftstolli'i'  y.n  keinem  urösstnvii .  systeiiiatiseli  aiiuclenten  uml  uusf;-enilirteii  werke 
gekomiiieii  ist,  wie  viele  themata  er  aiieh,  uml  zwar  liäufiii'  von  ganz  neuen  gesidits- 
jiunkten  aus,  lichtvoll  lieiuuulolt  hat.  (jerade  liei  seinem  umfassenden  wissen  hätte 
er  etwas  bedmitendes  und  grosses  leisten  kdmien,  wenn  er  einmal  halt  gemaehl  und 
die  orgelmisse  soiner  lorschung  methodisch  dargestelt  liättu.  Wir  meinen  damit 
nameutlich  t'Uie  grössiMv^  littorai'geschiehtliehe  arl)eit,  di(>  ersdiriplend  einen  gencm- 
stand.  sei  es  nun  einen  zeitalisehnitt  oder  eine  bestimte  piTsitnlichkeit  i)eiiandelt  hätte. 
Seiu  geuialer  eigenartiger  gedankenreiclitum  wäre  dann  zur  klai'en  oljjektiven  verai'- 
beitung  gelangt.  Aber  dal'ür  hat  llofmami  manche  schöne  wichtige;  uidernehmunt: 
anderer  angeregt;  ich  neiuie  hier  nur  die  ausgäbe  des  Christian  vou  Troies  dundi 
Foerster.  welche  aut  llofmanus  veranlassung  und  zum  teil  untiir  seiner  persönlichen 
mitwirkung  entstand. 

AVer,  wie  ich  selb>t,  llofmann  erst  in  seinen  lezten  jähren  kennen  gelernt  liat, 
dürfte  schwerlicli  mehr  eleu  vollen  eindiaick  sidner  bedeutung  für  die  Wissenschaft  so 
recht  empfangen  haben.  Zwar  seine  regsamkeit  und  frische  hat  er  auch  in  seinen 
alten  tagen  nicht  eingebüsst;  aber  ich  stelle  mir  sie  noch  ganz  anders  voi-  in  den 
Jahrzehnten,  in  welchen  er  eine  so  ungewöhnlich  fruchtbare  und  vielseitige  schrift- 
stellerische tätigkeit  entfaltete  untl  überall  selbständig  in  das  werden  und  wachsen 
der  Wissenschaft  eingriff,  ja  oft  selbei-  den  fortschritt  hervorrief.  Hofmanns  neigung 
war  mehr  aufs  greifbare  gerichtet;  die  quellen,  ihre  Verfasser,  ihre  zeit  kante  er 
durt/h  und  durch.  Weniger  sagten  ihm  rein  sprachwissenschaftliche  Studien  formaler 
art  zu.  Zwar  etymologie  und  worterklärung  liebte  er  uml  war  mitunter  glücklich 
darin;  doch  den  Sprachstudien,  wie  sie  in  den  arlieiten  der  jüngeren  generatiou 
hetiieben  w^erden  und  umgestaltend  auf  die  alten  theorien  wirkten,  stand  er  fernei- 
und  hat  sie  nicht  mehr  mittätig  begleitet. 

Den  begriff  der  „schule"  hat  Hofmaim  strengstens  verpönt  Er  liess  der  freien 
Individualität  seiner  schüler  stets  ihren  lauf  und  suchte  nur  durch  geistige  anreguno- 
auf  sie  einzuwirken.  Auch  verlangte  er  keineswegs  ein  jtirare  in  rerha  magistri: 
eine  von  seiner  eigenen  abweichende  ansiclit  eines  schülers  hat  nie  eine  feindselige 
gegnerschaft  zur  folge  gehabt.  Sein  Wahlspruch  war,  wie  er  oft  es  aussprach:  nrioii 
cognoscere  causas. 

Mit  Hofmaun  gieng  wider  einer  jener  männer  dahin,  welche  an  die  germa- 
nische und  romanische  philologie  in  ihrer  frühzeit  herantraten,  ihren  gewaltigen  auf- 
schwung  miterlebten  und  mit  ihm  gross  wurden.  Stets  werden  beide  disciplinen 
dankbar  und  mit  Verehrung  Hofmauns  namen  unter  ihien  ersten  Vertretern  nennen. 

MÜNCHEN,    OKTOBER    18'.)0.  WOLFGANa    GOLTHER. 


LITTEEATUE. 

Grundzügo  der  Schriftsprache  Luthers.  Versuch  einer  historischen 
grammatik  der  Schriftsprache  Luthers  von  dr.  €arl  Frniike.  Gekrönte 
preisschrift.  (Separat -abdruck  aus  dem  Neuen  Lausitzischen  magazin  bd.  LXIV.) 
Görlitz,  E.  Römers  buchhandlung.  1888.     XV  und  307  ss.     8. 

Vorliegende  Untersuchung  ist  der  erste  versuch  c'iner  umfassenden  darstellung 
der  Sprache  Luthers;  in  drei  teilen  behandelt  der  Verfasser  die  laut-,  wort-  und 
Satzlehre;  der  erste  teil  enthält  auch  einen  abschnitt  über  die  rechtschreibung. 

5* 


Der  Verfasser  hat  ein  reiclios  r|nellenniaterial  bennzt  und  ist  bei  der  ausbeutung 
desselben  mit  grosser  besonnenheit  zu  werke  gegangen.  In  lezter  bezieliuug  sucht  er 
sich  in  den  einleitenden  paragraphen  mit  der  Stellung  des  Luthergrammatikers  sei- 
nem quellenmaterial  gegenüber  auseinanderzusetzen,  und  komt  dabei  im  §  6,  2  (s.  8) 
zu  dem  resultat,  dass  für  die  „  feststellung  der  laut-  und  formenlelu'e  sowie  der 
rechtschreibung  Luthers"  sowol  seine  manuscripte  als  die  drucke  seiner  Schriften  zu 
berücksichtigen,  von  diesen  aber  imr  Wittenberger,  von  Luther  selbst  besorgte  aus- 
gaben, zu  benutzen  seien.  Von  den  beiden  genanten  arten  der  überliefeiTing  bieten 
jedoch  dem  Verfasser  die  drucke,  soweit  von  diesen  anzunehmen,  „dass  Luther  ihre 
koiTektur  gelesen"  (s.  3)  ein  zuverlässigeres  bild  für  die  grundsätze  der  Schreibweise  Lu- 
thers, als  seine  manuscripte;  denn  in  diesen  seien  unzweifelhaft  Schreibfehler  vorhanden, 
die  Luther  „später  auf  dem  korrekturbogen  berichtigt  oder  deren  berichtigung  er 
wenigstens  gebilligt"  habe  (s.  2).  Den  korrekteren  gesteht  Franke  nm-  ein  allerbeschei- 
denstes  mass  von  einfluss  auf  die  gestaltimg  des  textes  zu;  mehr  vielleicht  noch  im 
anfang  von  Luthers  schriftstellerischer  tätigkeit,  aber  spätestens  von  1524  an  habe 
Lutlier  durch  jene  bei  Christoph  Walter  [i.  j.  1563!]  erwähnten  „schärferen  anwei- 
smigen"  diesem  einfluss  em  ende  gesezt,  so  dass  von  dieser  zeit  an  „eine  genaue 
koiTcktur  der  von  Luther  selbst  besorgten  ausgaben  durch  ihn  oder  docli  nach  mit 
ihm  vereinbarten  grundsätzen  anzunehmen,  und  ihrer  Schreibweise  vor  derjenigen  der 
manuscripte  der  vorzug  zu  geben"  sei  (s.  3).  Franke  tadelt  hierbei  Dietz  und  Wülcker, 
die  den  korrekteren  und  setzern  einen  grösseren  einfluss  auf  die  gostaltung  des  tex- 
tes beimässen.  Aber  der  einfluss  der  drucker  und  korrekteren  bleibt  trotz  Fraukes 
gegenteiliger  ansieht  auch  nach  1524  bestehen.  Ich  will  nur  einen  fall  herausgreifen. 
Im  Anz.  f.  d.  a.  XV  (1889),  s.  332  fgg.  hatte  ich  in  dieser  beziehung  einige  bemer- 
kungen  über  die  anwendung  der  umlautszeichen  in  Wittenberger  drucken  Lutherscher 
Schriften  gemacht.  Ich  hatte  dort  auf  die  grossen  Inkonsequenzen,  die  sich  nicht  nur 
in  den  dnicken  verschiedener  officinen  gegen  einander,  sondern  auch  in  den  drucken 
einer  und  derselben  officin  unter  sich  finden,  bis  zum  jähre  1525  einschhesslich  hin- 
gewiesen. Doch  auch  nach  dieser  zeit  dauert  die  Unsicherheit  fort,  ja  sie  erhält  sich 
bis  in  Luthers  lezte  lebensjahre.  Wenige  beispiele  mögen  dies  zeigen.  Nickel 
Schirlentz  druckte  im  jähre  1541  die  „Vermanuuge  ||  zum  Gebet  /  ||  Wider  den  || 
Türeken.  ||  Mait.  Luth.  i|  Wittemberg.  1|  MDXLI.  —  Am  ende:  Gedrückt  zu  Wit-  ||  tem- 
berg  /  durch  1|  Nickel  Schir  jj  lentz.  Anno  ||  M.  D.  XLI."  und  widerholte  denselben 
di-uck  im  folgenden  jähre:  „. .  .  M.  D.  XLII.  —  Am  ende:  Gedruckt  zu  Wit-  ||  tem- 
berg  /  durch  ||  Nickel  Schir-  |1  lentz.  Anno  ||  M.  D.  XLII."  Beide  drucke  stammen 
also  aus  der  gleichen  officin.  Hier  findet  sich  nun  —  die  angäbe  der  stelle  bezieht 
sich,  wo  nicht  ausdrücklich  anders  angegeben,  stets  auf  den  erstgenanten  druck; 
länge  und  kürze  der  vokale  sind,  weil  für  den  vorliegenden  zweck  unnötig,  nicht 
geschieden  —  gülden  in  dem  ersten  druck  (Bj^)  gegenüber  gfdden  in  dem  zweiten, 
furchten  (Biij*  zweimal,  Bäj"")  gegenüber  fürchten,  in  funden  (Biij*')  gegenüber  in 
fihiden,  muffen  (Bilij*")  gegenüber  muffen,  und  umgekehrt  erxürnet  im  ersten  druck 
(Aij")  gegenüber  erxurnet  im  zweiten,  erfüllet  (Aij'')  gegenüber  erfüllet,  fcMildig 
(Biiij'')  gegenüber  fchiddig;  ferner  können  (Bij'')  gegenüber  können.  Das  schwanken 
findet  sich  aber  auch  im  texte  eines  und  desselben  druckes.  So  steht  in  dem  zwei- 
ten druck  erfüllen  (Aij^)  neben  dem  oben  erwähnten  erfüllet,  müffe^i  (s.  o.)  neben 
muffen  (Aiiij^),  fürchten  (Bij  "^  Bij  »•)  neben  furchten  (Bij"),  vnfcMddigen  (Biij '^) 
neben  fchuldig  (s.  o.).  In  beiden  ausgaben  schwankt  die  Schreibung  des  woiies  gül- 
den (1541:  Bj%  Bj''  dreimal;  1542:  Aiiij''  dreimal,  Bj''  zweimal)  neben guldeii  (1541: 


ÜHKH    KHANKK,    UKAMM.    IJEK    SI'JIRIKTSPKACHK    LUTHERS  69 

Bj"  l>j'';  ir)4L':  Aiii.j")  usw.  Aüurdiii'^^s  inusV  liL'UH'i'kl,  wcrdi'ii,  dass  von  don  liinr 
ilborhauiit  in  betnu'ht-  kDinincndcii  würtern  du;  weitaus  iilx-rwie^ciido  an/.ahl  mit 
uiiilautszciclH'ii  versohou  ist.  Viel  nierlvwürdij^^er  unteiselu'ideii  sicli  zwvi  dru<  ke  aus 
der  (iffieiii  des  ,Iosei)li  Klu-:  .,Vormaimn^-  an  Ij  die  IManher  inn  !1  der  Supcratten- 
dentz  der  li  Ivirehen  zu  Wittern-  |1  Ijerg.  P  Anno  1513.  —  Am  ende:  (iedruekt  zu  Wit- 
temhcr-?  /  Duri'li  .Joie]ili  H  Klug.  Anno  M.  D.  XLiij."  und  „.  .  .  Anno.  M.  D.  XLlll.  — 
Am  ende:  »iedruekt  .  .  .'",  also  beide  im  jähre  1543  gedruekt.  Wähi-end  in  dv.m  ersten 
dieser  drueke  die  umlautszeiclien  durchweg  auwcndung  fuidm.  leiden  sie  in  dem  zwei- 
ten ül)orwiogend  häufig.  leh  lulirt!  folgende  beispiele  an:  Kiirffirfl  im  ersten  druck 
(Aij")  j:^egpmihvv Kio-f/o-ß  im  zweiten  (dagegen  in  beiden  drucken  i'V^r/i'c/i  Aij'^  Aii.j''), 
m/'iffcn  (Aij'^  Ai.j''  Aiij")  gcgenübei-  vinffcn,  Tiirck  (Aij'')  gegenüber  Turck,  Tiirrkeu 
(Aij''  dreimal,  Aiij^'  zweimal)  gegenüber  7>(!/t/,y!«  (dagegen  iu  beiden  drucken  7K/t/.-^/j 
Aij"  zweimal),  ftiicl.-  (Aij'')  gegenüber  ftiick,  Sünden  (Aiij")  gegcnüljcr  Sundrn ,  cnt- 
frliiUiliiit  (Aiij'')  gegcnülier  cntfcliiddigt ,  (jcdrücU  (impressus,  Aüj'')  gegenübei-  (7c- 
dmclä;  t'erncr  huren  (Aij"  Aij*")  gegenüber  hören  (dagegen  in  beiden  drucken  hören 
Aiij'').  auff hören  (Aiij")  gegenüber  auffhoren,  hofen  (Aiij")  gegenüber  bofen,  vujch- 
tcn  (Aiij'')  gegenüber  mochten,  können  (Aiij")  gegenüber  können,  schliesslich  ver- 
mofjcns  (Aiij")  gegenüber  rermuijens.  Auch  Hans  Lufft,  der,  wie  ich  a.  a.  o. 
s.  334  gezeigt  habe,  im  jähre  1524  noch  sehr  selten,  aber  schon  im  jähre  1525  über- 
wiegend die  Umlautszeichen  zur  anwendung  brachte,  schwankt  noch  später,  wie  dies 
iieispielsweise  die  im  jähre  1539  in  zwei  autlagen  aus  seiner  presse  hervorgegangene 
Schrift  Luthers  „Wider||  den  Bifchoff  zu||Magdebm-g|lAllirecht  Car-||dinal.!|D.  Mar.  Luth.|| 
1539.  —  Am  ende:  Gedrückt  zu  AVit- 1|  temberg  durch  j]  Hans  Luift.  ||  M.  D.  XXXIX. " 
(titel  und  Impressum  beider  ausgaben  stimmen  in  der  beschreibung  überein)  ersehen 
lässt.  Es  findet  sich  hier  z.  b.  wurde  im  ersten  druck  (Bij")  gegenüber  ivürde  im 
zweiten  (dagegen  in  beiden  drucken  mirde  als  conj.  prt.  Diiij"),  ^cfunder  (Aiij'')  gegen- 
über (jefimder  (dagegen  in  Ijeiden  drucken  r/e//^/?f/er  Cij '') ,  fchuldig  (Diiij")  gegenüber 
fchiddUj;  umgekehrt  Ä'o«/r/  (Aiij"  Aiiij")  gegenüber  A'o«««/  (dagegen  iu  beiden  drucken 
Konige  Aiiij"),  können  (üij'')  gegenüber  können  (dagegen  in  beiden  drucken  können 
Diij*  Diij''  Düij").  An  Schwankungen  im  texte  eines  und  desselben  druckes  —  und 
zwar  finden  sich  diese  beispiele  jedesmal  in  beiden  ausgaben  —  führe  ich  nur  noch 
an  fehuldirj  (Aij"  Aiiij '^  Düij'')  neben  [ch fddig  (Bij''),  fchoii  (pulcher,  Aiij")  neben 
Schone  (Aiij''),  gehört  (Bij"),  cniierhort  (Diiij")  neben  ^eÄoW  (Ciij")  usw.  Man  sieht, 
auch  Hans  Lufft  schwankt  noch  lange;  aber  doch  gehören  diese  Schwankungen  bei 
ihm  mehr  und  immer  mehr  zu  den  ausnahmen  gegenüber  der  anwendung  des  umlauts- 
zeichens.  und  es  hat,  soweit  ich  sehe,  allerdings  den  anschein,  als  ob  dieser  drucker 
sich  zulezt  in  der  tat  zu  fast  konsequenter  durchführung  der  umlautszeichen  auf- 
geschwungen habe.  Alle  hier  sowol  wie  früher  a.  a.  o.  berücksichtigten  drucke  sind 
derart  ausgewählt,  dass  sie  die  möglichste  gewähr  für  Luthers  eigene  korrektur  oder 
w^euigstens  für  den  energischsten  einfluss  seinerseits  auf  dieselbe  bieten.  Und  da 
hiesse  es  doch  in  der  tat  das  sprachliche  wollen  des  reformators  einer  bedenklichen 
beleuchtung  preisgeben,  wolle  man  annehmen,  dass  alle  diese  Schwankungen  unter 
seiner  ausdrücklichen  gonehmigimg  in  den  druck  gelaugt  seien.  Dieser  Schwierigkeit 
für  die  erklärung  der  schwankenden  umlautsbezeichnung  war  sich  auch  Franke 
bewust;  aber  er  hilft  sich  daraus,  indem  er  meint  (s.  8),  „dass  Luther  sich  nie 
recht  klar  über  den  umlaut  geworden''  sei,  und  dass  er  erst  „wol  nach  dem  vor- 
gange der  noidostthüiingischen  kanzleien  und  einiger  AVittenberger  druckereien,  wie 
der  von  Grunenberg,  Schirlenz  und  Hans  Lufft,  die  umgelauteten  formen  für-  gemein- 


70  LDTUER 

deutsche  bestandtcilc"  gehalten  habe.  So  wenig  nun  ein  diesbezüglicher  einfluss  der 
drucker  auf  die  autoren  im  algemeinen  geleugnet  werden  soll  —  er  muss  im  einzel- 
nen fall  immer  erst  nachgewiesen  werden — ,  so  müste  es  doch  auffallen,  dass  Luther 
sich  erst  so  spät  jener  erkentnis  erschlossen  hätte,  die  umgelauteten  formen  seien 
„gemeindeutsche  bestandteile " ;  denn  die  oben  beigebrachten  beispiele  stammen  aus 
den  Jahren  1539  bis  1543.  Vielmehr  wird  nach  alle  dem  auch  Franke  sich  der 
anerkennung  jener  tatsache  nicht  verschliessen  können,  dass  die  drucker  auch  ohne 
Luthers  genehmigung  den  text,  —  sei  es  unabsichtlich,  sei  es  in  ihrem  buchhänd- 
lerischen Interesse  —  wilkürlich  änderten.  Ausführlich  bespricht  diesen  gegenständ 
F.  Kluge  Von  Luther  bis  Lessing  (Strassbui'g  1888)  s.  54  fgg.  Nicht  zum  wenigsten 
macht  gerade  dieser  umstand  die  darstellung  der  spräche  Luthers  wie  überhaupt 
sprachliche  arbeiten  über  jene  zeit  so  schwierig. 

Verfasser  nent  seine  grundsätze  einen  „versuch  einer  historischen  grammatik 
der  Schriftsprache  Luthers",  und  sucht  diesen  zusatz  durch  widerholte  heranziehung 
sowol  des  mhd.  und  md.  als  des  nhd.  zu  rechtfertigen.  Die  vergleichung  mit  dem 
mhd.  resp.  dem  md.  führt  der  Verfasser  zwar  im  algememen,  aber  nicht  konsequent 
durch,  mid  mit  dem  aufhören  dieser  vergleichung  hört  auch  die  historische  darstel- 
lung auf;  denn  eine  Schilderung  des  Verhältnisses  zum  nhd.  ist  für  eine  historische 
grammatik  der  Schriftsprache  Luthers  nicht  erforderUch.  Auch  muss  eine  darstel- 
lung der  spräche  Luthers  als  grundlage  stets  den  sprachstoff,  wie  er  sich  in  den 
Schriften  des  reformators  bietet,  betrachten,  und  darf  erst  von  diesem  aus  zu  einer 
vergleichung  mit  dem  stände  der  deutschen  spräche  in  einer  anderen  periode  schrei- 
ten. Aber  auch  dieses  geschieht  bei  Franke  nicht.  Er  verfält  vielmehr  in  den  lei- 
digen fehler  der  meisten  bisherigen  Luthergrammatiker,  welche  die  spräche  des  refor- 
mators im  algemeinen  mit  dem  nhd.  identificieren ,  ihr  wesen  daher  im  algemeinen 
als  bekant  voraussetzen,  und  nunmehr  sich  ledigHch  auf  die  herzählung  von  abwei- 
chungen  beschränken,  ein  fehler,  der  dadurch  nicht  an  härte  verliert,  dass  Franke 
auch  ältere  sprachstufen  zur  vergleichung  heranzieht.  So  gibt  Franke  z.  b.  folgende 
darstellung  von  dem  vorkommen  des  kurzen  *  bei  Luther:  1)  kurzes  i  bei  Luther, 
dem  mhd.  entsprechend,  für  nhd.  ?Y,  auch  nhd.  ie  (§  26),  2)  kurzes  i  bei  Luther, 
dem  md.  entsprechend  a)  für  mhd.  kurzes  e  in  stamsilben  (§  27)  und  in  bildungs- 
und  flexionssilben  (§  28),  b)  für  mhd.  km'zes  ü  (§  29).  Für  eine  Luthergrammatik 
historischen  Charakters,  wie  sie  Franke  beabsichtigte,  muste  die  frage  vielmehr  so 
gestelt  werden:  in  welchen  fällen  findet  sich  bei  Luther  kurzes  i  1)  in  Überein- 
stimmung mit  dem  mhd.,  2)  abweichend  vom  mhd.  a)  in  Übereinstimmung  mit  dem 
md.,  b)  event.  weder  aus  dem  mhd.  noch  md.  stammend.  Erst  dann  hätte  das  nhd. 
unter  1.  anmerkungsweise  herangezogen  werden  dürfen  mit  der  bemerkung,  dass  in 
einigen  dieser  Wörter,  die  im  mhd.  und  noch  bei  Luther  kurzes  *  haben,  im  nhd. 
ie  oder  auch  ü  eingetreten  wäre;  ebenso  hätte  dann  aber  auch  unter  2a.  hinzugesezt 
werden  können,  dass  diese  wörter  mit  i  bei  Luther  =  md.  i  =  mhd.  e  auch 
im  nhd.  e  hätten.  Noch  etwas  bedenklicher  ist  die  darstellung  des  kurzen  e.  Sie 
wird  folgendermassen  durchgeführt:  1)  kurzes  e  bei  Luther,  entsprechend  mhd. 
kurzem  e,  für  nhd.  ö  (§35),  dasselbe  für  nhd.  *,  vielleicht  auch  nhd.  e  (§  36). 
Dann  komt  als  nr.  2)  der  §  37  mit  einem  e,  welches  nach  der  ansieht  des  Ver- 
fassers im  mhd.  gar  nicht,  bei  Luther  nur-  „erst  in  spärhchen  spiu-en",  wohl  aber 
im  nhd.  in  ausgedehntem  masse  vorhanden  ist;  es  ist  dies  dasjenige  e,  welches 
sich  zwischen  den  diphthongcn  ei  au  eu  und  r  in  nhd.  Wörtern  wie  feiern  mauer 
feuer  u.  dgl.  findet.     Darauf  folgt  3)  kurzes  e  bei  Luther  =  md.  e  =   sonstigem  * 


l'BKK    FRANKE,    (iK'AMM.     liKK    S(  lIRII'TSl'KArllK    LITIIERS  71 

(jj  US),  mul  als  iinhaii.!;'  liiiTzu  i'iiic  viM'Wci.siiiig  für  tUi>  umlauts-r  auf  ilic  dar- 
sU'lluiii;'  lies  kui'/A'ii  a.  Dio  aiiortinuiij;'  kmitc  kaum  luilopscliur  ^clroireii  wcnlcii. 
Audi  liior  liättt!  zuiiäehst  r  hi'i  IjutlnT  nilul.  r  hotracliti't  wi-nlon  iniisseu.  uiitcr- 
aliti'ilungcn  wiiivii  ilalur  ald's  <■  urnl  uinlauts-r  uvwcsi'ii ;  lici  ilcin  Irzii'ii.  für  wol- 
clu's  ;iucli  Sil  rino  vcrwcisuHij;  auf  iliu  ilarstvllunt;'  iIcs  Umlaufs  wünli;  t^vuiitit  lialiuu, 
hätte  wie  äliulii'li  iilicu  licim  /  zusat/.wcisc  dir  imtiz  |ilatz  liuilcn  kimncu,  dass  oiiiiji:e 
diosiT  Wörter  iiu  nlid.  ö  lialieu.  denn  im  prinei]!  hat  nur  das  umlauts-r  diesen  ühci'- 
i^aiii;'  erfaiiren.  I'aul  ,Mhd.  .i;r.''  >;  '-'7.  1  führt  allerdim;s  au<-h  mhd.  itH'siIiiii  und 
Irirc.  alsi»  zwei  heispieh'  mit  altem  ;■'.  fiir  den  ülier;^an,n  in  i'>  an;  aher  diese  kennen 
inejit,  als  heweismitt(d  i^e^en  die  ursiniiniilielie  lii.'selir;inkun,i;  dieses  xokulwandi'ls  auf 
das  uinlauts-r'  gelten,  da  mhil.  I'i'in'  ^owol  als  iehnwnrt  als  aueii  we.i^cn  di^s  dciui  r  UA- 
,i:vnden  ir  eine  Mini|erst('llunn-  eimnmt.  Ihm  crlrsi-lnii  da,t;'e;;(.>n  nui-  i'ine  vermiseluing 
mit  dem  frans,  mhd.  Iisdicti .  weleiies  undaufs-r  hat,  ein.L;i>tivten  ist;  vt;!.  für  den 
lezten  fall  autdi  (irimm  llW'h.  VI.  sp.  1177.  An  diese  darsfellun^  des  c  bei 
J>uthei'  mhil.  (■'.  c  hätte  sieli  dann  zunächst  die  des  r  hei  Luther  md.  c  = 
soMstij^em  /  am  rieht i.usten  an^esehlossen,  und  ei'st  luunmdii',  fals  P"raid\'eH  ansieht 
riejitiu  ist,  der  iidndt  des  ij  :!7  nut  einem  c  liei  LutlieT,  w(dehes  im  mhd.  iiecli  nieht 
\(irhanden  izewoen.  si'iniMi  platz  ;j,efandi.'n.  AImt  dies  leztLi'enanti'  r  war  auch  sidion 
ndnl.  vnrhauden,  v,uL  z.  h.  AN'eiidiiilil  .Mhd.  i,n-. -'  i;  f'J'.l,  und  es  hätte  somit  in  die 
erste  untorahteilung  des  kurzen  r  hei  I>uther  gehört,  wenn  diese  ersehcinung  üher- 
liauiit  au  dieser  steUe  liesendfus  hervergehdlien  werden  selte,  und  nicht  vielmehr, 
wie  auch  Weitdiold  das  a.  a.  o.  getan,  riehtiger  liei  den  diplitlnuigen,  oder  gar  bei 
den  liijuiden.  denn  mir  dureji  (h^i  eintluss  der  lozteren,  im  vorliegenden  falle  des  r, 
ist  diese  „zerdehmmg"  eingetreten,  hätte  erwähnt  werden  müssen.  Weiterhin  fmdet 
das  kurze  a  hei  Luther  üherhaujit  nur  erwälmung,  insofern  e.s  =^  md.  a  ist  und  ent- 
weder mhd.  kurzem  '/  l§-il)  "der  sonstigem  r  (§  4'J)  entspricht,  nehst  hinweis  auf 
unterhleilien  des  umlauts.  In  ähnlicher  weise  geht  es  liei  di.'r  darstellung  des  voka- 
lismus  fort.  Den  diphthongen  widmet  Franke  allei'dings  einen  einleitenden  Paragra- 
phen, in  wehdiem  er  erwälint.  dass  sie  entweder  schon  aus  dem  mhd.  stamten  oder 
aller  (Mst  durch  diphthongisierung  alter  längen  entstanden  wären,  gibt  indessen  für 
die  lezteix'  erseheinung  nur  wenige,  abei'  sehr  wenige,  bidege  aus  Luthers  Schriften, 
während  die  erstere  allein  für  mi.  liei  Luther  (=  mhd.  oii)  lielegt  winl.  Bei  der 
folgenden  einzelbesprechung  der  di[ihthonge  treten  dann  jene  olieu  gerügten  mängel 
der  darstellung  nur  um  so  krasser  hervor. 

Was  in  dieser  bezieliung  über  den  vokalismus  gesagt  ist,  gilt  in  voller  aiis- 
dehiumg  auch  für  die  darstellung  des  k<jnsonautismus. 

Etwas  anders  liegt  die  saehe  für  Luthers  wortseliatz.  Bei  diesem  kijnnen  sieh 
die  „grundzüge'"  allerdings  eher  auf  die  dai-stellung  gewisser  differenzen,  die  der  Ver- 
fasser im  §  Ljlj  näher  liezeichnet,  beschi'änken,  da  hiei-  die  lexikographie  in  ihre 
rechte  tritt. 

In  dem  abschnitt  über  Wortbildung  (ii§  141  — 17(1)  wird  zwar  sowol  in  dem 
einleitenden  paragraphen  (§  141)  als  auch  sonst  widerhelt  dos  mhd.  geda<;ht,  aber 
das  nhd.  muss  gar  oft  als  alleiniges  vergleicliungsoVijVdit  dienen,  z.  l:i.  in  den  §§  142. 
144,  1.  3.  14G,  1.  154.  155,  2—4.  1.56  —  00.  163  usw.  Häufig  felilt  auch  diese  ver- 
gleichung;  und  das  würde  einer  objektiven  darstellung  immer  noch  näher  kommen. 

Dagegen  führt  der  Verfasser  in  dem  nun  folgenden  abschnitt  über  „wortbie- 
gung''  usw.,  §§171 — 252,  dio  vergleichung  mit  dem  mhd.  ain  konsequentesten  durch. 
Nur  ganz  vereinzelt,  wie  im  §244  bei  der  darstellung  des  riu:k umlauts  oder  im  §  251 


72  LDTHER 

bei  der  besprecliuug  des  gebrauchs  von  „haben"  und  „sein"  ziu'  bildung  des  perfekts 
und  Plusquamperfekts,  vergisst  er  auch  hier  das  mlid.  heranzuziehen  und  beschränkt 
sich  auf  eine  vergleichung  mit  dem  nhd.  Einen  besonderen  vorzug  verleiht  der  Ver- 
fasser diesem  abschnitt  namentlich  vor  der  darstelhmg  der  lautlehrc  dadurch,  dass 
er  hier  auch  die  regel  bei  Luther  zu  worte  kommen  und  ihr  in  der  aufsteUung  von 
paradigmaten  (§§  175.  179.  180.  198.  212.  235)  gerechtigkeit  Aviderfahren  lässt. 
Warum,  was  hier  getan,  nicht  auch  in  der  lautlehre  durchführen,  die  doch  gewiss 
dasselbe  recht  darauf  hat? 

Die  Syntax  dagegen  muss  sich  wider  an  einer  ganz  minimalen  berücksichtigimg 
früherer  Sprachperioden  genügen  lassen,  trotzdem  gerade  hier  die  vom  Verfasser  so 
sehr  betonte  Volkstümlichkeit  der  spräche  Luthers  durch  solche  vergleichung  hätte 
interesse  bieten  können.  Ein  um  so  grösserer  räum  ist  dafür  der  vergleichung  mit 
dem  nhd.  zu  teil  geworden,  häufig  wider  so,  dass  nur  die  zwischen  Luthers  spräche 
und  dem  nhd.  vorhandenen  differenzen  in  der  darstellung  platz  gefunden  haben. 
Selbst  da,  wo  Franke  sich  hauptsächlich  auf  die  darstellung  des  Lutherschen  Sprach- 
gebrauchs beschränkt,  ohne  vergleichung  mit  dem  sprachstand  in  früherer  oder  spä- 
terer zeit,  findet  man  gelegentlich  nur  ausnahmen  erwähnt.  So  enthält  das  vieiie 
kapitel  der  syntax  (§§  271  —  280),  in  welchem  nur  ganz  vereinzelt  in  den  §§  277. 
278.  280  das  nhd.  verglichen  wird,  die  „abweichungen  in  der  Übereinstimmung 
der  abhängigen  sazteile  im  numerus,  genus  und  kasus",  und  zwar  die  abweichun- 
gen von  der  regel  innerhalb  des  Lutherschen  Sprachgebrauchs;  aber  von  der  regel 
selbst,  die  doch  gewiss  auch  einen  ansprach  auf  berücksichtigung  hat,  finden  wir 
keine  spur. 

Ein  Vorzug  des  buches  ist  es  dagegen,  dass  der  Verfasser  der  rechtschrei- 
bung  Luthers  eine  von  der  des  lautstandes  grundsätzlich  gesonderte  darstellung 
zuteil  werden  lässt;  denn  die  nichtbeachtung  dieser  Zweiteilung  ist  auch  eine  von 
den  Sünden,  der  die  meisten  Luthergrammatiker  bisher  gefröhnt  haben.  Fi-anke  ver- 
wirklicht seinen  „grundsatz"  (§6,  4),  indem  er  am  Schlüsse  der  lautlehre  einen  beson- 
deren abschnitt  der  rechtschi-eibung  widmet.  Einleitend  sucht  er  hier  Luthers  Stellung 
in  dieser  frage  dahin  zu  charakterisieren,  dass  derselbe  im  wesentlichen  mit  der  kur- 
sächsischen, in  einzelnen  punkten  aber  abweichend  von  dieser  „mit  der  uordostthürin- 
gischen  oder  der  kaiserlichen  Schreibweise"  übereinstimme  (§  116).  Schon  in  dem 
jähre  1520  beginne  eine  Umgestaltung  der  rechtschreibung  bei  Luther  sich  geltend  zu 
machen,  die  dann  von  1523  an  „ganz  deutlich  wahrzunehmen  sei"  (§117);  dies 
würde  damit  übereinstimmen,  dass  Luther  spätestens  im  jähre  1524  den  druckern  jene 
schon  oben  erwähnten  „schärferen  anweisungen"  gegeben  habe,  von  denen  Christoph 
Walter,  allerdings  erst  im  jähre  1563,  spricht.  Bei  der  nun  zunächst  folgenden  aus- 
führung  über  die  darstellung  der  vokale  nehmen  die  „  dehnungszeichen "  den  löwen- 
anteil  (§118  =  s.  89  —  98)  in  ansprach.  Besser  würde  der  Verfasser  diesen  Para- 
graphen die  graphische  darstellung  langer  vokale  betitelt  haben;  denn  er  behandelt 
ausser  denjenigen  Wörtern,  in  denen  durch  ein  äusseres  kenzeichen  die  länge  des 
vokals  angedeutet  ist,  auch  diejenigen  in  diesem  paragraphen,  in  denen  kein  sogenan- 
tes  dehnungszeichen  die  länge  des  vokals  kentlich  macht.  Die  vielbesprochene  Stel- 
lung des  h  in  seiner  eigenschaft  als  dehnungszeichen  charakterisiert  der  Verfasser 
dahin,  dass  dasselbe  „nur"  bei  einem  dem  betreffenden  laut  folgenden  «,  /•  oder  ira 
auslaut  nach  dem  vokal  stehe,  bei  vorangehendem  t  oder  r  aber  vor  denselben  trete. 
Von  diesen  beiden  behauptungen  ist  zunächst  die  erste  inhaltlich  unrichtig.  Denn 
ausser   bei   folgendem  n,  r  oder  im]  auslaut  —  für  diesen  fall  führt  Verfasser  übri- 


ÜBER    J-'KANKK,    UKAM.M.    UKK    SCJimi'TSl'KACllE    LUTilKKS  73 

gous  kfiiiDii  lit'lfg  an  —  limlut  sich  //  iiui-li  ilcin  vnkal  aurli  Ikm  t'olgciidoiii  /  uml  ///. 
Man  nuis  indessen,  wie  es  selieiiif ,  auch  in  iJiesiM'  fraLi,'e  (.'ine  sciieidung  der  druckcr 
vdrneliincn.  So  linden  sicii  z.  ii.  tAcrade  für  das  li  nach  dem  vokal  l>ei  folgondein  / 
und  ///  in  der  von  Melclijor  Ldttiiei-  nvdriickten  sei>toml)orhil)ol  i'olgen(h3  belege:  nidlil 
(nihd.  iin'tl)  Jud.  3,  aniKilniicti  (inhd.  i/i'ni/o/)  A]).  gesch.  7,  45,  ani/rnrl/u/  (nihd.  [/e- 
iKfme)  JjUC.I,  24,  Köm.  If),  lü.  .'il.  l'hil.  4,  18,  aiifjcnclimc  Lue.  4 ,  1!),  aHiptrhui 
1.  Tim.  ').  4,  iji'tirliDirii  11.  ('er.  »i,  2.  fiiDicItnißcn  Ap.  gesell.  17,  J.  2').  2,  fi(rnfh- 
iiiißcH  A|i.  gesell.  2S.  17,  (iHlfnrliiiirn  (mhd.  ii(Onr}i)  Ap.  gesch.  18,  27-',  dazu  mit, 
mild,  noch  kurzem  vokal  nilwlilicli  Khr.  11.  12,  laln)/  Ap.  gesch.  15,  2,  lalniini 
.loh.  f),  ;},  All.  gesell.  8,  7,  (iitlf)iulnii.  .lae.  2,  2,5,  nchiiicii  Math.  1 ,  20.  ä,  40.  2'],  12, 
Marc.  S,  11,  .loh.  10,  14.  15.  22.  24,  unnchmeu  Joh.  5,  43,  vernehmet  Marc.  7,  14. 
S,  17,  Hchiinft  .loh.  17,  1,5,  nclim  Älare.  15,  36.  Alle  dies»;  belege  linden  sieh  bis 
aiil' ///^'/  .lud..'!,  fiiniriNfffen  A\).  ^i)H(i]i.2S,  17,  iie7i/cii  M'Mv.H,  J4,  /«6V//c  Mar(!.  15,  3(j 
und  lihniir  ,loh.  Ki,  22  auch  in  dei'  aus  der  gleiehcu  drucdau'ei  hei-vorgegangonen 
<lecembcrl)ibel  vom  Jahre  1522.  Etwas  ijfter  fehlt  das  h  der  vorgenaiiten  belege  dann  in 
dem  folio- druck  des  neuen  testaments  von  Melchior  Lotther  dem  iungeni  aus  dem  Jahre 
1524.  aber  in  einem  andern  drucke  desselben  Jahres  von  Melchior  und  Michel  Lotther 
gei)rudcr  tritt  es  wider  etwa  mit  derselben  häufigkeit  wie  in  der  decemberbibel  auf. 
Hagegcn  verzichten  drei  von  mir  verglichene  drucke  des  Hans  Lufft  aus  den  Jahren 
153G,  1541,  1544/45  gänzlich  auf  das  dehnungs-/?  an  den  angeführten  stellen.  Auch, 
was  gleich  hier  erwähnt  werden  möge,  für  das  in  den  obengenanten  Lotthorschen 
drucken  sieh  findende  herald  (jussit)  res]),  befahl  (nur  der  zu  dritt  erwähnte  druck 
mit  dem  impressum  Melchior  Lotthers  des  iungern  aus  dem  Jahre  1524  hat  befal) 
Math.  2,  12,  sowie  für  hcrvhl  res]i.  befehl  Math.  2,  22  in  sämtlichen  vier  Lotther- 
scheii  drucken  hat  Hans  Lufft  in  allen  drei  ausgaben  die  formen  bcfalli  und  hcfclh. 
Für  iiichh  Math.  13,  33  in  den  vier  Lottherscheu  drucken  hat  Hans  Lufft  153'j  zwar 
ebonfals  inclds,  1541  und  1544/45  aber  Mclhs.  Auch  das  h  in  Jhcrufalem,  welches 
anfangs  in  der  Lottherscheu  druckerei  zuweilen  vorkomt.  z.  b.  Math.  5,  35.  21,  10. 
23,  37.  1.  Cor.  16.  3  in  der  September-  uiid  der  decemberbibel  vom  Jahre  1522,  für 
den  ersten  dieser  Ijelege  auch  noch  in  der  ausgäbe  der  gebrüder  Melchior  und 
Mif:hel  Lotther  vom  Jahre  1524,  hat  Lufft  wenigstens  an  den  augeführten  stellen  der 
erwähnten  ausgaben  nicht.  Für  den  beweis  seiner  zweiten  behauptung,  dass  das  h 
liei  einem  dem  vokal  vorangehenden  t  oder  r  vor  denselben  trete,  führt  der  Verfas- 
ser unter  seinen  belegen  das  noch  fruhd.  tliurftlfj  (audax)  und  das  substantivimi 
thuru  tJainn.  (turris)  an,  mit  der  ausdrücklichen  Überschrift,  dass  das  h  lüer  „vor 
mhd.  noch  kurzen  vokalen'^  stände.  Ist  der  vokal  von  thunn  denn  heute  lang,  und 
nimt  der  Verfasser  länge  des  vokals  für  das  frnhd.  thurftiy  an':"  Franke  dreht  die 
alte  mähr  vom  tli ,  die  er  in  seiner  behauptung  widergibt,  nunmehr  um,  und  meint 
augenscheinlich,  dass  nach  anlautendem  ///  nun  auch  stets  langer  vokal  stehen  müsse, 
wie  er  derm  auch  das  h.  in  dieser  Verbindung  vor  diphthongen  als  „überflüssig" 
bezeichnet,  §.  126,  1.  Er  lässt  sieh  überhaupt  weder  auf  eine  erklärung  des  Ji  als 
dehuungszeichens  im  algemeiiicn  noch  in  seiner  stellimg  beim  /  und  /•  im  besonderen 
ein.  Und  so  wenig  auch  dies  viedleieht  in  dem  rahmen  des  vorliegenden  buches 
erforderlich  war,  es  hätte  doch  möglicherweise  den  Verfasser  vor  Jenem  bedenklichen 
Schnitzer  bewahrt,  dass  auch  das  //  in  dem  häufig  vorkommenden  werte  Jhefns  deh- 
nungs-Ä  für  das  ihm  folgende  e  sein  solle  (s.  Ü3).  Nein!  das  h  verdankt  hier  seinen 
Ursprung  lediglich  einer  falschen  transskription  der  griechischen  Ijuchstaben  IHZ  als 
Jhs,    woraus   dann  h  als   solches   weiter  übernommen  wurde   imd  in   der  Schreibung 


74  LUTHER 

Jhesuü  eine  ganz  gewöhnliche  erscheinimg  des  mittelalterlichen  lateiu  ist.  Das  ist  eine 
bekante  tatsache  der  paläographic ,  vgl.  z.  b.  Wattenbach  Anleitung  zur  lat.  pal.  (Leipz. 
1869)  autogr.  s.  20,  von  neueren  etwa  Prou  Manuel  de  pal.  (Paris  1890),  s.  49  — 
eine  tatsache,  die  auch  schon  Grotefend  in  seiner  bekanten  abhandlung  über  Luthers 
Verdienste  um  die  ausbildung  der  hd.  Schriftsprache  (Abhandlungen  des  Frankfm-tischen 
gelehrtenvereiues  f.  d.  spr.  I,  1818,  s.  112)  erwähnt,  und  diese  schrift  befindet  sich 
unter  den  von  Franke  „benuzten"  abhandlungen  (s.  VI).  Auf  rein  äusserlicher  Über- 
tragung aus  Jhefus  beruht  dann  das  //.  in  Jherufalem,  welches  wort  sich  in  dieser 
gestalt,  wie  schon  oben  angegeben,  zuweilen  in  Lottherschen  dmcken  findet. 

Diese  Sonderbehandlung  der  rechtschi'eibung,  wie  sie  Franke  vorgenommen  hat, 
ist  für  die  Luthergrammatik,  wie  bereits  oben  angedeutet  wurde,  zweifellos  ein  fort- 
schritt.  Indessen  ist  der  Verfasser  von  seinem  „grundsatz"  noch  nicht  genügend 
durchdrungen  gewesen,  um  der  rechtschreibungslehre  nun  auch  jeden  nähereu  ein- 
tritt in  die  darstellung  der  laute  zu  verwehren.  Im  gegenteil  sündigt  er  gegen  sei- 
nen eigenen  gi'undsatz  hier  in  sehr  bedenklicher  weise.  Der  erste  abschnitt  der  laut- 
lehre  betrift  „algemeines  über  den  lautstand  Luthers."  Unter  dieser  Überschrift  wird 
im  §7  die  „Schreibweise"  der  kanzleisprache  kurz  erörtert,  §8  handelt  über  die 
„einwirkung  der  Schreibweise  der  verschiedenen  kanzleien  auf  Luther."  Überein- 
stimmend mit  dieser  Überschrift  des  §8  werden  darin  ausser  mehreren  wirklich  laut- 
lichen erscheinungen  die  bekanten  Schwankungen  im  schreiben  zwischen  ai  und  ei 
resp.  ey,  die  Schwankungen  in  der  „bezeichnung  des  Umlaufes  von  o  und  m",  das 
eintreten  der  längenbezeichnung  von  ie  für  mhd.  «',  der  Wechsel  zwischen  i,  j 
und  y,  dd  und  d,  die  drei  lezteren  pimkte  sogar  ausdrücklich  als  erscheinungen 
„rein  graphischer  natur",  sowie  „die  graphische  bezeichnung  des  langen  e  durch 
ee"  behandelt.  Im  §  16  des  folgenden  abschnittes  gibt  Franke  belege  für  die  bei 
Luther  bereits  durchgeführte  dehnung  im  mhd.  noch  kurzer  silben.  Statt  hier  die 
art  der  längenbezeichnung  {ie  für  2,  doppclschreibung,  sogenantes  dehnungs-A) 
als  bekant  vorauszusetzen  oder  doch  in  dieser  beziehung  auf  den  abschnitt  über  recht- 
schreibung  zu  verweisen,  wo  das  allein  hingehört,  und  dann  entweder  durch  behandluug 
der  einzelnen  vokale  oder  durch  eröiterung  ihrer  jeweiligen  stellmig,  sei  es  im  auslaut, 
sei  es  vor  bestimten  konsonanten,  übersichtlich  zu  zeigen,  in  welchen  fäUen  sich  der 
eintritt  der  dehnung  nachweisen  lässt,  teilt  Franke  diesen  paragraphen  umgekehrt 
nach  der  art  der  längenbezeichnung,  also  nach  rein  orthographischem  princip  ein, 
und  muss  dann  unter  jedem  dieser  drei  punkte  alle  diejenigen  vokale  behandeln, 
deren  länge  in  der  betreffenden  weise  angedeutet  wird.  Auch  das  im  §  60  über  die 
wenigen  bei  Luther  vorkommenden  tie  gesagte,  deren  e  Franke  selbst  für  ein  zeichen 
„wol  nur  rein  graphischer  natur"  hält,  und  welches  sicher  nur  noch  den  vielleicht 
unbewussten  wert  eines  dehnungszeichens  hat,  hätte  in  der  abhandlung  über  die 
rechtschreibimg  seinen  platz  finden  sollen,  etwa  nach  der  besprechimg  des  ie  als  i. 
Dazu  würde  auch  das  wort  faet  (mhd.  sät)  Marc.  2,  2?.  zu  stellen  sein,  welches  sich 
in  den  vier  oben  (s.  73)  genanten  Lottherschen  drucken  aus  den  jähren  1522  imd 
1524  findet,  während  Hans  Lufft  in  den  an  gleicher  stelle  genanten  drucken  faat 
einsezt.  Über  dieses  e  (oder  i)  nach  vokalen  im  Frankfurter  dialekt  handelt  Wülcker 
in  Paul -Braunes  Beitr.  IV,  s.  30  fg.  In  dem  aufsatz  über  „die  umlautserscheinungen 
bei  Luther"  (§  18  fgg.)  war  es  gleichfals  nicht  nötig,  der  graphischen  darstellung 
des  Umlauts  einen  so  grossen  räum  zur  Verfügung  zu  stellen,  da  strenggenommen 
das  graphische  element  auch  dieser  erscheinung  in  dem  abschnitte  über  die  recht- 


ÜBEH    l'HANKE,    liKAMM.    DER    SCHKIFTSl'IJAl'UE    LUTHERS  75 

scIii'L'i billig-  liäiti'  iM'lKUitlclt  wi-nlcii  nuisM'ii.  Doch  liisst  sich  dii'  iiikunsc([Uoiiz  hier 
eher  cutschukli;^'(Mi. 

Pioscii  orrirtcruiip'ii  alj^cinciiicivr  art.  die  mir  l'iir  die  VDrlieo-eiidc  l)esiiieehiiiii;' 
zuiiiiclist  die  haiiptsaciie  waren,  müii'eii  ciiiino  s]ieciclhM'('  l)Oinerkuiii,a!n  r()lü;(>n.  Ich 
\vill  nur  nocli  vorau.sscliiciicn.  dass  der  grosso  tlciss,  mit  dem  der  vcjrf'asscr  dio 
hclego  für  dio  oinzolnon  bohauptungen  aus  einer  umfassen<b'n  reihi^  rjutJiorseiior  sclirif- 
ten  horboigoscliaft  hat.  volle  anerkennung  verdient.  T.eiiler  stehen  dem  aUcrdings 
auch  eine  roiho  vimi  schwachen  gegenüber. 

In  dem  bereits  oIkmi  (s.  T-l  Ig.)  br-rührten  aufsatz  ülier  ..die  rd:d.  Verlängerung  der 
mild,  kurzi'n  stainvnkale  voi'  einfachen  koiisonanten"  beschränkt  sicii  iler  Verfasser  im 
i;  IG  darauf,  fälh;  anzufiihnii.  in  dem/n  dui'ch  die  bekanten  hilfsmittel,  die  sogenan- 
ten  dehnungszeielum,  länge  des  vokals  angedeutet  wird.  Es  liegt  zum  teil  an  der 
schon  oben  inisbilligten  anordnung  der  lielege,  dass  der  v«M'fasser  nicht  den  naehw('is 
zu  führen  vi'rsuclit.  in  welchen  fällen  di'nn  TiUther  wirklich  langen  \okal,  in  welchen 
aller  er  die  alte  kürze  liewalirt  hat.  und  dii.'  mügiiehkeit  dieses  nachweisos  ist  kei- 
neswegs ausgeschlossen.  Namentlich  die  starken  verba  der  /-reihe  bieten  in  dieser 
beziehung  ein  wertvolles  material.  Diese  hatten  im  mhd.  in  allen  |)rätoritalformen 
ausser  dem  singular  des  imlikativ  1.  Hierfür  findet  sich  hei  lAither  —  ich  beschränke 
mich  hierbei  auf  die  spräche  Luthers  in  der  septemberliibel  —  /  und  ie,  ersteres  in 
di'ujenigen  fällen,  in  welchen  dem  stamvokal  ein  ch ,  ff\  ff,  also  toidose  doppelspi- 
rans,  oder  tt  folgt,  ghüchviel  ob  leztoi'es  allen  formen  des  lietrehenden  verlmms  eigen 
ist.  oder  in  grammatischem  Wechsel  sonstigem  d  eutspi-icht,  ic  dagegen  dann,  wenn 
dem  Stammvokal  ein  b,  //,  )i ,  li  folgt,  oder  der  stamm  vokalisch  ausgeht.  Man 
vergleiche  etwa  folgende  belege:  (/c/rii-I/ci/  .^n]\.  7).  i:5.  Off.  18,  14,  f/n'ffcn  Math.  14^  3. 
2G.  öü,  Miriffen  Ap.  geseh.  Iß,  2L\  '_'3,  10,  ftriticii  Ap.  gesoh.  23,  9,  etiiUcn  Math. 
27,  1!),  Marc.  5.  2G  neben  (jefclirirhni  Math.  2,  fj.  4,  4.  0.  10,  ftiniru  Luc.  ö,  10. 
Ap.  gesch.  1,  13,  crfcliieiicit  ]\Iath.  IT,  3.  rcrlicliDi  vorrode  z.  Rom.  abs.  1,  fclirkhen 
Math.  8,  29.  9,  27;  das  //  in  fdi riehen  ist  nur  hiatusfüllend,  ich  habe  aber  die 
form  in  dieser  Schreibung  als  beleg  gewählt,  weil  sie  so  die  obige  behauptung  besser 
illustriert;  es  finden  sieh  auch  die  Schreibungen  fchrien  Joh.  19,  ß  und  fchnjen 
Job.  19,  12.  Die  rogelmässigkeit  dieses  wechseis  im  auftreten  von  /  und  ic  beweist, 
dass  in  den  lezten  fällen,  also  vor  einfachem  tönenden  konsonant  und  im  auslaut,  der 
vokal  gedehnt  ist,  dass  er  aber  vor  tonlosem  doppclkousonanteu  seine  früln.'re  kürze 
bewahrt  hat.  Über  die  dehnungsfrage  in  mhd.  zeit  spricht  sich  Weinhold  Mhd.  gr. - 
an  verschiedenen  stellen  aus,  so  §  15,  24,  32,  51,  55  usw.;  zum  oben  behandelten 
fall  vgl.  liesouders  §  354  schluss,  ferner  Bartsch  zur  Erlösimg  2739,  Riegor  in 
der  einleitung  zur  Elisabeth  s.  24  fg.  u.  a.  m.  So  leicht  nun  von  der  anwendung  der 
delmungszeichen  auf  die  länge  des  vokals  geschlossen  werden  kann,  so  schwer  oder 
noch  schwerer  lässt  das  unterbleiben  dieser  bezeichnungsart  auf  erhaltene  kürze  oder 
gar  auf  mögliche  kürzung  schliessen,  wenn  nicht  wie  in  dem  oben  erwähnten  fall 
eine  sol(;he  schroffe  gegenüberstellung  von  Ijelegen  möglich  ist.  Auch  die  resultate, 
die  sich  aus  den  beobachtuugen  über  etwaiges  unterbleiben  der  diphthougierung  der 
alten  längen  l  li  iu  ergeben  könten,  haben  für  den  vorliegenden  zweck  weing  oder 
gar  keine  beweiski'aft.  Trotz  der  anerkennung  dieser  Schwierigkeiten  versucht  Franke 
im  §  17  aus  dem  fehlen  der  dehuungszeichcn  für  einige  fälle  erhaltene  alte  kürzen 
nachzuweisen,  stelt  diese  jedoch  selbst  zum  grösseren  teile  als  fraglich  hin,  nament- 
lich wenn  der  heutige  obersächsische  dialekt,  den  er  zur  feststellung  dieser  tatsachen 
herbeizieht,  ebensowenig  wie  die  jetzige  Schriftsprache  den  kurzen  vokal  bewahrt  hat. 


76  LUTHER 

und  auch  in  der  erwägung,  dass  der  vokal  mancher  wörter  wie  z.  b.  des  nhd.  jähr 
zwar  von  alters  her  lang  ist,  aber  bei  Luther  stets  „ohne  dehnungszeichen"  erscheint; 
Dem  aufsatz  über  die  dehnung  folgt  der  über  den  umlaut.  Das  unterbleiben 
des  Umlauts  von  a  in  einigen  Wörtern  belegt  Franke  zwar  mit  einer  reihe  von  beispie- 
len,  ohne  jedoch  auf  den  grund  dieser  erscheinung  einzugehen;  alte  flexionseigentüm- 
lichkeiten,  folgen  alter  Wortbildung,  schliesslich  auch  die  Widerstandsfähigkeit  gewisser 
dem  umzulautenden  vokal  folgender  konsonantengruppen ,  über  die  für  das  ahd.  Braune 
in  Paul-Br.  Beitr.  FV,  s.  540  fgg.  handelt,  konten  zur  erklärung  leicht  herbeigezogen 
werden;  siehe  auch  Franke  §190.  Nicht  nur  „anfänglich"  (Franke  §  20)  findet  sich 
offetiberlieh  bei  Luther,  sondern  auch  später  noch,  z.  b.  in  dem  Lufftschen  druck  „Kurtz 
bekentnis  D.  Mart.  Luthers  vom  heiligen  Sacrament",  ...  Wittemberg  1544,  bl.  Bij*; 
ebenda  klerlich  bl.  Bij ''.  Soll  e  in  erbeit  und  den  zugehörigen  Wörtern  bei  Luther  wirk- 
lich imilauts-e  sein?  Im  ahd.  hoisst  das  wort  araheit;  und  die  Zusammenstellung  mit 
dem  stamme  von  erbe,  mhd.  erbe,  ahd.  erbi  arbi,  got.  arbi,  die  schon  Grimm 
DWb.  I,  sp.  539  machte,  und  die  auch  Weigand  DWb. ^I,  s.  70  und  Dietz  "Wb.  zu 
Luthers  deutschen  schritten  I,  s.  111  fg.  übernommen  haben,  ist  von  Kluge  EWb.  s.  9 
energisch  in  frage  gezogen  worden.  Lexer  Mhd.  wb.  I,  sp.  88  hält  die  form  erbeit  eben- 
fals  für-  umgelautet,  ohne  jedoch  dies  zu  begründen,  belegern,  belegerung,  jezt 
belagern,  belagcriing ,  die  Franke  gieichfals  für  formen  mit  umlauts-e  gegen  den 
jetzigen  gebrauch  hält  (§  22),  haben  mhd.  e,  vgl.  Lexer  IVIhd.  wb.  I,  sp.  171  und  Wei- 
gand DWb.  I  ^,  s.  183  u.  1047,  dazu  mhd.  leger,  ahd.  legar.  Hier  hat  die  vergleichung 
ndt  dem  nhd.,  welcher  der  Verfasser  zweifelsohne  diesen  irtum  verdankt,  unheilsam 
gewirkt.  Im  §23,  „unterbleiben  des  umlauts  von  «?*",  hätte  eine  trennung  zwischen 
altem  cm  =  mhd.  ou,  und  dem  erst  aus  il  neuentstandenen  gemacht  werden  sollen, 
da  dies  für  die  spräche  Luthers  nicht  ohne  belang  ist;  namentlich  eine  genaue  und 
umfassende  beobachtung  der  umlautung  von  au  =  altem  ü  könte  aufschlüsse  über 
den  umlaut  der  dunklen  vokale  bei  Luther  und  im  md.  überhaupt  geben.  Das 
geschieht  aber  bei  Franke  nicht.  Bei  der  erörterung  des  umlauts  von  o  und  u  haftet 
der  Verfasser  völlig  an  der  äusseren  darstellung  desselben  durch  die  schritt.  Zwar 
war  er  schon  im  §  18  am  schluss  seiner  algemeinen  betrachtungen  über  den  umlaut 
für  die  spräche  Luthers  in  der  bibel  von  1545  zu  dem  resultat  gekommen,  dass,  da 
hier  die  umlautsbezeichnung  von  o  und  u  auch  in  fäUen  stehe,  wo  ihn  die  jetzige 
Schriftsprache  nicht  habe,  „im  grossen  und  ganzen  der  umlaut  von  o  und  u  in  ihr 
fast  in  demselben  masse  vorhanden"  sei  als  jezt.  Aber  diese  folgerung  beruht  auf 
einer  plötzlichen  identificierung  von  umlautsbezeichnung  und  dem  Vorhanden- 
sein desselben.  Diese  beiden  punkte  müssen  aber  in  drucken  jener  zeit  streng 
getrent  gehalten  werden;  das  erfordert  das  grosse  schwanken  der  umlautsbezeichnung 
sowol  bei  den  verschiedenen  druckem  als  in  den  drucken  einer  und  derselben  officin. 
Die  notwendigkeit  einer  trennung  der  druckerfirmen  bei  der  besprechung  dieser  frage 
sieht  auch  der  Verfasser  ein  und  nimt  deshalb  eine  dahin  zielende  sonderung  im 
§  25  verschiedentlich  vor;  man  vgl.  dazu  meine  oben  s.  69  und  früher  im  Anz.  f. 
d.  a.  a.  a.  o.  gegebenen  belege.  Gerade  diese  Schwankungen  in  der  bezeichnung 
zwingen  uns,  für  das  Vorhandensein  resp.  die  ausdehnung  des  umlauts  noch  andere 
quellen  in  ansprach  zu  nehmen.  Eine  eingehende  Untersuchung  der  rad.  reimdenk- 
mäler  muss  hier  den  boden  bilden,  auf  welchem  weiter  zu  arbeiten  wäre.  Dem  von 
mir  im  Anz.  f.  d.  a.  XV,  s.  335  angeführten  Wortspiel  zwischen  bdtel  und  bottel  will 
ich  hier  ein  anderes  zufügen  aus  Luthers  schritt  „Wider  den  Bifchoff  zu  Magdeburg 
Albrecht  Cardinal.     D.  Mar.  Luth.  1539".    Wittemberg,  Hans  Lufft,  bl.  Cj'':    Oleich 


f'BER    FRANKE,    r.RAMM.    DER    SCIIRTFTSPRArHE    LUTHERS  77 

irir  der  lirllifcli<-  ...  Card/ital  nicht  (/n/n/  Indtc  j  d(it<  er  SrJn')>//:'.r)/  rrnnrrdrt  j  S())i- 
ilcrn  niufte  cmcli  alle  feine  giilcr  nentcn  /  urie  jm  die  Se//e])])cn  rnd  Vniuerfi- 
Icten  haben  gefprücken  j  als  er  fich  rli/iinet  j  Aber  es  fei/  Seheji])s  oder  Bock 
.  .  .  I  da  fragt  der  Jiöheft  Riclitcr  nirhts  nach  .  .  .  Das  erste  wort  ist  inhd.  seheffe 
scJ/epfe.  alul.  seeffin  seaffin,  das  andcn'c  inlul.  sehöps  sehopz,  aus  dem  slav.  oiitlehiit, 
czecli.  skopce.  Audi  die  schrcilnmg  Scliepps  mit  e  statt  o  weist  schon  auf  unilaut 
hin.  Wenn  scliliesslich  Frauke  im  ij  25,  (!  beiiauptot,  dass  seihst  noeh  in  d(,'r  liibel 
von  lölö,  in  welcher  die  lungelauteteu  formen  „ganz  htMicutend"  überwiegtMi,  dei" 
,,unilauf  von  o  und  n  „regolmässig''  unterbleibe,  sobald  im  anlaut  r  i'ür  v^,  resp. 
die  majuskeln  statt  der  minuskeln  stünden,  so  ist  dies  wider  nur  eine  vei'wechselung 
zwischen  dem  unterbleiben  der  umlautslxizeichuuni;-  und  dem  Vorhandensein; 
in  den  Iczterwähnten  fällen  liegen  sicher  nur  typographische  eigenhoitcn  voi'. 

Nuunu'hr  geht  Franko  auf  die  behandlung  der  einzelnen  vokale  über.  — 
Im  t>  27  werden  beispiele  gebracht,  in  denen  Jjuther  md.  kurzes  /  für  mlid.  kui'- 
zes  c  in  stamsilben  hat;  aber  iiirf'Jnifft  ist  jnhd.  In'rsclnift  mit  r,  und  für  liir- 
fchcn  schwankt  das  mhd.  zwisclieii  iicrscn  und  hi'rscn,  ahd.  hcrisön.  Eine  sub- 
sumierung dieser  Wörter  unter  die  Überschrift  dieses  paragraphen  war  dabei'  nicht 
gerechtfertigt.  —  Zu  §  30,  4  sei  bemerkt,  dass  neben  leinen  nicht  nur  linnad 
mit  /  vorkoint,  sondern  aucli  Igneii.  linci/  Ap.  gesch.  10,  11,  Luc.  24.  12  in  der 
septomberbibel.  Franke  will  das  /  in  linn-ad  durcli  „  niögliclu'rweise  .  .  .  infolge 
der  konsouantenliäufung "  eingetretene  „Verkürzung"  erklären,  „wie  ja  auch  das 
jetzige  schriftdeutsche  linnen  =-  mhd.  linin  hat";  Kluge  im  KWI).  sucht  viel- 
mehr zur  erklärung  des  nlid.  linnen  niederdeutschen  einfluss  herbeizuziehen.  — 
s^  32  behandelt  „mhd.  langes  [sie!]  ie  für  nhd.  //";  als  belege  dienen  die  beiden  verba 
nhd.  lügen,  trügen,  mhd.  liegen,  triegcn,  mit  den  dazu  gehörigen  stamverwanten. 
Hier  liegt  aber  kein  spontaner  lautwandel  vor,  sondern  lügen  ist  eine  neubilduug  von 
lag,  lüge,  nach  gewöhnlicher  annähme  uutei-  einwirkung  einer  beabsichtigten  ditle- 
renzieruDg  von  liegen  (jacere),  vgl.  Heyne  in  (jrimin  DWb.  VI,  sp.  1273,  Weigand 
I)Wb.  P,  s.  1111,  und  trügen  ist  dementsprechend  gebildet.  —  Im  §39  bespricht 
Franke  md.  e  bei  Luther  für  mlid.  und  nhd.  ei,  führt  dabei  aber  auch  xivenxdg  = 
mhd.  x/veinxec,  nhd.  xicanxig  als  beleg  auf;  übrigens  ist  auch  xn-enx-ic  mhd.  —  Im 
§  40  behauptet  Frauke  die  Identität  der  ausspräche  von  e,  =  altem  (■',  und  e,  dem 
Umlaut  von  a,  für  Luthers  spräche.  Sein  einziges  beweismittel  ist  der  tatbestand  in 
der  jetzigen  Schriftsprache.  Da  aber  in  mhd.  zeit  ein  solcher  imterschied  imbesti'it- 
ten  vorhanden  war,  so  kann  natüiiich  dieser  alleinige  hinweis  auf  das  nhd.  nicht 
genügen.  —  Die  angäbe  im  §41,  dass  adder  (=  oder)  in  der  septemberbibel  „nui- 
noch  4 mal"  vorkomme,  hat  Frauke  jedenfals  aus  Dietz  Wb.  zu  Luthers  deutschen 
Schriften  I,  s.  Vll.  Es  mag  erwähnt  werden,  dass  es  in  Wirklichkeit  sieh  dort 
noch  fünf  mal  findet,  ausser  an  den  angegebenen  stellen  nämlich  noch  Ap.  gesch. 
3,  12.  —  Im  §  43  wird  das  schwanken  zwischen  mhd.  d  und  nhd.  e  bei  Luther 
erörtert,  und  dabei  auch  die  imperative  gang  und  ftand  als  beh'ge  aufgeführt.  Diese 
formen  haben  aber  niemals  <l  gehabt  und  geliören  deshalb  nicht  in  diesen  paragra- 
phen. —  Als  einziges  beispiel  für  mhd.  o  bei  Luther  =  nhd.  u  wird  im  §  46  das 
wort  nntulicorff  =  mhd.  moUmorf  angeführt.  Aber  es  gibt  im  mhd.  auch  die 
form  molttverf  molttverfe,  deren  vokal  etymologisch  wol  der  ursprüngliche  ist, 
neben  anderen  formen  wie  nci'dicerf  u.  a. ,  die  ebenfals  c  haben;  ahd.  finden  sich 
■>noltiverf  und  mnlt/nrrf.  Das  beispiel  ist  also  höchst  unglücklich  gewählt.  —  Zu 
Frankes  ansieht  von  dem  „mutmasslich"  erhaltenen  o  für  nhd.  ö  in  Wörtern  wie  wol 


78  LUTHER 

iconen  geftolen  verweise  ich  auf  das  oben  bei  besprechung  der  dehnung  im  algemei- 
nen gesagte.  —  §  51:  ö  bei  Lutlier,  mhd.  uo,  nlid.  ü  entsprechend  findet  sicli  auch 
in  dem  werte  wermot  Off.  8,  11  in  der  September-  und  der  decemberbibel;  von  da 
ab  steht  icermut.  —  §  52,  2  sagt  Franke,  dass  u  in  fun  (filiusj  sich  bis  1520  finde; 
ein  beleg,  allerdings  ganz  vereinzelt,  ist  aus  dem  jähre  1522  in  der  septemberbibel 
Ap.  gesch.  9,  20.  —  Im  §53  wird  nhd.  taugen  auf  mhd.  tugen  tilgen  zm'ückgeführt, 
und  hieraus  durch  dehnung  des  u  zyy  ü  und  darauf  folgende  diphthongierung  des 
lezteren  erklärt.  Das  wäre  ein  für  die  chi'onologie  dieser  spraclilichen  erscheinungen 
recht  interessanter  fall.  Leider  stamt  der  diphthong  aber  aus  dem  schon  mhd.  vor- 
handenen schwachen  verbum  tougen  tongete  touhte,  vgl.  Weinhold  Mhd.  gr.  "^  §420, 
wie  auch  von  tugen  präs.  ind.  sing.  1.  3.  touc  lautete.  Warum  solte  auch  die  diph- 
thongierung nur  das  verbum  und  nicht  auch  das  subst.  mhd.  tugcnt,  nhd.  tilgend 
betroffen  haben?  Vorsichtiger  drückt  sich  der  Verfasser  später  im  §  234  aus,  wo  er 
sagt  „für  unser  taugen  steht  [bei  Luther]  noch  das  praeterito  -  praesens  tilgen.'^  — 
Im  §  59  nimt  Franke  für  das  sehr  seltene  uff  bei  Luther  =  mhd.  üf,  nhd.  auf  — 
Franke  belegt  vffm  und  tiff'erftentniß  —  langes  u  in  ansprach,  während  er  im  §  54 
für  das  bei  Luther  sich  findende  fufftxen  luff't'X,en,  neben  dem  schon  seit  frühester 
zeit  nebenformeu  mit  eu,  einhergehen  —  z.  b.  feufftxen  Ap.  gesch.  7,  34,  erfeufftx,et 
Marc.  8,  12  in  der  septemberbibel  — ,  mhd.  siufoen  sniften,  ahd.  süfton  süftjön, 
kurzes  u  resp.  ü  ansezt.  Die  geringe  betonung  der  präposition  lässt  aber  eine  kür- 
zung,  wenn  wir  solche  überhaupt  annehmen  woUen,  für  dieses  wort  mindestens 
ebenso  wahrscheinlich  sein  wie  für  das  genante  verbum.  —  Bei  der  besprechung  des 
diphthougs  ei  und  seines  Vorkommens  bei  Luther,  Franke  §  63  —  65,  fehlt  ganz  die 
erwähnuug  jenes  ai  ei,  welches  aus  altem,  noch  mhd.  vorhandenem  -age-  -ege-  her- 
vorgegangen ist,  und  das  sich  bei  Luther  schon  allein  in  der  septemberbibel  in  magd 
Luc.  1,  38,  meydlin  Math.  9,  24,  Marc.  5,  41.  6,  28,  meydlyn  Marc.  6,  28,  meydle 
Math.  14,  11,  megde  (plur.)  Luc.  12,  45  neben  magd  Marc.  14,  69,  Luc.  1,  48, 
megde  (plur.)  Marc.  14,  66,  Ap.  gesch.  2,  18,  mhd.  maget,  ahd.  magad,  sowie  in 
getreyde  Ap.  gesch.  7,  12,  mhd.  getregede,  ahd.  gitragidi  findet;  für  getreyde  s.  wei- 
tere belege  bei  Dietz  Wb.  zu  Luthers  deutschen  schritten  II,  s.  109.  Über  dieses  ei 
spricht  sich  schon  Fabian  Frangk  in  seiner  „Orthographia  .  .  ."  Wittemberg  1531, 
bl.  Dj'^  aus:  Der  Meichffner  nimpt  auch  das  oy.  der  Schießer  aber  das  ay  /  für 
ag  odder  age  /  Als  /  wenn  der  Meichffner  fpricht  /  die  mögt  foyt  /  der  woyn  zSyl 
nnnd  noyl  le  j  Sagt  der  Schlefier  /  die  mayt  fayt  /  der  tvayn  xayl  vnd  nayl  :c  / 
für  j  Die  magt  fagt  /  der  wagen  fMgel  vnd  nagel  :e.  Neuerdings  hat  Hermann 
Fischer  Zur  geschichte  des  mhd.  (Einladungsschrift  der  imiversität  Tübingen  1889) 
ausführlich  hierüber  gehandelt,  dabei  auch  die  geographische  ausdehnung  dieser 
erscheinung  festzustellen  gesucht;  das  lezte  natürlich  nicht,  ohne  sich  von  selten  des 
Sprachatlasses  oder  derer,  die  ihm  nahe  stehen,  den  bekanten  warnungsruf  „abwar- 
ten" zugezogen  zu  haben.  Diese  warnungsrufe ,  besonders  aus  der  DLZ.,  sind  höchst 
ungerechtfertigt;  im  gegenteil  müssen  wir,  so  lange  das  material  des  Sprachatlasses 
dem  wissenschaftUchen  publikum  unzugänglich  ist,  für  jede  dialektgeographische  arbeit 
dankbar  sein,  auch  wenn  sie  zu  anderen  ergebnissen  gelangt,  als  sie  dermaleinst  der 
Sprachatlas  erzielen  wird. 

'  Mit  den  diphthongen  schliesst  die   besprechung  der  vokale  und  der  Verfasser 

geht  im  §  67  zu  den  kousonanten  über.     Ich  werde  mich  im  folgenden  etwas  kürzer 
zu  fassen  suchen. 


ÜBER    FRANKK,    r.RAMM.    DER    SCHRIKTSI'KACIIE    LUTHERS  79 

Fraiiki'  lielniiidclt  in  dorn  kaiiili'l  ülicr  die  kousonantoii  /.usaniinciiliilngend  nur 
„das  iiihd.  auslautsgesetz",  d.  li.  die  üLerrcsto  des  alten  regelmässigen  wechseis  zwi- 
schen aus-  und  inlauten<lein  l<uns()nant(,'n,  soweit  sie  die  scliriltliche  widergahe  von 
Luthers  spräche  noch  erhalten  iiat,  der  im  iniid.  auch  in  di'r  sclirii't  encrgiseli  her- 
vorgeliuben  wurde,  während  er  sieh  im  idul.,  soweit  er  hier  überiiauiit  noch  vorhau- 
deu,  in  dv.v  sehrift  gänzlich  verloren  hat.  Andere  algemeincrc  zusammcnfassungeu, 
wit^  etwa  hetrachtungcn  über  die  reste  grammatischen  weclisels  btji  Liithei',  macht 
Fraidie  inclit.  Im  übrigen  b(!S})riclit  er  in  althergebrachter  klassificierung  die  lijipen -, 
Zungen-  und  gaumeid<nnsonanten;  /  und  /•  rechnet  er  den  zungenkousonanten  zu.  — 
Unrichtig  ist,  wenn  Frauke  im  J;  (iS  sagt,  dass  hi  henhf  (caput)  und  seineu  Zusam- 
mensetzungen inlautendes  />  „(jhue  ausiiaiime^  stehe;  allein  aus  der  septemberbibel 
führe  ieii  dagegen  an  liaivptjiians  Luc.  7,  2,  hcicptnmu  Aj).  gesch.  21  ,  .'57,  nitcr- 
InirphiKOi  .Vp.  gesch.  22,  2.").  rhcritr/rjific/ftlei/  Ap.  gesell.  2.5,  23,  vb/rhe/cjit/inni  .loli. 
18,  12.  cittluirj)t(i  ]\Iath.  II,  10.  —  Zu  dem  schwanken  zwischen  .^clnrchcl  und 
sc/urc/rl  n.  dgl.,  für  das  Franke  keine  erklärung  gibt,  ist  zu  crwilhnen,  dass  U.  .läiücke 
l'ber  die  niederdeutschen  demente  in  unserer  Schriftsprache  (progr.  I),  Wriezen  1869, 
s.  IG  in  den  formen  mit  /'  niederdeutsche  lautstufe  erhalten  glaubt,  indem  er  allerdings 
aus  Luthers  spräche  a.  a.  o.  nur  die  .Schreibung  schnebrl  anführt;  Paul  Mhd.  gr.  -  §81 
sieht  in  dem  nüid.  schwanken  zwischen  /•  und  b  auch  in  den  dopjielformeu  s/rerel 
i</(i'bel  ülierbleibsel  gramnuitischen  wechseis.  —  In  §7Üb  findet  sich  unter  der  für  eine 
historische  gramniatik  höchst  kuriosen  Überschrift  „fehlendes  b  wie  mhd.'-  angegebeu, 
dass  sich  bei  Luther  öfter  r/cl  =  nhd.  gelb  fände.  Es  hätte  vielmehr  darauf  hin- 
gewiesen werden  müssen,  dass  gel,  welches  mhd.  in  den  oblii]uen  kasus  ein  dem  / 
folgendes  /c  hatte,  bei  Lutlier  überwiegend  mit  einfachem  /  vorkonit,  zuweilen  aber 
au  stelle  des  /c  ein  //  aufweist,  vgl.  die  belege  bei  DietzWIj.  11,  s,  .59;  dieses  b  drang 
auch  iu  die  nonünativform.  vgl.  Dietz  a.  a.  o.  Derselbe  fall  liegt  vor  bei  dem  ad],  färb, 
mhd.  rar  ranrea,  bei  Luther  nur  noch  in  Zusammensetzungen,  vgl.  Dietz  a.  a.  o.  I, 
s.  631,  ferner  s.  v.  „buntfarb~  Dietz  I,  s.  362,  dazu  rofynfarb  rofynfarben  Off.  17,  4.  3  iu 
der  Septemberbibel,  später  rofiitfarbtn.  —  §.71,  2,  „die  einschiebuug  \(m  b  oder 
p  zwischen  m  und  (/  oder  t  usw.-,  gehört  bei  exakter  darstellung  iu  die  lelire  von 
der  rechtschreibung.  Denn  b  oder  p  in  worten  wie  frembd  bcrionbt  bcräntpt  itititpf 
bmipt  ist  nur  die  graphische  bezeichnung  desjenigen  lautelemeutes,  das  auch  heute 
noch  au  dieser  stelle  sich  in  der  ausspräche  findet.  Nur  die  analogieschreibuug,  die 
auch  die  sjtrachliche  Verschiedenheit  zwischen  dem  tonlosen  auslauts-  imd  tönenden 
inlautskonsonauteu  in  der  schritt  ignoriert,  hat  iu  den  fällen  genanter  art  das  b  oder 
p  beseitigt.  —  Durch  die  herscheude  unglückselige  vergleichung  mit  deni  rdid.  kom- 
men unter  den  lippenlauten  Wörter,  die  unverschobenes  p  bewahren,  wie  napen 
u.  dgl.  neben  /raffen,  ferner  l/'ppe  f'foppeln,  die  sich  bei  Luther  finden,  gar  nicht 
ziu'  erwähnung;  nur  f'eJ/Hiippen  wii'd  im  §  72,  der  „uuverschobeues  pp  für  nhd.  2^f~ 
überschneben  ist,  hervorgehoben.  Dass  später  bei  der  erörterung  des  Wortschatzes 
in  der  algemeiuen  Übersicht  §136  erwähut  wird,  dass  lipjje  ein  nid.  wort  sei,  wone- 
ben die  obd.  form  lefxe  bei  Luther  nicht  vorkomme,  macht  jene  Unterlassung  in  der 
lautlehre  nicht  ungeschehen.  —  Ln  §  78  behauptet  Franke,  dass  Luther  „stets'^  die 
form  befein  =  nhd.  bef'en  habe ,  und  belegt  auch  nui'  auslautendes  )n ;  auslautendes  u 
iu  diesem  worte  führt  aber  Dietz  I,  s  275  schon  aus  dem  jähre  1522  au. —  Zu  §  101: 
selten  die  neben  einander  vorkommenden  formen  flöhe  und  flöge  u.  a.,  die  Franke 
durch  die  „ausspräche  des  //  als  reibelauf",  „für  das  verdichtete  /*  geschrieben'", 
erklärt,  nicht  besser  als  reste  des  grammatischen  wechseis  zu  betrachten  sein?    Die- 


80  LUTHER 

selbe  erklärung  gilt  für  §  111;  indessen  findet  sich  Ihier  der  Verfasser  mit  der  tat- 
sache  eines  Schwankens  zwischen  „mhd.  h  und  nhd.  g^  in  gewissen  Wörtern,  uhd. 
schlagen  und  ziehen,  ab.  —  In  §  113,  1,  „abfall  des  li  im  anlaut",  muste  ausser 
dem  h  im  anlaut  „unbetonter"  silben  auch  dieses  abfals  im  subst.  er  (dominus)  gedacht 
werden;  belege  von  1520 — ^1530  gibt  Dietz  I,  s.  552.  Über  die  geschicke  dieses  er 
in  der  rechtssprache  hat  neuerdings  A.  Stölzel  Fünfzehn  vortrage  aus  der  branden- 
burgisch-preussischen  rechts-  und  Staatsgeschichte,  (Berlin  1889)  s.  3  fg.  gehandelt.  ^ 
§  114  bringt  als  belege  für  den  „antritt  von  h  im  anlaut"  die  formen  her  (ille)  und 
hunden;  das  anlautende  h  dieser  W'örter  ist  aber  für  beide  ganz  verschiedenen 
ui'sprungs.  Wurde  hunden  erwähnt,  so  musten  auch  formen  wie  hcmssen  neben 
aussen,  auch  hynnen  neben  ymien  jilatz  finden. 

Die  abschitte  „wertschätz"  und  „Wortbildung"  waren  im  algemeineu  schon 
oben  s.  71  fg.  kurz  besprochen.  Ich  will  mich  mit  einzelheiten  hier  nicht  mehr  auf- 
halten; ausserdem  geben  diese  abschnitte  im  einzelnen  weniger  grund  zu  aussetzuu- 
gen  wie  diejenigen  über  das  lautsystcm.  Namentlich  bietet  Franke  vielfach  gute  und 
ausführliche  worttabellen ,  die  füi'  manche  selten  der  Sprachgeschichte  von  Wichtigkeit 
sind.  —  Im  §  147,  7  rechnet  Franke  zu  zusammengesezten  hauptwörtern  auch  das  wort 
ferge  (=  fährmann).  —  Falsch  ausgedrückt  ist  es  jedenfals,  wenn  der  Verfasser  im 
§  148,  3  unter  den  adjektiven,  welche  die  eudung  -en  für  mhd.  -tn  haben,  wie 
hultxen  elffcnbeincn  u.  dgl. ,  schliesslich  harin  als  „noch  mit  der  mhd.  endung 
w"  behaftet  aufführt.  Das  könte  den  schein  erwecken,  als  hielte  der  Verfasser 
dieses  i  in  harin  noch  für  lang,  wie  es  im  mhd.  war;  aber  es  ist  bei  Luther 
genau  so  kurz  wie  etwa  das  i  in  ofßfibar  neben  offenbar,  welches  sich  häufig 
genug  findet,  und  das  auch  Franke  im  §  28  erwähnt.  —  Die  elision  der  nach- 
tonigen e  in  den  mit  -e/-,  -ew-,  -er-  abgeleiteten  verben  behandelt  der  Verfas- 
ser im  §  161,  2.  Es  ist  bekant,  dass  in  diesen  verben  bald  das  flexions-,  bald 
das  ableitungs-e  synkopiert  wird.  Im  lezten  falle  meint  der  Verfasser,  es  fehle 
bei  den  mit  -en  abgeleiteten  verben  sowol  im  Infinitiv  als  auch  bei  den  andern 
formen  auf  -en  diese  endung  „dann  gänzlich".  Es  geht  aus  dieser  äusserung 
nicht  mit  Sicherheit  hervor,  wie  sich  der  Verfasser  den  betreffenden  Vorgang  denkt; 
aber  es  hat  nach  andern  gleich  zu  erwähnenden  behauptungen  des  Verfassers  in  der 
tat  den  anschein,  als  glaube  er  hier  an  den  abfall  der  endung  -en.  Betrachten  wir 
dieses  scheinbare  fehlen  der  endung  im  zusammenhange  mit  anderen  gleichartigen 
erscheinungen ,  soweit  der  Verfasser  dieselben  im  laufe  seiner  darstellung  noch  erwähnt, 
so  stelt  sich  in  der  hauptsache  dabei  folgendes  heraus:  Die  endung  -en  schwindet 
scheinbar  1)  wenn  sie,  wie  in  dem  vorliegenden  falle,  an  die  mit  -en  abgeleiteten 
verbälstämme  tritt  (§  161,  2),  2)  im  dativ  pluralis  der  feminina  auf  -in  (§  189),  3) 
wenn  sie  sowol  in  der  schwachen  als  in  der  starken  deklination  an  substantiva  oder 
adjektiva  tritt,  die  schon  auf  -en  ausgehen  (§  202,  5).  Ferner:  die  endung  -es  fält 
scheinbar  fort  1)  im  gen.  sing,  von  Substantiven,  die  auf-s  auslauten  (§  176,1,  §  181,  2); 
„regelmässig"  tritt  dieses  ein  „bei  den  sächlichen  hauptwörtern  auf  -nis"-  (§  181,  1). 
Hierzu  gehört  2)  die  erscheinung,  dass  die  pronorainalform  es  häufig  in  nebensätzen 
mit  dass  oder  als  fehlt,  „ohne  dass  es  sich  aus  dem  hauptsatze  ergänzen  Hesse" 
(§  265,  4  b).  "Weiter:  „im  gen.  sing,  und  dat.  sing.  fem.  und  im  gen.  plur.  aller  drei 
geschlechter  hat  Luther  nacli  mhd.  regel  bei  den  besitzanzeigenden  fürwörtern  unser 
und  euer  die  endung  -er  gewöhnlich  und  zuweilen  auch  bei  ander  sowie  bei  kompa- 
rativen nicht"  (§  202,  7).  Und  schliesslich  fält  die  verbalenduug  -et  bei  verben, 
deren  stamm  auf  t  oder  d  endet,  scheinbar  „oft  ganz"  fort  (§225  g).     Diese  erschei- 


ÜBRR    IRANKE,    riljA:\i;\t.    DEIt    SrilinFTSl'KAfllK    I.TTTIIF.RS  ■        81 

iiuiij;vii  lii-nont  der  vi'rtassor  v(M-schi(Mli'iitli(!li  an  di'ii  angegeboiiou  stellen  als  „alii'all'' 
(idor  .,\vef;rall-   der  lietrcfrciidon  endmi^eii,    i'osp.   ^weglassung-''  jeniM-  prdMoniinaltbnn. 
Davon  kann  alior  natürlich  keine   ivde  s(Mn.    Vielmehr  liegt  hier  einfaeh  eine  synkepe 
des  oiiduiigsvokals  und   daranf  t'olgenth!  lautliche   vereiniachung   des  endkonsonantiHi 
\or.      Auf  diese   weise   wird   aus   dei-   vollen    form   brf/rrjpurn   zunächst   hrf/rf/rnt?    und 
dann   hn/ct/cii    nelien   dei'   tonn  />r(/rf/>irii   mit   syidcoiiiei'tem  ahleifuiigsvokal;    oder  aus 
xcicliemn  zunächst   \rirli('iui  und  daini  \ri('ltn/ ,  wie  es  sich  etwa  in  dem  sulistantivnm 
xeirhenunferrifht  nc.dieii   •.riclnicumiirn-irlit ,  oder  wie   sich  solch  nebeneinaiuhu-stelien 
auch  in  dem  werte  rcclicuhrfl  nel)en  reclmcnlieft  noch  heute  fliulet  und  schon  mancliem 
schulkinde  Schwierigkeit  in  der  entscheidung  bereitet  hat.      Pas  scheinbare  fehlen  der 
lironominalform  rs  nacli  (htsx  und  ah  betont  schon  Wimderlich   ITntersu(-hungen  ülier 
tlen  sat/cliau  Lutliers  1  (Miinehi^n  i8S7)  s.  31;  über  den  scheinbaren  ausfall  dei'  prono- 
niinalforni   er   nach   snixlmi.    \nid    oilrr   vgl.    ebd.  s.  17  ;';-   und   dazu   sowie   iilier   die 
ultMelie  erseheiiumg   hei  dem  artikel  den  nach  den  präpositiouen  mt  und  in  die  bemer- 
kungen  im   .\nz.  f.  d.  a.  XIV  (1888),  s.  25G  fg.  und  s.  258.  —  Wie  kernt  v/r/w«  (=  hin 
und  hei'  liewegcn)   dazu,    unter  die  „mit  pi'äfixen  versehenen  und   zusammeugesezten 
tiirigkeitswörter"    des  §  1(!4    gerechnet  zu  werden?    vgl.  die  bomerkung   zu   §  147.  — 
§  r7o.   Die  ausdrücke  „der  al)fall   des  auslautenden  r'.s  [sie!]",    „diese  al>werfung  des 
r'x  |!J"  ki'mnen  unmöglich   als   schön   gelten;    ebensowenig  im  §231,  2   „der  wegfall 
des  auslautenden  es  [!]",   §  178  „als  rest  des  alten  n's  [!]".  —    Dass  der  gen.  sing, 
des  pronomens  dn  gewi'ihnlich  d'^iii  und  nur  r'inmal  deiner  5.  Mos.  13,  17  laute,  hat 
schon  Grimm  DWb.  II,  s.  148.'.  und  nach  ihm  Dietz  I,  s.  4G0  behauptet.     "Wir  haben 
aber  dieselbe  form  auch  in  deij/ier  lialhcn  Aj).  gesch.  28,  21  in  den  Lottherschen  drucken 
des  neuen  testameuts  von  1522  (sei)t.  u.  dec),  1524  und  1520,   während  Hans  Lufft 
(1530,  1544  45)  de  hui  halben   dafür  oiusezt.  —    Im  §  225  hätte  Franke  bei  bespre- 
eluuig  der  syukopieruug  des  „r  in  den  alten  praeseusendungeu  -est  und  -et"-  die  fälle 
der  zweiten  persou,  in  denen  sich  das  prouomen  du  (IteyftM  hetriihftn)  an  die  enduug 
lehnt,   von   denen  scheiden  müssen,    in  deneu  das   nicht  geschieht,    denn   der  antritt 
dieser  pronomiualform  und  die  dadurch  eintretende  Verlängerung  des  wortes  üben  auf 
den  tonwert  der  verbalen  endung  bestimmenden  einfluss.  —  Im  §  227,  II,  3  stelt  Frauke 
die    imperativformen   des  singular  ftand  und  ftehe    neben    anderen    formen   wie  halt 
lullte  als  beispiele  für  em  schwanken  zwischen  erst,  dem  mhd.  entsprechend,  endungs- 
loser,   später  alter  mit  endung  versehener    impei-ativform.     Soll   das  verbum  stehen 
hier  überhaupt  belege  abgeljen,    so  köute   es   sich   doch  nur  um  einen  gegensatz  zwi- 
schen steh  und  stehe,  nicht  alier  zwischen  den  zwei  genanten,  verschiedenen  verbal- 
stilmmen  angehörigen  fonncn  handeln.     Ebenso  war  schon  im  §  227,  II,  1  gany  nicht 
als  beleg  anzuführen.   —    Am  schluss   des  §243   wird    „das    unregelmässige  [!] 
verb  sein^    besprochen.    —    Dem    })articipium    praesentis    ist    in   der  darstellung  der 
„koujugationsendungen"  §  223  fgg.  eine  besondere  behandlucg  uicht  zu  teil  geworden; 
es  beschränkt  sich  auf  ein  bescheidenes  erwähntwerden  im  ])aradigma  §  235.     Und 
doch   bietet  auch  das  part.   praes.   ein   specielles  Interesse  durch  die  lautliche  Umge- 
staltung seiner  endung  in  -en.     Ich   gebe   hierfür  folgende  belege,    zunächst  aus  der 
Septemberbibel;    der  lateinische   text    entstamt    der    ausgäbe    des    Erasmus    Basileae 
1519.      Nach    „werden'':    Mofes    edier   irart    xittern    vnd    thnrfte    nieht   anfehaiven 
(t ren/efa etits    auteni   Mofes,    non   aiidebat   attendere)   Ap.  gesch.  7,  32;    (er)   n-art 
zittern    (tremef actus)    Ap.  gesch.  16,  29;    nach    „sein":    ich   bijn   furchticj  vnd 
zittern  (expauefaetus  fmii ,    ar  tremehundiis)  Ebr.  12,  21;    nach  „kommen":   dn 
aller  das  trcyb  fahe  /  das  nitt  rerparejen  /rar  I  kam   fie   gittern    rnd  fiel  für  yhn 

ZErrSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PIIILOI-OGIE.      BD.   XXIV.  ^ 


82  LUTHER 

(videns  aittoii  vinlier,  quod  non  latuiffet,  tremens  uenit  ac  procidif.  mite  jJedes) 
Luc.  8,  47;  deyn  konig  Icompt  reytten  auff  eyncm  c felis  füllen  (rex  tuns  uenit 
fedens  fuper  ptillnm  afincp)  Job.  12,  15.  Vielleicht  gehören  hierher  auch  beispiele 
wie:  wie  yhr  ylin  gefeiten  habt  gen  hymel  faren  {quem  ad  inodum-  uidißis  cum 
euntem  in  coelum)  Ap.  gesch.  1,  11  neben  imd  als  fie  yhm  nach  fnJien  yn  den 
hymel  farend  (cimique  effent  defixis  in  coehmi  ocidis,  ettnte  illo)  Ap.  gesch.  1, 10; 
vnnd  fnnden  heydc  Marian  vnnd  Jofeph  vnd  das  kind  ynn  der  krippen  ligen  (et 
inuenenint  Mariam  et  JosepJi,  et  infantem  pofituon  in  pr(pfepi)  Luc.  2,  IG  neben 
vnnd  fand  ...  die  toehter  auf  dem  bette  ligend  (repcrit  ...  filiam  iacentem 
fuper  Iccttim)  Marc.  7,  30  und  dazu  yhr  tverdet  finden  das  kind  ynn  windet  ge- 
tciek eilt /  ffid  ynn  cyner  kripjjen  ligen  (inuenietis  infantem  fafeijs  inuolntum, 
pofitiim  in  2^r(ef(ipi)  Luc.  2,  12;  f7id,  fand  fie  fchlaffen  (reperit  eos  dormien- 
tes)  Luc.  22,  45  neben  vnd  fand  fie  fchlaffend  (reperit  cos  dormientes)  Math. 
26,  40;  fiinden  fie  yhn  ym  tempel  fitxen  (inuenerunt  illum  in  teniplo  fedentem) 
Luc.  2,  46  neben  vnnd  fimden  den  menfchen  ...  fit%end  %u  den  ftiffen  Jhefu  (et 
inuenerunt  hominem  fedentem  ...  ad  pedes  Jefu)  Luc.  8,  35.  Zu  diesen  belegen 
nach  der  septemberbibel  verhalten  sich  die  ausgaben  von  Melchior  und  Michel  Lotther 
1524,  Michel  Lotther  1526  und  Hans  Luift  1536  folgendermassen :  zittern  Ap.  gesch. 
7,  32.  16,  29  bleibt  in  allen  drei  ausgaben,  für  Ehr.  12,  21  bleibt  es  1524  und 
1526,  während  Hans  Lufft  1536  dafür  gibt  ich  bin  erfchrocken  vnd  gittere,  für 
Luc.  8,  47  bleibt  zittern  nur  noch  1524,  während  1526  und  1536  die  stelle  lautet 
ka?n  fie  mit  zittern;  reytten  Job.  12,  15  bleibt  noch  1524,  dann  heisst  es  rei- 
tende; faren  Ap.  gesch.  1,  11  bleibt  in  den  drei  ausgaben,  für  Ap.  gesch.  1,  10 
bleibt  faren  1524  und  1536,  während  1526  farend  sich  findet;  ligen  Luc.  2,  12.  16 
neben  ligend  Marc.  7,  30,  fchlaffen  Luc.  22,  45  neben  fchlaffend  Math.  26,  40  und 
fitzen  Luc.  2,  46  neben  fitzend  Luc.  8,  35  bleiben  in  dieser  Verschiedenheit  in  allen 
drei  ausgaben.  Diese  assimilation,  die,  lautlich  niederdeutschen  urspriuigs,  aiich  in 
Mitteldeutschland  verbreitet  war,  machte  das  participium  in  der  form  dem  Infinitiv 
gleich.  Beispiele  dafür  hat  F.  Bech  im  programm  von  Zeitz  1882  zusammen- 
gestelt.  Man  vgl.  hierzu  übrigens  noch  Behaghel  Die  deutsche  spräche  (=  Das  wis- 
sen der  gegenwart,  bd.  54)  Leipzig  und  Prag  1886,  s.  208  fg.  Diese  erscheinung  hätte 
eine  erwähnung  gerade  in  der  wortbiegungslehre  sicher  verdient,  auch  wenn  mau, 
wie  Frauke  es  später  in  der  syntax  im  §  324  tut,  zwar  jene  formen  auf  -end  als 
participien  bestehen  lässt,  diejenigen  auf  -en  aber  als  Infinitive  innerhalb  der  kon- 
struktion  des  accusativus  cum  infinitivo  betrachtet.  Ob  aber  gerade  das  oben  gezeigte 
schwanken  mcht  mehr  gegen  die  annähme  des  Infinitivs  spricht  als  dafüi'? 

Die  mängel  in  der  darstellung  der  syntax  sind  ebenfals  schon  oben  (s.  72") 
kurz  hervorgehoben.  Nur  weniges  sei  hier  noch  erwähnt.  Es  ist  nicht  in  der  Ord- 
nung, wenn  der  Verfasser  für  die  syntaktischen  erscheinungen  in  der  spräche  Luthers 
den  bei  weitein  grössteu  teil  seiner  citate  der  bibel  —  hauptsächlich  dem  neuen 
testamcnt  — ,  also  der  übersetzungslitteratur  entuimt,  wenn  er  auch  im  §  255  her- 
vorhebt, dass  Luther  „selbst  in  seinen  Übersetzungen  .  .  .  sich  . . .  von  dem  direkten 
einflusse  fremder  sprachen  fast  ganz  freigehalten"  habe,  „so  dass  es  schwer  hält, 
ihm  volständig  undeutsche  konstruktionen  nachzuweisen".  Einflüsse  fremder  spra- 
chen sind  nun  einmal  in  der  sjmtax  Luthers  vorhanden:  solche  des  lateinischen  führt 
Wunderlich  Untersuchungen  über  den  satzbau  Luthers  I,  s.  57.  66.  69  an;  dazu  vgl. 
man  Rückert  Gesch.  der  nhd.  Schriftsprache  II,  s.  122  fgg.  Franke  selbst  gesteht  für 
den  periodenbau  (§255)  diesen  einfluss  unumwunden  zu,    für  den  gebrauch  der  par- 


i'BKR    FRAXKK,    ORAMM.    DER    SniUIFTSITxArm-.    I.ITTI[F,I!S  83 

ticipieii  §  .')2r),  4,  des  acc.  c.  int'.  §  '.Vli.  beim  zouuiua  §  :!;?."),  für  „t'iui^e  külmc 
ellipseu"  §  BöO,  ;">.  xVucli  riatzliolV,  Lutliers  erste  iisalincnüliorsctzung  spraclnvis- 
sonscliaftlicli  uiitorsucbt  (diss.  Halle  1887),  s.  36  spriclit  sii-li  trotz  eiiorjiischster 
bctoimug  von  Luthers  Übersetzungskunst  für  die  satzbilduiig  in  dm  }isalinon  vor- 
siehtig  dahin  aus,  „dass  jAitlier  auch  l)ci  diesoi-  sich  liiugst  nicht  immer  durch 
den  I hebräischen]  gruudtext  binden  liisst".  Es  wäre  zweifellos  bosser  gewesen,  die 
belege  für  die  syntax  aus  Luthi'rs  eigenen,  urspi'ünglich  in  deutscher  spraclu-  abge- 
fassten  sidirifton  zu  wäidiMi,  um  von  hier  aus  durch  oine  verglei(;liung  mit  den  syn- 
taktisclicn  erscheiiumgen  in  seinen  Übersetzungen  zu  zoigon.  wie  weit  oder  wie  wenig 
beide  darin  auseiunndergehcn.  Audi  kann  der  umstand,  dass  „die  verschiedenen 
ausgaben  dt>s  alten  und  neuen  testamonts'^  in  bezug  auf  den  satzhau  „^venig 
variieren'-,  unmüglii-h  a  primi  als  alleiniger  mid  strikter  beweis  dafür  gelten,  dass 
Lutiier  „während  seiner  ganzi-n  schriftstellerisehen  tätigkeit  nur  wenige 
Veränderungen"  im  satzbau  vorgenommen  habe  (Franke  §250).  —  Im  §  i.lG,  10  liie- 
tet  Franke  einige  belege  zur  cntwickelung  des  jiei'iodenbaues  in  der  spräche  lAitliers. 
Er  üliernimt  dabei,  allerdings  ohne  quellenangabe,  jenen  irtum  über  Jac.  .">,  4  aus 
A.Lehmann  Luthers  spräche  in  seiner  Übersetzung  des  neuen  testaments  (Halle  1873) 
s.  141 ,  den  auch  der  sonst  in  seineu  belegen  durchaus  selbständige  A^''uuderlieh  a.  a.  o. 
s.  04,  aber  mit  i[uellenangal)C  aufnahm,  und  über  den  ich  im  Anz.  f.  d.  a.  XIY, 
s.  259  fg.  mich  ausführlicher  ausgelassen  habe.  Solto  Lehmanns  buch,  welches  nui' 
die  syntax'  der  spräche  des  neuen  testaments  behandelt,  dem  Verfasser  vielleicht  als 
vorliild  gedient  haben,  auch  seinerseits,  wie  schon  erwähnt,  eine  unverhältnismässig 
liohe  anzahl  von  belegen  für  die  syntax  dem  neuen  testament  zu  entnfdimen?  — 
Im  §  313  .,der  reflexivi'  gidivaucli  der  dative  ihn/  ilir  iltnoi^  behauptet  Franke  zu 
anfang,  .,im  mitti'lhochdeutschen  wurde  von  dem  i'eflexiv  seiner,  sich  noch  kein 
dativ  auf  [!]  sich  gebiblet"  und  wenige  Zeilen  später  „Lutlier  .  .  .  gebraucht  .  .  ., 
wie  teilweise  auch  schon  in  der  mittelhocli deutschen  pcriode  geschah,  sicJi 
l)esouders  bei  Verhältniswörtern  als  dativ'".  "Wo  hat  Frauke  mit  seiner  meinuug 
vom  mhd.  nun  recht,  zu  anfang  dieses  absatzes  oder  zu  ende?  Übrigens  komt  die 
form  sicli  für  den  dativ  schon  bei  Notker  vor,  vgl.  Weiuliold  Mhd.  gr.  -  §475;  IL  Han- 
sel i'ber  den  gebrauch  der  pronomina  reflexiva  bei  Notker  (diss.  Halle  187G),  s.  5.  — 
l'l)er  die  von  Franke  im  §  324,  3  gegebenen  belege  für  den  accusativus  cum  inflni- 
tivo  nach  finden  vgl.  das  von  mir  oben  ül>er  die  eudung  -oi  des  part.  pracs.  gesagti?. 
Franke  fasst  tintz  der  daneben  vorhandenen  zweifellosen  partieipialformeu  auf  -cnd 
doch  die  formen  auf  -cn  als  iniiuitive  auf. 

Der  Verfasser  hat  —  das  muss  nocinnals  ausdriii/klich  liervorgehoben  werden  — 
grossen  fleiss  auf  die  ausarbeitung  seiner  schrift  vei'want;  die  auswahl  des  quellen- 
materials  ist  sorgfältig,  die  lienutzung  desselben  umfassend  gewesen.  I^eider  ent- 
spricht der  erfolg  rncht  der  aufgewanten  mühe;  auf  den  anfänger  kann  das  buch  viel- 
fach nur  verwirrend  wirken.  In  der  beschreibung  der  benuzten  drucke  hätte  mehr 
bibliographische  geuauigkeit  bewiesen  werden  können,  namentlich  vermisst  mau  die 
angäbe  der  drucker.  Die  litteratur  über  Luthers  spräche  ist  im  ganzen  volstäudig; 
es  fehlen  H.  Wunderlich  Untersuchungen  über  den  satzbau  Luthers  I.  teil:  die 
]U'oncniina  (München  1887),  sowie  zwei  Hallenser  dissertationen  dessellien  Jahres: 
IL  Platzhoff  Luthers  erste  jisalmenübersetzung  sprachwissenschaftlicli  untersucht 
und  J.  Luther  Die  spräche  Luthers  in  der  septemberliibel  [I].  In  dem  auf- 
satze:  Bestrel)ungen  anf  dem  gebiete  der  Luthergrammatik  im  19.  Jahrhundert,  in 
dieser    Zeitschrift  XX  (1888),   s.  37  —  49  suchte  ich    die   diesbezüglichen    bis    dahin 

6* 


erschieneuen  Schriften  zu  charakterisieren.  F.  Kluge  Von  Luther  bis  Lessing  (Strass- 
hurg  1888)  war  bei  der  herausgäbe  von  Frankes  schrift  noch  nicht  erschienen.  Ganz 
neuerdings  haben  sich  F.  Kauffmanu  Oeschiclite  der  schwäbischen  mundart  (Strass- 
burg  1890)  luid  K.  v.  Bah  der  GrundLagen  des  nhd.  lautsystems  (Strassburg  1890) 
über  verschiedene  hierhergehörige  probleme  ausgesprochen.  Einen  iudex  hat  Franke 
seinem  buche  nicht  beigegeben. 

BERLIN    IM    SIÄRZ    1890.  JOHANNES    LUTHER. 


The  finding  of  WineLand  the  good.  The  history  of  the  Icelandic  diseo- 
very  of  America,  edited  and  translated  from  the  earliest  records  by 
Artliui'  Middleton  Rceves.  With  i)hototype  plates  of  the  vellum  mss.  of  the 
sagas.     London,  Henry  Frowde.    1890.     VIII,  205  s.     4».     40  sh. 

Die  isländischen  quellen,  die  von  der  zu  acifang  des  11.  Jahrhunderts  erfolgten 
entdeckung  des  amerikanischen  continents  durch  nach  Grönland  ausgewanderte  Islän- 
der berichten,  sind,  seit  sie  1837  und  1838  in  den  Autiquitates  Americauae  und 
Grctmlands  historiske  mindesmserker  seht  unkritisch  ediert  worden  waren,  noch  nicht 
wider  gedruckt  worden,  und  es  war  daher  ein  verdienstliches  unternehmen  von  mr. 
Eeeves,  eine  neue  ausgäbe  zu  veranstalten.  Diese  bringt  —  ebenso  wie  die  beiden 
erwähnten  älteren  werke  —  sowol  den  doppelt  (in  der  Hauksbok  und  in  AM.  557,  4") 
überlieferten  I^orfiuns  Jjattr  karlsefnis*  wie  die  zwei  nur  in  der  Flateyjarbok 
erhaltenen  erzählungen:  Eiriks  J)attr  rauda  und  Groeulendinga  {)attr  (gewöhn- 
lich zusammeugefasst  miter  dem  titel  Eiriks  saga  rauda).  Der  in  den  genanten 
drei  handschriften  bewahrte  text  der  beiden  sagas  ist  von  Eeeves  auf  55  phototypier- 
ten  tafeln,  deren  ausführung  das  höchste  lob  verdient,  volständig  widergegeben  wor- 
den; gegenüber  steht  ein  'zeileugetreucr  abdruck,  der  jedoch  leider  —  was  doch 
sonst  in  facsimile  -  ausgaben  nicht  üblich  —  in  normalisierte  Orthographie  gekleidet 
ist.  Wir  hätten  lieber  gesehen,  wenn  der  herausgeber  seinen  tafeln  einen  kritisch 
berichtigten  text  (diesen  natürlich  normalisiert)  angehängt  hätte:  dass  er  dies  unter- 
lassen, ist  um  so  weniger  begreiflich,  als  er  in  der  von  ihm  beigefügten  englischen 
Übersetzung  eine  art  von  textkritik  zu  üben  versucht  hat,  indem  er  beim  I*oifnins 
|)ättr  die  beiden  handschriften  benuzte  und  in  der  Eireks  saga  rauda  eine  lücke  aus 
der  jüngeren  Olafs  saga  Tryggvasouar  ergänzte.  Er  hat  jedoch  in  der  auswahl  der 
Varianten  aus  Hauksbok  und  AM.  557,  4"  (ich  bezeichne  diese  beiden  handschriften 
im  folgenden  mit  A  und  B)  das  richtige  nicht  immer  getroffen  und  zu  seinem  scha- 
den auch  die  hilfe  verschmäht,  die  hier  und  da  aus  anderen  denkmälern,  uameutlicli 
aus  der  Landnämabok,  zu  gewinnen  war,  eine  hilfe,  die  um  so  wilkommener  ist,  als 
aus  den  beiden  membi'anen  des  I^jrfinns  {)attr  ein  befriedigender  text  sich  nicht  überall 
herstellen  lässt.  Beide  nämlich  stammen  —  allerdings  nicht  in  allen  paitien  —  von 
einer  und  derselben  handschrift  ab,  aus  der  sich  gemeinschaftliche  fehler  in  beide 
vererbt  haben".     A  93 ^  .30  fg.  =  ß  27^,  28  fg.  steht  in  beiden  handschriften  fol- 

1)  Warum  ilor  lierausgobor  dio  beiden  liss.  einer  und  derselben  saga  durch  vorschiodeiio  titel 
unterscheidet  (er  nont  den  text  der  Hauksbok  I'orfinns  Jättr  karlsefnis,  den  des  AM.  557,  4" 
dagegen  Eiriks  saga  rauöa)  verstehe  ich  nicht.  Es  empfiehlt  sich,  um  nicht  unliebsame  misverständ- 
nisso  zu  veranlassen ,  bei  der  alten ,  wenn  auch  nicht  recht  passenden  bezoichnung  zu  bleiben ,  also  für 
den  in  der  Hauksbok  und  in  AM.  557,  4"  erhaltenen  bericht  nach  wie  vor  den  namen  I'orlinns  Jattr 
zu  verwenden,  für  dio  ,,Vinlandssaga"  der  Flateyjarbok  dagegen  den  namen  Eiriks  saga  rauöa. 

2)  Damit  ist  denn  natürlich  auch  über  Finn  Magnusens  törichten  vorsuch,  die  verschiedonlieiten 
von  A  und  H  dadurch  zu  erklären,    dass  beide  unabhängig  von   einander  alte  lieder  in  j^rosa  aufgelöst 


ÜBER    KEEVES,    ■\VINKI.ANn  85 

gendcs:  ])rir  EiriLr  iirdii  sckir  </'  Ihirsi/csliii/i/i.  Ifaini  /ijVi  s/,/)/  (.s///adii.  I!)  i  Eir- 
ih'srdiji,  in  Kijj<'lfr  Icijnd!  Iionuiii  i  Diiinditirniiii .  iitcihiii  J)cir  pan/ts/j-  /c/'f/id// 
haus  /an  cijjdriKir.  Ifdi/ii  sin/di  pciii/,  n/  Ihuui  alhidi  ut  Icilu  /mids  ficss  er 
Guimbjnni,  San  Ulfs  Irdlm,  sd  usw.  Diese  .stelle,  die  licoves  s.  30  nach  dein  texte 
von  A  1>  wilrtlieh  übersezt,  ist  natürlich  vecdi'riit,  denn  pc/'in  lässt  sich  auf  ni(;hts 
anderes  beziehen  als  auf /r/r  pmu/rsfr.  die  feimli.'  Kiriks,  wähivnil  es  klar  ist,  dass 
dieser  die  rede  nur  an  seine  freunde  und  bi'sehützer  hat  rieliten  können.  Schlai^'on 
wir  nun  die  Landn;inia  auf,  die  für  den  aiifaiiij,'  des  I'orünns  |i;Lttr  zweifellos  die  i|uelle 
gewesen  ist,  so  linden  wir  doli  im  M.  kapitcl  des  2.  l)uclii's  (Islend.  sögur  1'-',  iOI) 
einen  volkomiuen  tadeUoseii  text:  /hir  Kiriln'  //rd/i  sc/:/r  d  piJrsitcspiiifji.  Ihiiu/ 
hji'i  sl;iji  I  E/'r/l.'snii/i .  c»  Eiijolfr  liijndi  hninmi  i  Vninnmynhji .  iiirdau  Jnir  J'oi- 
ijcslr  Icihidii  I/iiiis  inii  i'jijar.  pc/'r  }>ii rl)iiir ii.  nie  Eiijnifr  <il:  Sljirr  fuhjdit 
EiriLi  dt  II III  ct/jar:  Ikiiih  smjdi  Jxliii  usw.  Die'  gespeil  gedruckten  wurte  wai'en 
in  der  gemeinsamen  (juelle  von  A  und  1!,  die  mit  ;'  bezeichnet  werden  mag,  zwar 
lacht  verloren  —  wir  lesen  sie  in  A  Ul",  1.  2,  in  ]>  27'',  .33  fg.  —  aber  sii'  stan- 
den sclion  dort  an  einem  fals(dien  ulatze,  was  nur  dadurch  sich  erklärt,  dass  der 
schreilier  einer  noch  ältei'eii  handsclirift  (,;)  beim  copicreu  seiner  vorläge  («)  von  ilem 
ersten  cnjtir  auf  das  zweite  abgeirt  war  und  iiifolg(^  dessen  die  dazwischen  stehenden 
Worte  ausliess.  die  er  aber,  sobald  er  seines  fehlei-s  iune  wurde,  am  rande  nai^htrug; 
von  hier  hat  sie  dann  ein  jüngerer  eopist  (;'  oder  der  Schreiber  eines  zwischen  / 
und  j-;  liegenden  Zwischengliedes)  in  df.'U  text  zurückvcrsczt,  wenn  auch  an  eine 
unrichtige  stelle.  Zieht  man  den  ]iarallelbericht  der  Eirikssaga  (Fiat.  222'')  und  der 
jüngeren  (Jlafs  saga  (Fnis.  II,  214)  hinzu,  der  ebeufals  auf  der  Laiidminia  basiert, 
den  text  derselben  aber  wesentlich  verkürzt  hat,  so  wird  die  richtigkeit  unserer 
annähme  bestätigt,  denn  auch  hier  heisst  es:  er  ha  im  (Elrikr)  rar  luiiiiii,  fnl'j(li(' 
[leir  Sti/rr  honniii  dt  um  cijjar;  Eirilr  sagäi  Jirim,  at  liauii  a-lladl  at  hita  lands 
usw.  Die  vergleichung  einiger  wenigen  zeilcn  von  A,  B  und  Landuäma  ergibt  also 
schon  ein  für  die  tcxtgeschichte  des  I'orfinns  |);ittr  incht  unwichtiges  resultat,  das 
ich  für  aufmerksame  leser  nicht  näher  zu  formulieren  brauche. 

Eine  zweite  stelle,  an  der  die  Vernachlässigung  der  quelleuschriften  si(di  gerächt 
hat,  steht  ebeufals  im  2.  kapitel  des  IVrlinns  {.ättr  (A  93'',  IG  fg.  =  B  27'',  13  fg.). 
A  liest:  Elrikr  fehl:  pd  J>nrhildar.  duttiir  Jiiruialar  Atlasviiar  (jI,-  parhjaiyar  Iniarr- 
arbrliti/ii  er  pd  d tf  l  J'orbjnrii  hinii  liaitkdalslrl ;  B  hat  statt  der  gespertcn  Worte: 
cit  pd  dtti  dar.  A  bezeichnet  somit  den  I'orbjijrn  als  den  zweiten  gatteu  der  I'or- 
bjorg,  während  m'  nach  B  ihr  erster  war.  Reeves,  der  iu  seiner  Übersetzung  (s.  29) 
der  lesart  von  B  folgt  (who  had  bcen  married  before  to  Thorltiorn  of  the  Haukadal 
family)  hat  damit  einen  schweren  kritischen  fehler  Ijegangeii,  da  die  fassung  von  A 
durch  die  Landnäma  (Isl.  sögur  I-,  103;  130,  n.  11;  3.j0),  die  widerum  von  Flateyj- 
arbok  (222,  4)  und  von  OsT  (Ems.  II.  213)  secuudicrt  wird,  bestätigung  erhält. 
Übrigens  war  die  priorität  von  A  auch  ohne  vergleichung  der  übi'igeu  (juellen  leicht  zu 
erkennen,  da  die  lesart  von  A  durch  den  uachfolgendeu  satz  direkt  als  die  allein  mög- 
liche erwiesen  wird:  Ee\  Elrikr  pd,  iiontan  ok  ruddi  land  i  Haukadal  uk  hjd  d 
Elriksstndiiii/  hjd  ]"af:hnrii{.  rörhildr  leiste  demzufolge,  als  Eirikr  um  sie  freite, 
bei  ihrem  Stiefvater  Dorliji^irn  im  llaukadalr,  und  der  wünsch,  seinen  Jiuumehrigen 
verwanten  jiäher  zu  sein,  war  ohne  zweifei  die  veranlassung,  dass  Eirikr  seinen  bis- 
hätten —  eine  hyputliese ,  durch  die  sich  wuiidorbarer  weise  selbst  MObius  (Cal.  1.j3j  blonden  lioss  — das 
urteil  [gesprochen. 


86  GERING 

herigen  wohnsitz  Draugar  iu  den  Vestfirctir  aufgab  und  nach  dem  Hvammsfjordr  über- 
siedelte. Die  Worte  Rex  Eirikr  —  Vatxhorni  muste  ich  nach  B  geben,  da  A  hier 
einen  ganz  verwirten  und  unverständlichen  text  bietet.  Reeves  hat  denn  auch  dies- 
mal mit  recht  seiner  Übersetzung  A  zu  gründe  gelegt,  dem  hier  die  Laudnäma,  Fiat, 
und  OsT  bestätigend  zur  seite  stehen.  Es  ergibt  sich  aus  dem  gesagton,  dass  A 
und  B  von  einander  unabhängige  repräsentanten  des  verlornen  archetypus  sind,  dass 
bald  die  eine,  bald  die  andere  —  zuweilen  aber  auch  keine  von  beiden  —  die  echte 
lesart  überliefert  hat. 

Im  algemeiuen  erweist  sich  jedoch  die  ältere  haudschrift  A  auch  als  die  bes- 
sere und  sorgfältigere,  B  als  die  minder  gute  und  nachlässigere.  Namentlich  hat 
sich  der  Schreiber  von  B  eine  reihe  von  auslassungen  zu  schulden  kommen  lassen. 
94'',  27  steht  in  A:  pat  finni  per  mi,  at  fe  tnitt  pverr  er  slik  rää  gefiä  mer  — 
die  gespert  gedruckten  unentbehrlichen  worte  fehlen  in  B.  Weitere  Kicken  finden 
sich  z.  b.  95%  1  {fyrir  lausafjär  sakir);  23.  24  (ok  väru  allar  sjjdkonur);  !)ü%  10 
{en  i  vetr);  26.  27  (en  peir  vistuäu  hdseta  med  böndum);  96'',  6  {sjd  at  sinu 
rdäi);  97",  1.  2  (su7n  tre  —  ski2)flaki]  die  erzählung  wird  durch  diese  auslassung 
ganz  unverständlich);  97'',  11  {u7n  hausUt  til  nafna  shis);  23  (fQrn  vit  mi,  Ouä- 
ridr);  98%  33  {liimini  dcmäa)\  98'',  15  — 18  {Maar  —  skipi:  das  äuge  des  abschrei- 
bers  war  von  skipi  z.  15  auf  das  gleiche  z.  18  widerkehrende  wort  abgeirt);  28.  29 
{varning  —  hafa  pttrfti);  99%  12  {i  fdtoeku  landi);  99'',  34  {eptir  pvi  —  sayt)\ 
100%  25  {peir  hqfäu  —  skinn:  auch  hier  erklärt  sich  die  lacune  dadurch,  dass 
zwei  Sätze  hinter  einander  mit  peir  beginnen) ;  29  {pd  svd  smdtt) ;  30  {sem  dar) ; 
100'',  1.  2  {skrcelingar  —  siäan)\  4  {pvi  ncer  —  sauäarvqmb);  9.  10  {Pviat  — 
konia)\  28  —  30  {tok  upp  —  tök  ein  ok:  widerum  abspringen  von  tök  z.  28  auf  das 
gleiche  wort  z.  30);  101%  11.  12  {alt  —  rjöär  i);  26.  27  {ok  pat  —  vegna)\  29  {ok 
stöä  —  uro:  hier  haben  zweifelsohne  die  kurz  nach  einander  vorkommenden  Wörter 
vdrti  und  uro  den  ausfall  verschuldet);  usw.  usw.  —  101",  5  liest  A:  vdrto  par 
fyrir  alls  gnöttir  pess  er  Peir  purftu  at  hafa;  B  hat  statt  dessen  nur:  er  par  aus 
konar,  hat  also  das  Subjekt  hinzuzufügen  vergessen  (Reeves  sezt  aus  A  gnöttir  ein, 
obwol  die  incongnienz  zwischen  prädikat  und  Subjekt  zwar  nicht  beispiellos,  aber 
doch  äusserst  selten  und  an  uusrer  stelle  höchst  unwahrscheinlich  ist).  Eine  schlimme 
Verwirrung  hat  der  liederhche  Schreiber  von  B  34'',  28  fgg.  (r=  A  lOP,  16  fgg.) 
angerichtet.  Die  stelle  lautet  in  A:  porvaldr  Eiriks  son  raiiäa  sat  vid  styri,  ok 
skaut  Einfoetingr  qr  i  smdparma  honum.  porvaldr  dro  üt  qrina  ok  mcelti: 
„Feitt  er  um  istruna^,  gott  land  hqfum  ver  fengit  kostum,  en  pd  mcgnin  ver 
varla  njöta".  In  B  lesen  wir  statt  dessen:  Porvaldr  son  Eiriks  hins  randa.  pd 
mcelti  Porvaldr:  „Gott  land  hqfum  ver  fengit".  pd  hleypr  Einfaitingrinn  d  brott 
ok  nordr  aptr  ok  skaut  ddr  i  smdparma  d  porvaldi.  Mann  drö  üt  qrina.  pd 
mcelti  Porvaldr:  „Feitt  er  um  istruna".  (!!)  —  Eine  ähnliche  gedankenlosigkeit  ist 
wenige  zeilen  später  zu  finden  (B  35%  2  fg.  =  A  101%  29  fg.).  A  liest:  par  kom 
til  hit  fyrsta  haust  Snorri  son  Karlsefnis  ok  var  hann  pd  prevetr  er  peir  föru 
brott.  Statt  der  gesperten  worte  finden  wir  in  B:  par  pann,  eine  lesart,  die  ganz 
unsinnig  ist  und  schwerlich  durch  conjectur  hätte  geheilt  werden  können.  —  Von 
leichteren  flüchtigkeitsfehlern  seien  angemerkt:  Sl**,  28  vigda  B  statt  ovigda  A;  37 
vigri  B  statt  övigdri  A;  32%  22  ügladr  er  B  statt  ogladari  en  A,  usw. 

1)  Ob  liier  niclit  bewuste  nachahiniuig  der  bokanten  crzcählung  von  dorn  endo  dos  t'ormöör  Kol- 
brunarskäld  (Hkr.  U.  498  "*)  vorliegt? 


ÜBEU   REEVKS,    -WINELAND  87 

Srltenci"  sind  ilcin  jivgiMiübcr  die  nUlo,  in  drncii  1]  di'ii  vniv.u;;'  vrixlieiit.  Einer 
dcrsolbeu  hat  ohen  schon  orwiihnung  gefunden;  icli  luge  iioeli  einige  weitere  lielegc 
iiiuzu.  A  Ü4",  3  =  1)28%  2  inuss  man  der  leztcrcn  liaudschrift  iulgen:  Krc?^  Eiriln- 
fii'/)it  sI:iiI(Ih  rrräd  at  prilikii  fransli  sein  (A:  ef)  Ikdui  »uef/l  srr  rld  /:<)ii/((.  cf 
f)cir  /://n)//  (A:  o/c  /,i/iui/  fwir]  liaiis  af  Jixrfic  denn  JiciliLii  ert'urdert  als  eorrela- 
liv  unbedingt  ein  ,sr/«,  nicht  ein  <'f,  vgl.  /..  li.  X.jäla  134'-':  cl:  ninn  .  .  .  reifa  per 
s/ikt  liä  seilt  ek  ind  incr  rhl  I:niii(i.  —  A  liest  97%  29  fg.:  ])d  iikiUI  Eirihr: 
..Kdtdri  siijldii  vir  i  sioiiar  i'il  or  /irdiiiKiii.  cii  iin  cru  cfr.  B31%  Ki  fg.  luit 
zwar  aus  naehlässigkeit  die  werte  Jhi  —  Kirilr  ausgelasst'u ,  gibt  aber  den  feigenden 
satz  zweifellos  in  richtigerer  gestalt:  Kdtari  rdr/i  prr  i  s/nuiir  er  [>r r  fi'inid  dt  or 
jirdiiniiii  rii  iid  cr/r  per.  Die'  fassung  von  ]>  würde  uns  zu  der  annahnn'  nötigen, 
dass  Eirikr  trotz  der  schweren  Verletzung,  die  er  sich  auf  dem  -wcgo  zum  schiffe 
durch  den  stürz  vom  pferde  zugezogen  hatte,  wirklich  an  bord  gegangen  sei  und  die 
cxiieilitien  mitgemacht  habe,  einer  amuahme,  die  selbst  (uist.  Storni  ( Aarl).  1887. 
s.  3 11)  für  möglich  gehalten  hat.  wie  sie  auch  Ki'eves  in  seiner  Übersetzung  (s.  37j 
aeceiitierte.  Dass  die  uidu'itiseheu  herausgcber  von  AA  und  GhM  an  der  ül)erliefe- 
rung  in  A  keinen  anstoss  genommen  ha!)en.  ist  weniger  wunderbar.  —  97'',  2-1  fg. 
finden  wir  in  A  den  nachstehenden  passus:  17/r  pd  porsfcinn  liorfinn  lieniii;  pnfd 
Im  im  ddr  litift  liafa  sriiui  i  lieridi  o/r  rllja  l)erja  lidif.  B  dagegim  bietet  (31'',  Ifg.): 
]'ar  pd  ()/:  re  r/:sfj'')  r  i  n  )i  i/nr/iuii,  er  lienni  pütit  dar  liafa  sripu  i  heiidi  w^w.  Es 
kann  keinem  zweifei  unterliegen,  dass  auch  hier  die  von  B  überlieferte  lesart,  die 
diesmal  auch  von  Eeeves  der  ül)ersetzimg  zu  gründe  gelegt  ist,  in  den  text  eingesezt 
werden  muss,  denn  es  ist  klar,  dass  dem  ül)el  berufenen  i-crhsfjdriGnv^Y.  di;r  zuerst 
der  epidemie  erlegen  ^var  und  dessen  leiclie  siiiiter  auf  auordnuug  f'orsteins  ver- 
bi'ant  werden  muste,  und  nicht  diesem  die  schuld  an  den  naidifolgenden  todesfällen 
und  der  s[iukerei  der  verstorbenen  {liann  re/dr  nlluiii  (iiitrijiinijiiiii  peiin  sein-  her 
liafa  rer/f  i  vetr  A  98%  24  —  B  31'',  30)  zugeschrieben  ward.  In  AA  und  Gh]\[ 
ist  natürlich  wider  die  unsinnige  lesart  von  A  im  texte  belassen.  —  Ferner  gehöirt 
hierher  die  stelle  A  101",  13  fg.  =  B  35%  37  fg.  Sie  lautet  in  A:  Aunat  sui/nir 
c/iti'r  fi'ir  K'tr/sefiii  til  Islands  ol,-  Gadridr  med  humiiii ,  eil:  für  heim  i  Ii^e/jiiisiies. 
Mikh/r  haus  pnttl  sein  henni  hcfdi  litt  til  hostar  fckif,  ol:  rar  d uär idr  eigi  heiiita 
enii  fijrsta  retr.  En  er  hon  jirdfa  i  af  (Jirlridr  rar  l:rcinisl:nrnnijr  inihill ,  für 
hon  heim  ol:  rdru  samfarar  peira  (judar.  In  B  dagegen  L'sen  wir:  Annat  sinnar 
rptir  jdr  Karlscfni  til  Islands  oh  Snorri  ii/eä  honuiii,  ol:  [til]  hds  sins  i  Ueijni- 
ncs.  Mödnr  haiis  pofti  sein  hanii  hefdl  litt  til  kosfar  tehit,  ol:  rar  lion  eiyi 
hcimfaj  par  hinii  fijrsta  retr;  ol:  er  hon  reijndi  at  (liidridr  rar  sl:<>rni>(jr 
inihill.  für  hon  heim,  ol:  rdrn  sainf/edr  [Schreibfehler  statt  samfdreir]  pciret  tjodar. 
Dass  die  im  ersten  winter  von  Karlsel'uis  hause  sich  fernhaltende,  dann  aber  dahin 
ziu'üekkehrende,  eine  und  diesollie  person,  und  zwar  seine  mutter,  nicht  seine  frau. 
sein  muss,  bat  den  herausgeberu  von  AA  und  GhM  nicht  einleuchten  wollen,  obwol 
sie  doch  soviel  sahen,  dass  in  der  üljcrlieferung  von  A  eine  Schwierigkeit  vorhanden 
war,  die  sie  freilich  in  der  dänischen  Übersetzung  durch  ein  kleines  tascheus[iieler- 
kuuststück  Ijeseitigt  haben  (för  hou  heim  wird  gegelieu:  tillod  hun  hende  at  drage 
hjemü).  Reeves  hat  mehr  einsieht  besessen  und  sich  dieses  fehlers  nicht  schuldig 
gemacht:  nur  hätte  er  auch  darin  B  folgen  sollen,  am  anfange  des  besprochenen 
liassus  Snorri  statt  Gadridr  in  seine  versiou  zu  recipieri-n.  — •  Endlich  sei  uorh  einer 
stelle  gedacht,  wo  durch  vergleichung  beider  handschriften  jedem  methoilisch  geschul- 
ten   Philologen    die   herstellung    des   echtim   ohne   besondi'rn   aufwand   von   Scharfsinn 


hätte  gelingen  müssen.  Es  handelt  sich  um  die  dem  forhallr  veiclimactr  zugeschrie- 
bene Visa  A99'',  27  fg.  =;  B33'',  13  fg.,  die  ich  buchstabengetreu  nach  A  widergebe: 

Hafa  kvadv  niik  meidar 

malmj)i«gs  er  ek  ko^M  hingat; 

mer  sam«V  \and  iyr  lydu??z 

lasta  diyckiii  bazta. 

billdz  hattar  verdr  bvttv 

beidityr  at  styra, 

helldr  er  sva  at  ek  kryp  at  kelldv 

ko>//ad  vin  a  grou  mina. 

B  hat  folgende  abweichimgeu :  z.  2  fehlt  ek;  3  litt  statt  land;  5  hattr  statt  hattar; 
veräek  statt  verdr;  byttu  statt  bidtu;  6  rciäa  statt  styra;  8  komit  statt  koinaä.  — 
Es  versteht  sich,  dass  der  text  von  B  au  ein  paar  leichteren  gebrechen  leidet  {hattr 
und  komit) ^  zu  deren  heilung  es  der  hilfe  von  A  kaum  bedurft  hätte;  dagegen  wird 
z.  6  die  lesart  von  B  zu  bevorzugen  sein,  da  avoI  das  verbum  reiäa,  schwerlich  aber 
styra  von  der  handhabung  eines  schöpfgeßisses  gebraucht  werden  konte  und  überdies 
derselbe  ausdruck  in  einer  lausavisa  der  Magnus  saga  berfcetts  (Hkr.  U.  652^"  '-')  sich 
widerfindet.  Z.  3  ist  in  beiden  handschriften  hendingalaus ,  also  fehlerhaft,  übeiiie- 
feii,  doch  ist  B  insofern  dem  ursprünglichen  näher  geblieben,  als  es  in  litt  den 
durch  den  reim  geforderten  vocal  bewahrt  hat.  Ändert  man  das  wort  in  lip,  so  ist 
die  zeile  in  Ordnung.  Austoss  erregt  dann  allerdings  noch  das  erste  visuord,  weil 
es  nur  einen  studill  enthält  {mik  kann  natürlich  als  unbetontes  wort  nicht  in  betracht 
kommen).  Der  fehler  kann  nur  in  hafa  stecken,  das  also  durch  ein  mit  m  anlau- 
tendes verbum  ersezt  werden  müste,  und  es  bietet  sich  hier,  soweit  ich  sehe,  kein 
anderes  als  mcera,  das  auch  dem  sinne  nach  vortreflich  passt,  weil  es  seiner  bedeu- 
tung  nach  den  direkten  gegensatz  zu  lasta  bildet  und  im  ersten  visuhelmingr  durch 
die  scharfe  autithese  die  enttäuschung  des  I'örhallr  weit  kräftiger  zum  ausdruck 
gelangt.     Die  Strophe  würde  demnach  folgende  gestalt  gewinnen: 

Maera  kv('^{)umk  mei{)ar 
malm{)ings,  es  kvamk  hingat, 
(mer  samir  lij)  fyr  ly|)um 
lasta)  drykk  enn  bazta; 
Bilds  hattar  ver{)r  byttu 
beij)i-Tyr  at  rei{)a, 
heldr's  at  krypk  at  keldu, 
kvamat  vin  a  grgn  mina  — 

in  prosaischer  Wortfolge:  malmpinys  meipar  kv<)pu,  es  ek  kram  hinyat,  mik  mcera 
enn  baxta  drykk:  mer  samir  (at)  lasta  lip  fyr  lypiim;  Bilds -hattar  beipi-Tyr 
verpr  at  reipa  byttu:  vin  kvamat  d  yri^n  mina,  heldr  es  at  ek  kryjj  at  keldu,  d.h. 
„die  bäume  des  kampfes  (die  mäuner)  sagten,  als  ich  hierher  kam,  dass  ich  den 
ausgezeichneten  trank  loben  werde:  (statt  dessen)  muss  ich  das  nass  vor  den  leuteu 
tadeln;  der  den  hut  dos  zwerges  (den  heim)  begehrende  mann  (der  krieger,  d.  h. 
ich)  muss  das  schöpfgefäss  handhaben  —  wein  kam  nicht  auf  meine  lippe,  vielmehr 
muss  ich  zur  quelle  kriechen". 

Die  vorstehenden  ausfüliruugon  haben  ,  denke  ich,   zur  genüge  erwiesen,    dass 
eine  kritische  bearbeitung  der  Yinlandss(jgur,   vor  allem  des  toiünns  |)ättr,  nach  wie 


fUEU    REEVES,    T^INELANH  89 

vor  ein  bedürfnis  ist:  lioffentlich  wird  diu  soeben  von  dem  Koi)onhageuer  Sanifuud 
IUI  gekündigte  neue  ausgäbe  allen  berechtigten  anforderungen  genüge  leisten.  Sie  wird 
beim  I'orfinns  \>aÜv  den  text  der  llauksbök  zu  gründe  legen,  diesen  aber  aus  AM. 
537,  4"  und  den  parallolbericliten  (Landnäma,  Olafs  saga  Tryggvasonar  usw.)  emen- 
dieren  müssen.  Freilicli  reicht  dies  recept  nicht  überall  aus.  Es  ist  schon  oben 
(s.  84)  angedeutet,  dass  das  Verhältnis,  in  dem  die  texte  A  und  B  zu  einander  ste- 
hen, nicht  durchweg  ein  gleichmilssiges  ist.  Während  nämlich  in  dem  grösseren  teil 
der  saga  beide  handschriften  zweifellos  von  einer  gemeinsamen  vorläge  abstammen 
und  so  nahe  zusammengehen,  dass  eine  controle  der  einen  dui'ch  die  andere  möglich 
ist',  ist  in  einem  abschnitte  die  Verschiedenheit  so  gross,  dass  sie  auf  die  wilkür 
eines  abschreibers  nicht  zui'ückgeführt  werden  kann.  Der  betreffende  abschnitt  reicht 
von  A99%  14  =  B  32%  30  bis  A99%  26  =  B  33 '\  12.  Hier  wird  daher  der  künf- 
tige herausgeber  dem  beispiele  der  Autif^uitates  Americauae  folgen  und  den  text  bei- 
der Codices  zum  abdi'ueke  bringen  müssen. 

Es  erübrigt  noch,  ein  paar  werte  über  die  einleitenden  kapitel  zu  sagen,  die 
Reeves  seinen  texten  vorausgeschickt  hat.  Als  hauptzweck  des  Verfassers  ergibt  sich 
aus  denselben  die  absieht,  die  tatsache  der  vorcolumbischen  entdeckung  Amerikas, 
an  der  man  seltsamer  -weise  in  den  Vereinigten  Staaten  noch  bis  auf  den  heutigen  tag 
zu  zweifeln  scheint,  gegen  diese  übertriebene  Skepsis  sicher  zu  stellen.  Er  sammelt 
daher  alle  stellen  der  isländischen  litteratur,  die  zur  bekräftigung  jener  tatsache  die- 
nen können,  und  sucht  vor  allem  zu  beweisen,  dass  aus  inneren  und  äusseren  grün- 
den dem  t'orfl.nns  |)attr,  der  sicherlich  auf  berichten  von  augenzeugen  basiere,  ein 
hohes  niass  von  glaubwüi-digkeit  zu  vindicieren  sei,  während  er  die  erzählungen  der 
Flatoyjarbök,  die  man  früher  in  den  Vordergrund  zu  stellen  pflegte,  nur  als  eine 
vielfach  getrübte  mu\  unzuverlässige  quelle  betrachtet.  Wir  haben  um  so  weniger 
Ursache,  dem  Verfasser  liierin  zu  widersprechen,  als  Gustav  Storm  in  seinen  tref- 
lichen  Studier  over  Vinlandsreiseme  (Aarboger  1887)  zu  denselben  ergebnissen  gelangt 
ist.  Die  ausführungen  von  Reeves  sind  im  wesentlichen  nur  eine  —  wenn  auch  in 
einzelheiten  weiter  ausgeführte  —  reproduction  von  Storms  Untersuchungen.  Diesem 
folgt  er  auch  m  der  chronologischen  fixierung  der  grönländischen  entdeckuugsfahrten 
nach  Amerika  und  in  der  hypothese  über  die  geographische  läge  der  im  11.  jalir- 
hundert  aufgefundenen  und  betretenen  landstriche.  Die  litteratur  über  die  Viulands- 
reisen  ist  jedoch  selbständig  und  einsichtig  benuzt.  Sorgfältige  anmerkungen  zu  den 
texten  und  ein  register  beschliessen  das  buch,  das,  als  erstlingsarbeit  betrachtet,  eine 
recht  tüchtige  leistung  ist,  der  sicherlich  reifere  fruchte  gefolgt  wären,  wenn  nicht 
ein  jäher  tod  den  herausgeber  der  Wissenschaft  und  und  seinen  freunden  vorzeitig  ent- 
rissen hätte. 

KIEL,    MÄEZ    1891.  HUGO   GERING. 

1)  Bekantlich  ist  bei  der  altnord.  prosalitteratur  ein  verfahren,  wie  es  der  kritische  herausgeber 
bei  einem  klassischen  autor  oder  einem  mhd.  dichter  anwendet ,  in  vielen  fällen  unmöglich.  Die  hss. 
weichen  nämlich  oft  so  bedeutend  von  einander  ab ,  dass  zwar  einzelne  fehler  durch  vergloichung  sich 
auffinden  und  beseitigen  lassen ,  eine  durchgängige  herstellung  des  ursprünglichen  textes  aber  unausführ- 
bar ist,  da  die  abschreiber,  wenn  sie  auch  an  dem  tatsächlichen  nichts  änderten,  an  den  Wortlaut  der 
vorläge  nicht  ängstlich  sich  banden.  Es  bleibt  daher  häufig  nichts  anderes  übrig,  als  die  relativ  beste 
hs.  zum  abdruck  zu  bringen  und  nur  offenkundige  fehler  mit  hUfe  der  andern  zu  berichtigen.  Auf  diese 
aufgäbe  wird  auch  der  herausgeber  des  I'orflnns  Jiättr  sich  beschränken  müssen. 


90  F.    VOGT 

Wilhelm  Wisser,  Das  verhiiltnis  der  miuneliederhandschriften  ß  und  C 
zu  ihrer  gemeinschaftlicheu  quelle.  Programm  des  gymnasiums  zu  Eutin. 
Ostern  1889.    42  s.     4. 

Scherer  hatte  iu  den  Deutschen  studien  II  s.  15  anni.  1  eine  abhandlung  in 
aussieht  gestelt,  in  der  er  es  unternehmen  wolte,  die  den  handschriften  B  und  C 
zu  gründe  liegende  liedersamlung  so  genau  wie  möglich  herzustellen,  und  eine  ähn- 
liche Untersuchung  kündigte  Apfelstedt  Germ.  26 ,  229  an.  Beidon  war  es  nicht  ver- 
güut  ihren  vorsatz  auszuführen,  und  so  bietet  denn  die  vorliegende  schrift  den  ersten 
versuch,  das  bisher  nur  mit  bezug  auf  diesen  oder  jenen  einzelnen  dichter  erörterte 
Verhältnis  jener  beiden  nächstverwanten  sammelhandschrifteu  im  zusammenhange  dar- 
zustellen und  so  zugleich  ein  bild  von  ihrer  gemeinsamen  quelle  zu  geben. 

Die  in  B  von  der  ersten  band  geschriebenen  25  dichter  kehren  auch  in  C 
wider,  teilweise  iu  derselben  reihenfolge;  bei  ihnen  allen  ist  die  Übereinstimmung  der 
beiden  handschriften  so  gross,  dass  man  in  jedem  einzelnen  falle  eine  gemeinsame 
quelle  für  sie  voraussetzen  müste,  wenn  B  und  C  jedes  nach  freier  auswahl  jene  25 
zusammengestelt  hätte.  Nähme  man  dieses  an,  so  müsten  also  B  und  C  in  aUen 
25  fällen  unter  den  verschiedenen  samlungen,  die  sich  von  den  liedern  eines  dichters 
in  Umlauf  befanden,  immer  gerade  auf  ein  und  dasselbe  Uederbüchlein  geraten  sein; 
das  ist  gewiss  nicht  wahrscheinlich,  und  so  zieht  denn  Wisser  den  schluss,  dass  bei 
aUen  25  dichtem  ein  und  dieselbe  gemeinscliaftliche  quelle  den  handschriften  B  und 
C  zu  gi'unde  gelegen  habe.  Für  die  bestimmung  der  art  und  weise,  wie  B  und  C 
mit  dieser  ihrer  quelle  (Q)  verwant  seien,  genügt  es  daher  seiner  meinung  nach, 
das  Verhältnis  der  beiden  an  einem  der  25  dicliter  zu  prüfen,  da,  was  für  ihn  nach- 
gewiesen werde,  auch  für-  die  übrigen  als  teile  desselben  ganzen  gelten  müsse. 

Von  diesem  gesichtspunkte  aus  untersucht  Wisser  die  äussere  überHeferung 
der  gedichte  Friedrichs  von  Hausen.  Bekantlich  stimt  hier,  abgesehen  von  einer 
Versetzung  der  strophe  MF  46 ,  39  in  B ,  die  reihenfolge  der  Strophen  in  beiden  hand- 
schriften überein.  Nur  werden  die  zu  einem  tone  gehörigen  und  in  B  aufeinander 
folgenden  Strophen  MF  42,  1  —  27.  43,  10  —  27  in  C  dm-ch  14  Strophen  (zwischen 
MF  42,  27  und  43,  10)  unterbrochen,  von  denen  nur  die  erste  (MF  43,  1)  demselben 
tone,  die  übrigen  aber  5  anderen  tönen  Hausens  angehören.  Und  ähnlich  werden 
später  die  nicht  nur  zu  einem  tone,  sondern  auch  zu  demselben  Hede  gehören- 
den in  C  aufeinander  folgenden  Strophen  47,  25  —  32  und  47,  17  —  24  durch  12  Stro- 
phen unterbrochen,  welche  jedoch  nicht  Hausen,  sondern  Eeinmar  und  dem  mark- 
grafen  von  Hohenburg  zugehöreu.  Nach  der  bisher  herschenden  annähme  wurde 
diese  erscheinung  darauf  zurückgeführt,  dass  einmal  C,  das  andere  mal  B  an  der 
betreffenden  stelle  in  Q  eine  einlage  vorfand,  die  der  eine  wie  der  andere  ohne  rück- 
sicht  auf  den  Zusammenhang  mit  abschrieb.  Wisser  prüft  die  Stichhaltigkeit  dieser 
aufstellung,  indem  er  ein  büd  von  dem  format  der  handschrift  Q  zu  gewinnen  sucht. 
Da  sowol  die  erste  als  auch  die  lezte  der  in  B  C  zwischen  den  beiden  fraglichen 
stellen  stehenden  neun  Strophen  durch  die  einlagen  von  einer  strophe  des  gleichen 
tones  getrent  wurde,  der  sie  zuvor  doch  ohne  zwischenraimi  gefolgt  oder  voraus- 
gegangen sein  wird,  so  müsten  jene  9  Strophen  in  Q  gerade  ein  von  anfang  bis  zu 
ende  beschriebenes  blatt  ausgemacht  haben.  Gegenüber  diesem  9  Strophen  umfassen- 
den blatt  von  Q  steht  aber  die  erste  einlage  als  ein  blatt  von  13  oder  14,  die  zweite 
als  ein  solches  von  12  Strophen;  und  wie  die  strophenzahl,  so  geht  auch  die  gesamt- 
heit  der  Zeilenlängen  bei  den  vermeintlich  eingelegten  blättern  erheblich  über  die 
einem  blatte  der  handschrift  Q  zukommende  hinaus.     Da  somit  das  format  dieser  bei- 


ri3EK    WISSKK.    LIKDEIillANUSClllillTEX  91 

ileu  ciiilagen  ein  anderes  gewesen  sein  inüstc  als  das  der  handsclirift,  (^>,  so  liiilt  der 
Verfasser  jene  liypotheso  für  unniöglieli.  Er  meint,  ]]  und  C  können  nicht  unmittel- 
bar aus  einer  gemeinsamen  vorläge  abgeleitet  werden,  vielmehr  sei  jedem  der  l)eidcu 
eine  mittelstufe  (b  untl  c)  \i»rausgegang(!n.  Die  äussere  bescliafTenheit  dieser  vcimit- 
telndeu  liandsehriften  sucht  nun  der  Verfasser  vermutungsweise  herzustellen;  er 
bemüht  sich  wahrscheinlich  zu  machen,  dass  die  mehrstroplicu,  welche  1»  zeigt,  in  b 
ursiirüuglich  auf  dem  lezten,  für  nachtrüge  bestirnten  blatte  der  die  lieder  Ihiusens 
enthaltenden  läge  aufgezeichnet,  dann  aber  durch  blatte -r vertausch ung  an  die  stelle 
geraten  seien,  wo  sie  in  B  vorliegen,  während  die  C  eigentümlichen  strophcn  CT)  — 
17  schon  in  (^.  und  zwar  als  lezte  stroiihen  der  ganzen  samlung  enthalten  waren; 
in  c  fülten  sie  dann  gerade  das  lezte  lilatt,  welches  nun  widerum  durch  vertauschung 
au  die  stelle  geriet,  wo  es  in  C  abgeschrieben  wurde  (zwischen  MF  43,  0  und  lOj; 
in  li  kam  das  blatt,  welches  sie  enthielt,  au  einen  platz,  wo  es  leicht  ül)ersehen 
werilen  koute  und  von  U  übersehen  wurde. 

Mit  so  minutiöser  Sorgfalt  diese  Untersuchungen  auch  geführt  sind  —  die 
summe  der  Zeilenlängen  des  einzelnen  blattes  wird  bis  auf  den  millimotei' berechnet !  — 
ich  glaube  doch  nicht,  dass  sie  zu  irgend  sicheren  und  praktisch  verwertbareu  resul- 
tatcu  geführt  haben  und  führen  kouten.  Zunächst  ist  es  meines  orachtens  dem  vei- 
fasser  nicht  gelungen,  Müllenhoffs  hyi)othese  über  jene  beiden  einlageu  endgültig  zu 
widerlegen.  Er  verfährt,  als  ob  Müllenhoff  behauptet  hätte,  dass  sie  aus  je  einem 
lilatte  bestanden  hätten,  während  er  doch  vorher  selbst  Müllenhoffs  woiie  angeführt 
hat,  nach  denen  die  in  B  überlieferten  plusstrophen,  als  B  abschrieb,  der  vorläge  „als 
ein  zufällig  eingelegtes  doppelblatt "  einverleibt  waren,  die  fraglichen  mehrstrophen 
der  handsclirift  0  aber  „ ursi)rünglich  ein  lieder büchlein  für  sich  bildeten^,  wel- 
ches ähnlich  wie  jenes  doppelblatt  in  die  ältere  samlung  eingefügt  und  so  von  C 
vorgefimdeu  wunle.  Es  waren  also  demnach  zwei  selbständige,  zufällig  in  die  sam- 
lung geratene  blattpaare,  und  diese  konten  am  Schlüsse  ebensowol  einen  liclieliigcn 
unbeschriebenen  räum  für  nachtrüge  enthalte]!,  wie  nach  AVissers  annähme  die  Hau- 
sens heder  umfassende  samlung  in  b;  sie  konten  also  auch,  wenn  man  das  wirklich 
für  erforderlich  halten  will,  sehr  vrol  dasselbe  format  haben,  welches  nach  Wissers 
annähme  die  handsclirift  Q  hatte.  Aber  dieses  format  lässt  sich  für  Q  gar  nicht  ein- 
mal so  sicher  erweisen.  Jene  9  durch  die  beiden  späteren  cinlagen  nach  vorne  und 
hinten  abgegrenzten  strophcn  der  handschrift  Q,  nach  denen  der  Verfasser  den  blatt- 
unifang  dieser  handschrift  bestirnt,  brauchen  in  ihr-,  da  sie  verschiedenen  tönen  ange- 
hören, keineswegs  alle  unmittelbar  aufeinander  gefolgt  zu  sein,  sondern  es  könteu 
zwischen  dem  schluss  eines  tones  und  dem  beginn  eines  neuen  lücken  ganz  unbe- 
stinibaren  umfanges  für  nachtrage  freigelassen  sein,  wie  das  in  (_'  so  liäufig  geschieht. 

Erscheinen  somit  A\'issers  einwürfe  gegen  die  ältere  hypothese  als  nicht  aus- 
reichend begründet,  so  lässt  sich  nun  bezüglich  seiner  eigenen  aufstellung  mit 
bestimtheit  nachweisen,  dass  der  Sachverhalt  nicht  so  gewesen  sein  kann,  wie  er 
ihn  sich  versteif.  Die  Voraussetzung  für  seine  erklärung  des  einschuhos  der  strophcn 
.5  —  17  in  C  ist  bei  ihm  die,  dass  in  c  str.  1  — 4  auf  dem  ersten  blatte,  18  —  53  auf 
den  3  folgenden  und  5  — 17  auf  dem  lezten  gestanden  halien.  Nun  konten  aber  die 
Strophen  1 — 4  weder  ein  blatt  noch  eine  seite  einer  handschrift  des  formates,  wie 
es  der  Verfasser  nach  jener  berechnuug  für  c  voraussezt,  auch  nur  annähernd  aus- 
füllen. Er  erklärt  das  daraus  (s.  14  anni.  3),  dass  (entsprechend  der  annähme  Lehfelds 
Paul-Br.  Beitr.  li^  352)  c  ebenso  wie  Q  und  b  eine  Sammelhandschrift  war,  in  der 
den  liedern  Hausens   die   eines  anderen   dichters   unmittelbar   vorausüienaen.      Dieses 


92  F.    VOGT 

ist  aber  sicher  nicht  der  fall  gewesen.  Zunächst  vor  den  liedern  des  dichters  muss 
vielmehr  in  c  sowol  wie  in  Q  und  in  b  sein  bild  gestanden  haben;  die  Übereinstimmung 
der  abbildung  Hausens  in  B  und  C  macht  das  zweifellos.  Hätte  dieses  bild  nun  über 
den  str.  1  —  4  noch  auf  derselben  seite  gestanden  (was  übrigens  dem  in  B  und  C 
beobachteten  brauche  widersprochen  haben  würde),  so  müste  das  format  von  c  ein 
viel  grösseres  gewesen  sein,  als  "Wisser  aunimt;  stand  es  dagegen  auf  der  Vorder- 
seite, so  war  die  ganze  rückseite  durch  jene  4  Strophen  ausgefült,  und  das  einzelne 
blatt  jener  handschrift  hatte  dann  einen  geringeren  umfang,  als  es  nach  der  aufgestel- 
ten  berechnung  der  fall  gewesen  sein  müste.  Damit  stürzen  aber  auch  die  auf  diese 
gegründeten  folgerungen. 

Es  zeigt  sich  hier,  was  Wisser  s.  4  anm.  selbst  zugegeben  hat,  dass  eine  ent- 
scheidung  der  fragen,  die  er  aufwirft,  ohne  heranziehung  der  in  B  und  C  vorliegenden 
abbildungeu  nicht  getroffen  werden  kann.  Diese  kommen  auch  schon  in  betracht, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  ob  wir  als  gemeinsame  grimdlage  von  B  und  C  überhaupt 
eine  einzige  handschrift  anzunehmen  haben  oder  nicht.  "SVisser  sezt  das  ohne  genü- 
genden grund  voraus.  Die  Übereinstimmung  von  B  und  C  erklärt  sich  an  iind  füi* 
sich  doch  ebenso  gut,  wenn  Q  eine  handüchriftensamlung,  als  wenn  es  eine  sammel- 
handschrift  war.  Und  die  reiheufolge  der  dichter  in  B  und  C  spricht  keineswegs  für 
das  leztere.  Sie  zeigt  mehr  abweichung  als  Übereinstimmung;  das  bringt  die  Über- 
sicht, die  der  Verfasser  s.  7  gibt,  nicht  zur  geltung.  Übereinstimmend  folgen  in  B 
und  C  nur  auf  einander:  1.  Hausen,  Rietcnburg,  Seveüngen;  2.  Muuegur  und  Rute; 
3.  Heinzenburc  und  Seven,  denen  an  und  für  sich  wie  in  B  so  auch  schon  in  Q 
Rubin  gefolgt  sein  könte,  der  in  C  nur  durch  den  in  B  nicht  enthaltenen  AValther 
von  Metz  von  Liutolt  von  Seven  getrent  wird;  doch  ist  das  aus  anderen  gründen 
nicht  eben  wahrscheinlich.  Dagegen  mögen  (4.)  Singenberg  und  Künzich  (in  C  durch 
Sahsendorf  getrent)  schon  in  Q  vereinigt  gewesen  sein,  ebenso  wie  endlich  (5.)  kai- 
ser  Heinrich  und  Rudolf  von  Feuis,  zwischen  die  nur  in  C  neun  in  B  nicht  über- 
lieferte fürstliche  dichter  eingeschoben  wurden.  Dass  B  und  C  übereinstimmend  durch 
den  kaiserlichen  minnesinger  eröfjiet  werden,  ist  begreiflich  genug.  Dass  aber  im 
übrigen  jene  einzelnen  complexe  von  2  bis  3  dichtem  sich  verschieden  auf  die  sam- 
lung  verteilen  und  dass  die  übrigen  dichter  einzeln  in  ganz  abweichender  anorduung 
dazwischen  stehen,  würde  unerklärlich  sein,  wenn  ein  codex  mit  feststehender  reiheu- 
folge der  einzelnen  sänger  die  gemeinsame  grundlage  gebildet  hätte;  es  lässt  sich 
durchaus  kein  grund  erkennen,  aus  dem  C  oder  B  oder  C  und  B  sich  die  mühe 
einer  so  durchgreifenden  umordnung  des  vorgefundenen  gemacht  haben  selten. 
Andrerseits  aber  kann  Q  auch  nicht  aus  einer  anzahl  von  liederbüchern  ganz  ver- 
schiedenen Ursprungs  bestanden  haben,  es  muss  vielmehr  eine  einheitlich  angelegte 
samlung  gewesen  sein.  Dies  geht  eben  vor  allem  aus  dem  umstände  hervor,  dass  sie 
bereits  mit  den  nach  einem  gemeinsamen  Schema  angelegten  abbildungen  der  dichter 
und  ihrer  wappen  geschmückt  gewesen  sein  muss.  Leider  sind  die  Krausschen  nach- 
bildungen  der  miniatui-en  von  C  nicht  in  färben  ausgeführt;  das  ist  besonders  in 
bezug  auf  die  wappen  zu  bedauern,  umsomehr  als  v.  d.  Hagcns  angaben  in  diesem 
punkte  unvolständig  sind.  So  viel  ich  aus  ihnen  aber  entnehmen  kann,  zeigt  die 
kolorierung  der  gesamten  bilder  in  B  und  C  zu  viele  ab  weichungen,  als  dass  man 
sie  auf  eine  gemeinsame  vorläge  zurückführen  könte.  Dagegen  ist  eine  solche  für 
die  Zeichnung  mit  geringer  eiuschränkung  zweifellos  anzunehmen.  Ohne  weiteres  ist 
das  klar  bei  Bl  Cl  kaiser  Heinrich,  B2  CIO  Fcnis,  B3  C41  Hausen,  B8  C 27  Eist, 
B9  C60  Hartmann,  Ell  C44  Rucke,  B12  C16  Veldecke,  B13  037  Reinmar,   BIT 


i'HEI!    WISSER.    I.IKnKRUAXliSi  IIK'Il -TKN 


93 


C7S  Muüi"<,nur.  DIS  ('70  I>uto.  I520  ('.")(!  Küiizidi,  IVJn  ('ir.  Waltlicr:  wenn  ;uir!i 
boi  2  (10),  12  (Ki)  uiiil  25  (1.'))  ('  das  wappoii  vur  I'.  voraus  liat  und  S  (27)  in  (" 
volst;iiidii;-er  ausgeführt  ist  als  in  I!.  Ferner  /.eigen  dann  die  miniatureii  15  ä  Ci:! 
(Sevolinii-en) ,  J'.  Ifi  ('.").">  (Jlerheini),  ül!)  ('IS  (Singenborg)  unter  üljereinstininiendeni 
■\vai)penschild  und  holm  jedesmal  die  beiden  liebenden,  weini  auch  in  abweichender 
Stellung,  ebenso  B  10  0  50  (Joliannsdorf)  wenigstens  unter  der  gleichen  darstellung 
des  lielnies.  Auch  liei  15  7  C  öS  (Bligger)  blickt  nicht  nur  in  der  v()llig  gleichen 
zeicluuuig  von  sehild  undiielm.  sondern  aucli  in  der  (U'S  ilicihters  nocli  dieselbe  vor- 
läge durrh,  weiuigleicli  Üligger  in  11  seine  liedeirnlle  selbst  hält,  widirend  ov  sie  in  (! 
vom  lioten  schreiben  lässt.  1)  23  0  52  (Scven)  stimmen  wenigstens  insofern  iil)erein. 
als  der  dichter  beiderseits  zu  pferdc  mit  dem  porgamiMit  in  der  band  dargestelt  ist. 
und  der  Schild,  den  er  in  V>  am  arme  trägt,  währeml  derselbe  in  C  i\vm  gewöhn- 
licbenMi  lirauche  gemäss  über  dem  eigi'ntlichen  liilde  steht,  zeigt  das  gleiche  Wap- 
pen, danz  abweichende  üguivn  zeigen  bei  ül)ei-einstimmung  des  wappensehibbss  und 
des  helmes  B4  ('42  (Kogeusburg),  BG  ('14  (Botenlaulien),  B  14  »'32  (dutenburg), 
l'>22  C51  (Heinzeuburc);  doch  ist  bei  4  und  ß  in  B  das  fortbleiben  der  zweiten  figur 
und  die  dadurch  bedingte  abweichung  dei-  darstcdlung  offenliar  durch  den  umstand 
xcranlasst,  dass  B  hier  mit  dem  räume  kai'gte,  indem  es  die  beiden  bilder  noch 
unten  auf  den  zum  grossen  teil  schon  bi'schriebeuen  Seiten  18  und  23  anl>rachte  — 
die  beiden  einzigen  fälle,  wo  dem  bilde  nicht  eine  besondere  Seite  eingeräumt  ist. 
Dagegen  mag  bei  14  und  22  nur  erst  die  zeichimng  des  Wappenschildes  und  des  hel- 
mes in  di'Y  vorläge  gestanden  haben.  Bei  B  21  t'4G  (Schwangau)  trägt  der  dichter 
auf  dem  übi'igens  gleichfals  ganz  abweichenden  bilde  in  0  wenigstens  am  kleide  das- 
selbe waiijien,  welches  B,  der  gewöhnlicheren  weise  entsprechend,  in  dem  l)esonders 
dafür  abgeteilten  oberen  fehle  bringt,  (lanz  verschieden  ist  das  bild  zu  BIG  ('34 
(Morungen),  wo  C  das  richtige.  B  ein  nach  dem  nameu  des  dichters  erfundenes 
wapiien  bietet;  gleichwol  hat  sich  die  figur,  welche  B  gibt,  schon  in  der  vorläge 
befunden:  sie  ist  vou  C  für  (Uiers  benuzt.  So  ist  B  24  C  54  (Rubin)  schliesslich  die 
einzige  miniatxir,  bei  der  sich  weder  im  wajipen  noch  im  liilde  irgendwelche  borüh- 
rung  zwischen  den  beiden  handschriften  findet,  und  gerade  hier,  boi  Rubin,  weicht 
in  B  und  (.'  aucli  die  reihenfolge  und  der  bestand  der  Strophen  in  einem  grade  ab, 
wie  bei  keinem  anderen  dichter.  Trotzdem  weisen  einzelne  übereinstimmende  text- 
verderbnisse  in  B  und  C  auch  hier  auf  eine  vom  original  verschiedene,  abgeleitete 
ipiidle  der  beiden  hin.  Al:)er  diese  muss  hier  anders  geartet  gewesen  sein  als  in  den 
übrigen  fällen;  sie  l.)estaud  vielleicht  noch  aus  einzelaufzeichuungen,  denen  noch  nicht, 
wie  den  liedern  der  ülirigen  dichter,  das  liild  des  Verfassers  beigegeben  war.  Und 
so  scheint  Q  überhaupt  noch  einen  unfertigen  charakter  getragen  zu  haben,  als  B 
daraus  abgeschrieben  wurde.  Es  wird  eine  im  wesentlichen  einheitlich  ausgeführte, 
nüt  Zeichnungen  versehene  samlung  gewesen  sein,  die  jedoch  noch  aus  einzelnen 
losen  abtoilungen  bestand  und  überall  der  erweiteruug  fähig  war.  Enthielt  sie  damals 
noch  nicht  inehr  als  was  in  B  aufgenommen  wurde,  so  wird  sie  nachher  noch  in  dem- 
selben Stile  fortgesezt  und  schon  beträchtlich  vermehrt  gewesen  sein,  als  sie  die 
grundlage  vou  (.'  wurde.  Bafür  spricht  die  nicht  unerhebliche  anzahl  von  liildern 
iler  handschrift  (.',  welche  in  B  nicht  enthaltene  dichter  darstellen  und  doch  den 
alten,  einfacheren,  einem  beschränkteren  räume  entsprechenden  tyitus  dei'  B  und  C 
gemeinsamen  abbildungen  aufweisen,  nicht  den  der  gestaltenreicheren,  gleich  für  ein 
grössei'es  format  com])onierten  übrigen  miniaturen  in  C. 


94  FRÄNKEL 

Sollen  nun  ausser  jener  alten  illustrierten  samlung  Q  aucli  noch  zwei  oder  gar 
noch  mehr  andere  bilderhaudschriften ,  als  mittelstufen  von  Q  zu  B  und  zu  C,  exi- 
stiert haben,  die  ebenso  wie  Q  selbst  spurlos  verloren  gegangen  sind?  Ohne  zwin- 
genden grand  wird  man  sich  zu  dieser  annähme  nicht  entschliessen ,  und  einen 
solchen  beizubringen  ist  dem  Verfasser  der  vorliegenden  abhandhmg  meines  erachtens 
nicht  gelungen.  Zu  einer  erschöpfenden  behandlung  dieser  frage  würde  es  freilich 
auch  nötig  sein,  auf  die  texte  selbst  einzugehen,  eine  aufgäbe,  die  der  Verfasser  hier 
so  wenig  in  den  liereich  seiner  arbeit  gezogen  hat  wie  im  zweiten  hauptteile,  einer 
vergleichung  des  strophenbestaudes  und  der  strophenfolge  in  B  und  C,  die  er  übii- 
gens  auf  s.  15  fg.  in  einer  recht  wilkommenen  tabellarischen  Übersicht  veranschaulicht 
hat.  Überhaupt  hat  er  die  äusseren  Verhältnisse  der  textüberlieferung  sorgfältig 
geprüft  und  dargelegt,  nur  hat  er  zu  viel  aus  ihnen  gefolgert. 

BRESLAU.  F.    VOGT. 


Tugendhaffter  Jungfrauen  und  Jungengesellen  Zeit-Vertreiber.  Ein 
weltliches  liederbüchlein  des  X-VII.  Jahrhunderts  aus  v.  Meusebachs 
samlung  in  der  Berliner  öffentl.  bibliothelc.  Nachweisungen  der  quellen, 
aus  denen  die  201  lieder  geschöpft  sind,  von  K.  II.  O.  Freiherr  von  Meusebaoli 
(f  1847).  Als  beitrag  zur  geschichte  des  deutschen  Volksliedes  herausgegeben 
von  Hugo  Hayii.  Köln  a.  Rh. ,  vorlag  von  Franz  Teubner.  1890.  24  s.  1,50  m. 
Der  durch  eine  reihe  von  Veröffentlichungen  zur  kuriosa  -  bibliogi'aphie  be- 
kante  Spezialist  Hayn  legt  hier  in  verbesserter  gestalt  eine  arbeit  vor,  die  bereits 
1870  im  lezten  (31.)  jahrgange  des  Serapeum  nr.  10  — 11  sehr-  fehlerhaft  gedruckt 
worden  war.  Die  hier  dargebotene  neuausgabe  hatte  Hayn  schon  1885  in  seiner 
„Bibliotheca  Germanorum  erotica"  (2.  aufl.  s.  179),  diesem  äusserst  inhaltsreichen, 
wenn  auch  teilweise  nicht  völlig  zuverlässigen  hilfsmittel,  angekündigt^.  Nunmehr 
tritt  sie  in  sehr  übersichtlicher  gestaltung  und  typographisch  vortreflich  ausgestattet 
vor  den  freund  und  kenner  des  älteren  neudeutschen  Volksliedes.  Der  genaue  titel 
des  zu  gründe  liegenden  werkchens,  dem  bisher  nicht  die  gebührende  rücksicht 
gewidmet  wurde,  lautet:  „Tugendhaffter  Jungfrauen  und  Jungengesellen  Zeit-Vertrei- 
ber Das  ist:  Neu -vermehrtes,  und  von  allen  Fan -tastischen  groben  unflätigen  und 
Ungeschick  -  ten  Liedern  gereinigtes,  "Weltliches  Lieder -Büchlein,  Bestehend  in  vie- 
len, meistenteils  Neuen,  zu  vor  nie  im  Truck  ausgegangenen  lieblichen  und  anmu- 
thigen  Schäferey-  Wald-  Sing-  Tantz-  und  keuschen  Liebes -Liedern.  Alle,  von 
bekannten  annehmlichen  Melodeyen,  in  ein  ordentlich  verfastes  Register  zusammen 
getragen,  Dm-ch  Hilarium  Lustig  von  Freuden -Thal.  Gedruckt  im  gegenwärtigen 
Jahr".  Als  entstehungszeit  dürfte  etwa  1690  anzunehmen  sein;  doch  steht  über  die 
äusseren  umstände  der  Veröffentlichung  nichts  fest;  datum,  druckort  usw.  sind  unbe- 
kant,  auch  ist  der  Verfasser  bisher  noch  nicht  entlarvt.  Das  haudexemplar  Meuse- 
bachs auf  der  königl.  bibliothek  zu  Berlin  (Yd  8"  5111)  umfasst  100  blätter  ohne  Sei- 
tenzahl, A  bis  Ny  signiert.  Der  titel  steht  in  einfassimg,  mit  einem  holzschuitte, 
der  eine  musicierende  geselschaft  von  sechs  köpfen  darstelt.  Der  text  enthält  201 
lieder,  „gesetzweise"  gedruckt.  Auf  diese  bezeichnung  gründet Meusebach  seine  aller- 
dings nur  mit  grenzen  benante  Zeitbestimmung.     Seine  handschriftliche  notiz  in  jenem 

1)  Neuerdings  hat  Hayn  noch  eine   „Biblioüieca  Germanorum  nuptialis"   folgen  lassen  (Köln, 
F.  Teubner,  1890.    89  s.    Preis  4m.);    vgl.  Fränkels  anzeige  i.  Centralbl.  f.  bibliothekswesen  YIII  57  f. 

Eed. 


i'HKIJ    IIAYiN,    LIEDEl!BiiriII,EI\  95 

excnii)lai'  l)(>sat;t:  ^Dass  diese  lieilersaiiiluiit;-  iiadi  Opitz  luul  FleiiDiiinjj,-  ,i;eiiiaclit  wor- 
den, zeigen  dii^  daraus  geiioinineiicn  stücke;  dass  aljer  noch  im  XVII.  jalirhuMderf, 
zeigt  z.  Ij.  hier  am  eude  des  17G.  li(>des  der  ausdruck  ^desetz'  für  ^Strale'^.  l>er 
atidnick,  dow  nun  Ilayn  von  den  dem  Iiierzu  gefertigten  regist.(>r  heigegchenen  qucl- 
leiHiacliweisungcn  Mensebaclis  besoi'gt,  ist  geziemend  ein  diplomatiscli  getreuer  nach 
ilcn  4S  liandsehrii'tliehen  hlättern,  die  besagtem  cxemplar  angelmnden  sind.  Die  aus 
,\leusehaclis  samlung  in  die  königl.  bibliothek  zu  IJerlin  gelangten  origiiialdrueke.  die 
er  selbst  also  völlig  ausgenuzt  hat.  sind  hier  recht  gut  durch  gospcrten  (h'uck  her- 
ausgeholten, llcsondere  aufmei-ksamkeit  verdiiMit  das  s.  2.)  fg.  von  IFayii  hereingczo- 
geni-  liederhuch  ^Gantz  neuer  Hans  guck  in  die  Welt,  Das  ist:  Neu- vermehi'te  welt- 
lichi'  1/ast- Kannner.  In  welcluM'  mehr  als  sii/henzig  ausbündige  neulichst  ei-snnnene 
artige  Schiifferey-  Welt-  Spali-  Y(;xir-  Täntz-  und  andere  kurtzweiligo  Liech'r  liey- 
samn\(^n  getrag(Mi  zu  finden.  Allen  besehendonen  .lungengesellcn  und  züchtigen  Jung- 
ti-auiMi  Iie(|ueiner  Zeit  uinl  Gelegenheit,  ehrlicher  (iemüts- Belustigung  erlaubet  zu 
gehrauchen.  Anjetzo  mit  vielen  Neuen  Liedern  vermehret  worden.  Zufinden  bey 
Job.  Jon.  Felseckers  sei.  Erb(>n".  (Nürnl)erg,  etwa  neuntes  .labrzehnt  des  17.  jlis.) 
Ks  enthält  unter  Signatur  A  bis  G  79  nummcricrte  liedei-,  darunter  eine  grosso  anzahl 
mit  unsei'em  liederbuche  gemeinsam.  Vielleicht  hilft  ein  tätiges  uachforsehen,  etwa 
gar  (h'r  fand  eiiu'S  dedikationsexem])lars  auf  die  spur  unseres  auonymus.  Dem  cxem- 
plar der  konigl.  bibliothek  zu  Berlin  (Yd  8»  5110)  fehlt  übrigens  bogim  8. 

Auf  einzi'lheiten  der  nachweise  sei  hier  nicht  des  näheren  eingegangen.  Hof- 
fentlich luimmeu  sie  den  bearbeitern  des  nuu  wider  fleissig  bebauten  feldes  der  litte- 
raturgeschichte  des  17.  Jahrhunderts  gelegen,  ebeuso  dcir  forschern  auf  den  fluron 
dos  deutsehen  liedes.  Man  kann  Hayns  urteil  unterschreiben:  „si(j  weixlen  am  besten 
Zeugnis  von  dem  rastlosen,  stillen  und  resignationsvollen  fieisse  luid  der  unübertrof- 
fenen sachkentnis  des  grossen  samlers  und  ausgezeichneten  kenners  deutscher  litteratur 
ablegen".    Vgl.  Meusebachs  Fischartstndieu  hg.  von  Wendeler  (1879)  s.  20.  25  ff.  u.  ö. 

HELGOLAND,   FFINGSTEN    1890.  LUDWIG    FHÄNKEL. 


Johannes  llöser,  Die  syntaktischen  erscheinungen  in  Be  Dnmcs  Dcr^c. 
Halle  a.  S.    1889.     8.     70  s. 

Eine  lleissigc  syntaktische  Untersuchung,  von  der  man  nv^r  bedauern  kann, 
dass  sie  sich  auf  ein  so  wenig  umfängliches  denkmal  beschränkt.  Die  304  versz eilen, 
aus  deneu  Bc  l^uincs  D/r^c  besteht,  lassen  den  Verfasser  um  so  weniger  zu  durch- 
weg festen  ergobnissen  gelangen,  als  der  toxt  mancherlei  Schwierigkeiten  bieti't. 

Einiges  in  der  vorliegenden  arbeit  gehört  nicht  in  die  syntax;  dies  gilt  z.  b. 
mehr  oder  weniger  von  den  abschnitten,  in  denen  die  adverbia  und  die  pronomina 
lieliandelt  werden.  An  einigen  stellen  hätte  strenger  geschieden  werden  sollen,  so 
wäi'cn  §  5.  2.  Ij)  die  fälle,  in  denen  das  prädicative  adjectiv  bei  intransitiven  steht, 
zu  trennen  gewesen  von  jenen,  in  welchen  es  zu  einem  passivum  gehört;  in  v.  107 
wird  übrigens  sfcdelcasc  besser  als  attributives  adjectiv  gefasst.  —  §  5.  3.  )))  a)  wird 
gelehrt,  dass  das  particip  des  Präteritums  bei  sein  und  icerden  zur  Umschreibung  der 
zusammengesezten  zelten  des  activs  intransitiver  verba  verwendet  werde;  das  ist  alier 
insofern  ungenau,  als  ja  das  futurum  (fals  es  nicht  durch  ein  präsens  ausgedrückt 
ist)  nicht  auf  solche  art  umschrieben  wird.  ITiei-  möge  beiläufig  auf  den  übelstand 
liinge\^'iesen   werden,    der    aus    der  bildung  alzu  langer  paragraiiheu   mit   vielfältigen 


96  NADER,    ÜBER    HÖSER,    SYNTAX    IN    BE    DOlffiS    D.EGE 

Unterabteilungen  entspiingt:  rasches  und  sicheres  auffinden  von  citaten  ist  dadurch 
fast  unmöglich  gemacht,  und  die  Verweisungen  selbst  werden  ungemein  schwerfällig. 

Von  dem,  was  ich  mir  bei  der  durchsieht  der  abliandlung  angemerkt  habe, 
sei  noch  folgendes  angeführt.  §  5.  3.  a)  «)  Wenn  auch  fMan  sonst  nicht  in 
reflexiver  bedeutung  belegt  ist,  so  würde  das  nicht  verhindern,  dass  es  v.  130  so 
gebraucht  sei;  mir  scheint  aber  tvearä  gegen  fedend  zu  spreben.  —  Ebd.  /3)  ctceäan 
ist  kein  intransitivum.  —  §  8.  In  ue.  aJl  of  us,  seven  of  them  liegen  ebenso  wenig 
partitive  genetive  vor  wie  im  lat.  umis  ex  iis.  —  §  18.  Dass  der  instrumental  des 
pron.  se  vom  dativ  verschieden  ist,  hätte  schon  deshalb  angeführt  werden  sollen, 
weil  dies  in  BDD  der  einzige  erkenbare  instrumental  ist.  —  In  §  136  gehört  v.  132 
pä  pe  tvdron  unter  2  (relativsatz  eingeleitet  durch  se  pe) ;  dorthin  ist  auch  v.  300 
zu  stellen :  ^tf  pü  tville  sec^an  soä  posm  Pe  frineä.  Ich  glaube  nicht,  dass  der  Ver- 
fasser recht  hat,  wenn  er  §53,  c)  ß)  u.  ö.  diesen  relativsatz  für  einen  un verbundeneu 
erklärt.  Ebenso  unwahrscheinlich  ist  mir,  dass,  wie  §  36.  1.  a)  ß)  gesagt  ist,  „die 
relativpartikel  pe  [der  relativsatz?]  als  Substantiv  seinem  beziehungsworte  vorangestelt 
ist"  in  v.  290  pe  ealle  Uet  . . .  pcet  is  Maria;  es  bezieht  sich  das  relativum  vielmehr 
auf  das  vorausgehende,  und  zwar  entweder  nominativisch  auf  beortost,  was  das  siu- 
gemässere  wäre,  oder  accusativisch  auf  wereda,  was  dem  lateinischen  text  (agmina, 
quae  trahit  alma  Bei  genetrix)  entspräche.  —  Im  §  50  liest  man,  dass  das  histo- 
rische präsens  im  angelsächsischen  überhaupt  selten  sei.  Komt  also  doch  irgendwo 
in  einem  ags.  denkmal  ein  präs.  bist,  vor?  Ausser  Beowulf  1879,  wo  ein  sehr  auf- 
fälliges präsens  steht,  das  man  zur  not  als  ein  historisches  erklären  könte,  ist  mir 
kein  sicheres  ags.  präs.  bist,  bekant.  Es  unterliegt  keinem  zweifei,  dass,  wie  Höser 
vermutet,  in  BDD  v.  15  und  17  ondrSde  =  ondr&dde  als  präteritum  zu  fassen  ist. — 
§54,  2,  b)  Ob  pü  cwade  als  conjunctiv  zu  gelten  habe,  lässt  sich  durch  v.  12  nicht 
entscheiden;  das  veralgemeinernde  eall  vor  swylce  scheint  allerdings  einen  couj.  zu 
begünstigen.  —  §54,  2.  c)  f).  Es  wäre  auch  der  indicativische  folgesatz  anzuführen 
gewesen.  —  §  94,  2.  a)  In  v.  277  wird  man  hliäe  besser  als  nachgesteltes  attribu- 
tives adjectiv  auffassen,  wie  deren  im  §  96  mehrere  aufgezählt  sind. 

Schliesslich  noch  eine  kleine  bemerkung,  die  eine  stelle  in  meinem  aufsatz 
über  den  dativ  und  instrumental  im  Beowulf  angeht.  Der  herr  Verfasser  scheint 
§16,  c)  zu  zweifeln,  dass  Heyne  forwyrnan  mit  dem  dativ  ansetze;  ich  kann  nur 
widerholen,  dass  Hej'uo  dies  in  der  4.  aufläge  (unter  woruld-rcvden  s.  283)  iind  wol 
auch  in  den  früheren  (weingstens  in  der  2.,  die  mir  ebonfals  vorliegt)  wirklich  tut. 

WaEN.  E.    NADER. 


Elard  Hug-o  Meyer,  Völuspa.     Eine    Untersuchung.     Berlin,    Mayer   und  Müller. 
1889.     8.     IV,  298  ss.     6,50  m.  ^ 

Zwingt  es  uns  nicht  ein  überlegenes,  selbstzufriedenes  lächeln  ab,  wenn  wir 
einen  chauvinistischen  hetzpriester  von  der  edlen  sorte  eines  Julius  Firmicus  Mater- 
nus  in  seinem  liber  De  error e  profanarwu  reUc/iomim  die  heidnischen  mysterienculte 
aus  dem  alten  testameut  herleiten  sehen?  Der  tractat  ist  herausgegeben  von  Halm 
im  "Wiener  Corpus  Script,  eccl.  lat.  vol.  H,  73  fgg.   und  mag  etwa  im  jalir  347   ent- 

1)  Die  Verleger  haben  für  dio  ausstattung-  des  buches  so  gut  wie  nichts  getan ,  papier  und  druck 
sind  aussergewrihnlich  schlecht;  ich  kann  mir  auch  nicht  denken,  dass  der  heiT  Verfasser  für  die  unge- 
wöhnlich mangelhafte  currectur  voraiitwnrtlich  gomaclit  werden  dürfte. 


KAUFFMANX,    ÜBER   MEYKR.   VÖLURPA  97 

standeu  sein.  Nicht  bloss  hat  Habacuc  3,  3  —  5  (comua  in  maiiibus  eins  erunt)  die 
quelle nstelle  für  (voT  di'xeQug  &i\uün(^e  (c.  21)  geliefert,  in  derselben  weise  ist  der 
liaunicultus  in  sacris  Frygiis,  in  Isiacis  sacris,  in  Proserpinae  sacris  nichts  ande- 
res als  teuflische  uachbikUmg  der  christlichen  Symbolik  des  lobens-  resp.  kreuzes- 
bauinos  (c.  27).  Doch  hatte  auch  er  bereits  ernsthafte  Vorgänger,  wenn  schon  nach 
Justinus  Martyr  der  an  den  weinstock  gebundene  esel  im  segeu  Jakobs  (1.  Mose  49, 10) 
der  hellenischen  Bachusmythe  oder  mittelst  Verwechslung  des  esels  mit  einem  pferdo 
der  sage  von  Bellorophon  imd  Pegasus  zu  gründe  liegt,  ferner  das  psalmwort  19,  G 
die  motive  der  sage  von  den  Wanderungen  des  Herakles  abgegeben  hat  u.  a.  Ans 
dem,  wie  mir  scheint  in  unsern  fachkreisen  zu  wenig  l)emerkten,  lehiTeichen  buche 
von  0.  Zöckler,  Geschichte  der  beziehungen  zwischen  theologie  und  naturwisseiischaft 
mit  besonderer  rücksicht  auf  die  Schöpfungsgeschichte  (Erste  abteilung,  Gütersloh 
1877)  Hesse  sich  zu  diesem  capitel  noch  mancherlei  beibringen.  Solche  in  der  theo- 
logischen litteratur  späterliin  sehr  beliebte  Spielereien  haben  bekantüch  in  dem  Scan- 
diiiavien  des  mittelaltcrs  uachtreter  gefunden;  ich  brauche  bloss  an  Formali  und  Eptir- 
mäli  zu  Gylfagiuuing  zu  erinnern,  denen  es  mit  Brimis  salr  =  hqll  Priamns, 
()I:iip6rr  =  Hector,  ragnarokkr  =  trojanischer  krieg  usw.  sehr  ernst  gewesen  ist. 
Die  von  den  neueren  gefundenen  entstellungen  der  alten  namen  empfehlen  sich  nicht 
immer  so  leicht.  Es  ist  mir  nicht  möglich,  zu  gunsten  des  heutigen  Verfahrens 
einen  unterschied  zu  entdecken,  wenn  auf  der  einen  seite  die  cormta  des  alten  testa- 
ments  für  den  .hövvoog  TuvQÖy.tQwg  oder  ßovxitywg,  andererseits  in  gleich  unbedach- 
ter weise  die  cormm  crucis  für  das  Gjallarhorn  {hqtt  hhpss  Heimdallr  VqI.  46,  3) 
verantwortlich  gemacht  werden.  Die  Umwandlung  der  cornua  crucis  in  die  tuba 
des  gerichts  erfordert  einen  salto  mortale,  zu  welchem  meine  phantasie  nicht  fähig 
ist.  Man  ist  doch  almählich  gegen  die  versuche  abgehärtet,  bresche  auf  bresche  in 
die  alte  götterburg  der  Germanen  zu  legen.  Die  Situation  der  mythologischen  for- 
schung  ist  nicht  so  ungemütlich  und  unbehaglich,  wie  dies  Meyer  s.  1 — 8  zu  schil- 
dern sucht.  Wol  haben  widerholt  kenner  unseres  germanischen  alteiiums  einspräche 
gegen  unberufene  Störenfriede  erhoben.  Aber  nicht  mag  „leidenschaft,  heisse  liebe 
zur  vaterländischen  dichtuug"  (s.  8)  die  Überlegenheit  ihres  geistes  geblendet  haben: 
ein  P.  E.  Müller  (den  Meyer  nicht  übergehen  durfte),  J.  und  AV.  Grimm,  Uhland, 
R.  Keyser,  Petersen,  Müllenhoff  waren-  doch  wol  mit  anderem  rüstzeug  versehen, 
um  wie  liebhaber  nach  lust  und  neigung  ihre  entscheidung  zu  treffen.  Man  wird 
allerdings  nicht  mehr  auf  grände  wie  Mythologie  I*,  81  verweisen  dürfen. 

Es  war  von  vornherein  zu  erwarten,  dass  der  rücksichtslose  fonnalismus  der 
Norweger,  die  sucht,  in  den  alten  liedern  einzelne  Wörter  oder  phrasen  aufzuspüren, 
die  als  Übersetzung  kirchen-  oder  dogmengoschichlicher  schultermini  gedeutet  werden 
könten,  in  Deutschland  eine  selbständige  entwicklungsphase  nicht  erleben  werde;  und 
so  ist  denn  auch  das  vorliegende  buch  E.  H.  Meyers  in  etwas  anderem  stile  gear- 
beitet. Bugges  schwächen  werden  verschiedentlich  beleuchtet,  „einfalle  von  Bug- 
gescher  kühnheit"  sind  mit  der  arbeitsmethode ,  wie  sie  in  Deutschland  tradition 
geworden  ist,  nicht  verträglich.  Was  sollen  wir  aber  dazu  sagen,  wenn  Meyer  trotz- 
dem vorsätzlich  und  alles  ernstes  Buggesche  läppen  ansezt  und  den  Buggeschen  sog. 
Volksetymologien  die  gleicliungeu  Hrymr  =  Gharon  (s.  196),  Hcener  =  HenocJi 
(s.  226)  hinzufügt?  Es  kann  uns  bei  dieser  wilfährigkeit  aufzuraffen,  was  irgend  die 
wankende  säule  zu  stützen  vermöchte,  nicht  verwundern,  dass  Meyer  statt  mit 
Qnrmr  mit  Cerberus  rechnet  und  Bugges  herleituug  des  Iparqllr  aus  Eden  anspre- 
chend findet  (s.  175   anm.),   ohne  davon   zu  reden,   dass  schon  die  Vorstellungen  der 

ZEITSCHRIFT    F.     DEUTSCHE   PHILIOLOGIE.       BD.    XXH'.  7 


98  KAUFFMANN 

kirchenvätcr  von  der  goograpliischon  läge  des  gartensEden  (Zöcklor  a.  a.  o.  I,  128  fg.) 
einen  vergleich  mit  dem  felde  der  götter  ausschliesseu.  Ich  will  nicht  davon  reden, 
dass  die  Nordleute  die  paradiesvorstellung  durch  den  Odainsakr  ausgedrückt  haben 
(Notae  uberiores  zu  Saxo  I,  160.  Maui'er,  Bekehrung  II,  370) ;  bezüglich  des  namens 
wird  man  berechtigt  sein,  an  den  Ida  filitis  Eohha  bei  Nennius  c.  65  zu  erinnern. 
Meyer  hat  sich  nicht  vor  der  stilverirnmg  gescheut,  die  durch  solche  fremdartige 
auswüchse  in  den  aufriss  seines  buches  geraten  ist.  Einflüsse  griechisch-römischer 
mythologie  will  nämlich  Meyer  in  der  V(jl.  nicht  widerfiuden,  sondern  er  betrachtet 
dieselbe  „als  eine  in  der  skaldischen  mythensprache  des  heidnischen  nordens  vor- 
getragene christliche  heilslehre",  sie  soll  eine  „summa  christlicher  theologie"  enthal- 
ten (s.  293  fg.);  das  ganze  des  gedichts  habe  in  gewissen  christlichen  littoratur- 
werken  seine  Vorbilder  und  Vorläufer  gehabt  (s.  246).  "Was  sich  Meyer  unter  der 
skaldischen  mythensprache  eigentlich  gedacht  hat,  ist  mir  aus  dem  buche  nicht 
deutlich  geworden-,  eine  geschichtliche  betrachtung  der  poetischen  diction  wäre  aber 
erste  Voraussetzung  für  seine  litterarhistorischc  kiitik  gewesen.  Schon  die,  allerdings 
unzulänglichen,  resultate  E.  M.  Meyers  (Die  altgerman.  poesie,  Berlin  1889)  wollen 
sich  schleclit  damit  vertragen. 

Im  III.  kapitel  fasst  Meyer  die  ergebnisse  seines  buches  zu  einer  neugestal- 
tung  des  VglospQ - textes  zusammen,  die  sich  etwa  folgendermassen  ausuimt: 

1)  Einleitung  v.  1.  2  (E).  Statt  iuipiur  (H),  ivipi  (E)  2,  3  wird  ivister 
conjiciert  (s.  46  fg.);  das  wort  soll  gerade  an  unserer  stelle  „die  unterweltliche  wohn- 
statt  im  iunern  der  erde"  bedeuten.  Ich  glaube  nicht,  dass  auf  die  Verantwortung 
Meyers  hin  unsere  lexicographen  diesen  Zuwachs  verzeichnen  werden.  Als  quellen 
werden  für  die  beiden  Strophen  die  sibylUnischen  Orakel  und  Honorius  von  Augusto- 
dunum  angcsezt. 

2)  Schöpfung  V.  3.  4.  5.  6.  7.  8.  16.  17  (E).  hjupom  yppo  (bjofwm  um  E) 
4, 1  soll  nach  s.  65  dem  sibyllinischen  ovqkvuv  Inpioas  entsprechen  und  in  dem  sehr 
zweifelhaften  bjöpom  sollen,  wie  ich  übrigens  schon  bei  Finn  Magnusen  (Lex.  Mythol. 
533)  lese,  die  cireuli  codi  (himmelssphäi-en)  in  "Wilhelm  von  Conches  philosophia 
mundi  oder  die  orbes  in  Ambrosius  Hexaemeron  stecken;  ich  verweise  auf  Beda, 
de  natui'a  rerum  c.  9  (de  circulis  mundi),  ferner  J.  Giimm,  Mythologie  nachtr.  zu 
s.  464.  V.  5,  3^ — 5.  6,  1  —  2  (ausserdem  Mio  ok  viipjan  day ,  undorn).  8,  3.  4. 
16,  5.  6  (E)  sollen  interpoliert  sein.  Das  in  E  v.  9  — 15  überlieferte  sog.  dvergatal 
hatten  bereits  frühere  „mit  recht  als  späteres  einschiebsei  ausgestossen"  (s.  72  fg.  74). 
"Wahrscheinlich  bilden  v.  11  — 15  (E)  einen  ursprünglich  nicht  an  diese  stelle  gehö- 
rigen zwergkatalog ;  aber  v.  9  und  10  bringen  einen  zu  bestirnten  Inhalt,  als  dass  man 
diese  Strophen  so  leicht  überspringen  könte.  Das  Interesse  heftet  sich  an  das  gemein- 
germ.  wort  manlicon  (E),  mmilikan  (H),  vergleiche  got.  manleika,  ags.  vianlica, 
ahd.  erine  tnanalilmn  (statuas  ereas)  Alid.  gl.  II,  762  u.  ö.  Nach  J.  Grimm  Mytho- 
logie I*,  465  bildeten  Mötsogner  und  Durcnn  eine  menge  menschenähnlicher  zwerge 
aus  der  erde.  Das  widerstreitet  der  angäbe  in  v.  9,  wonach  die  drott  der  zwerge 
ur  Brimes  blope  ok  6r  Blaens  leggjom  geschaffen  werden  soU;  vgl.  dazu  Yaff)!!!})- 
nesm.  v.  21.  Grimnesm.  v.  40.  Dagegen  gibt  uns  v.  10  ausreichende  antwort  auf  die 
frage,  woher  Askr  und  Einbla  stammen,  welche  die  göttertrias  vorgefunden  hatte. 
Offenbar  sind  von  den  zwergen  (aus  holz?)  geformte  manlicon  damit  gemeint.  Für 
die  scliöpfungsgeschichte  hat  der  dichter  der  VqI.  Genesis  imd  Genesiscommentar  von 
Ambrosius,  Isidor  und  Honorius,  Hiob  und  Fred.  Salomon.  benüzt,  ferner  hat  der 
leser  ags.  Domesdaeg  106  und  "Wunder  der  Schöpfung  95  zu  vergleichen. 


VBER    MEYER.    VÖLUSPA  99 

3)  l)or  süiuloiit'ull  der  iiieiischcu  und  seiiio  folgen.  Unter  diesem 
tit(>l  werden  die  Strophen  18.  21.  22.  23.  24.  25.  2G.  27  (R)  voreinigt,  v.  19.  20  (R) 
sollen  interpoliert  sein,  ausserdem  22,  2  (R).  Für  den  text  haben  Genesis,  Ambro- 
sius  und  Houorius  die  grundlage  gebildet. 

4)  I)ie  erlösung  der  sündigen  seele  durch  den  gekreuzigten  = 
V.  28.  29.  30.  32,  1.  2.  34,  3.  4.  35  (R).  Die  zwischeuliegendeu  Strophen  31. 
32,3.  4.  33.  34,1.  2  (R)  werden  wegen  ilires  vordringlichen  prunkens  mit  mytholo- 
gischen namcu,  ihrer  tondenz  die  heidnische  färbuug  zu  verstärken  (valkyrienepisode), 
wegen  ihres  unsichern  und  unbeliolfenen  ausdrucks  {mistiUeinn)  mit  verblüffender 
kühnhcit  weggeschnitten.  Für  den  text  hat  sich  der  mysteriöse  Verfasser  sein  mate- 
rial  aus  Honorius  imd  andern  kirchenschriftstellern,  sowie  aus  der  apokalypse  zusam- 
nicngeklaubt. 

5)  Hölle  und  paradies.  Hier  soll  sich  die  christliche  visionslitteratur  nebst 
einfluss  Ezechiels  in  den  Strophen  36  —  38  (R)  bemerkbar  machen;  nur  v.  .38,  3  ok 
panns  annars  glepr  eyrarüno  wird  trotz  der  „bis  auf  den  überraschenden  siugular 
hin  wörtlichen  übersetziuig "  von  Ezechiels  unusquisque  uxorem  proximi  sui  polluit 
(s.  1C9  fg.)  ausgenommen,  wegen  Hqvam.  115,  5. 

Gj  Die  Vorzeichen  des  jüngsten  gerichts  in  der  uatur  sind,  wie  die 
Strophen  39  —  43  (R)  sie  überliefern,  vorwiegend  germanische  personificationen  unheil- 
droliender  naturereiguisse  (s.  179);  mit  andern  werten  „nach  einem  ungeheuren  um- 
schweif  durch  die  christlichen  vorstellungskreise  kehrt  der  Verfasser  jezt  zur  hei- 
mischen bahn  zurück"  (s.  175)  und  doch  sollen  die  termini  ragnarqk  und  ragnarekkr 
eher  christlicher  als  heidnischer  prägung  sein  [dies  judicii,  respera  mmuli).  Die 
heidnisch  -  christliche  zwitternatui-  des  gedichts  (wie  reimt  sich  das  zu  der  anläge 
einer  christlichen  heilslehre?)  hat  es  zu  verantworten,  dass  wir  mit  str.  44  (R)  „plötz- 
lich mitten  aus  dem  bunten  treiben  einer  überwiegend  germanischen  mythenweit " 
herausgerissen  werden.  Da  es  für  Meyer  fraglich  ist,  ob  überhaupt  die  weltunter- 
gangsidee  eine  einheimische  gewesen,  nnd  da  er  andererseits  bis  hieher  nachgewiesen 
zu  haben  glaubt,  „dass  unser  dichter  fast  ausschliesslich  fremde  ideen  vorträgt,  da 
ferner  die  annähme  nahe  liegt,  dass  ihm,  als  geistlichen,  gerade  mehrere  derjenigen 
Schriften  bekaut  sein  musten,  in  denen  dieselben  zustände  mit  der  christlichen  ten- 
donz  aufs  jüngste  gericht  geschildert  werden  und  da  wir  endlich  die  art  der  darstel- 
luug  des  sittenverfals  nicht  als  specifisch  germanisch  anerkennen  können,  so  müssen 
wir  auch  hier  uns  fragen,  ob  nicht  auch  hier  fremde  muster  l)enüzt  worden  seien"* 
(s.  183).  Heisst  das  nicht,  die  einfachsten,  elementarsten  grundsätze  historischer  kri- 
tik  preisgeben? 

So  hat  denn  also  unser  dichter  das  evangelium  und  die  propheten 

7)  in  den  Vorzeichen  des  jüngsten  gerichts  auf  erden  und  am  himmel 
ausgeschrieben  v.  44  (ohne  zeile  4.  5).  45  (R)  -f  40,  3.  4  (H).  41  H  =  49  R.  44  (R). 

8)  Beginn  des  jüngsten  gerichts:  ansturm  und  kämpf  der  dämonen  mit 
der  gottheit  und  weltbraud  aus  der  apokalypse  und  den  propheten  geschöpft:  v.  47.48 
(Heljar  statt  muspellz).     50.  51.  52.  53,  1  R  -f  58,  1.  3  H.     53,  3  —  55  (R). 

9)  Die  neue  weit  und  ankunft  Christi  zum  jüngsten  gericht  gleich- 
fals  nach  der  apokalypse  und  den  propheten  gearbeitet,  die  Strophen  5G.  57  -j-  53,  3. 
59.  60,  61.  58  IL  62  umfassend.  \.  58  habe  schwerlich  irgend  welchen  volkstüm- 
lichen oder  litterarischen  Ursprung,  sei  vielmehr  ein  nicht  gehörig  motivierter  und 
unbeholfener  breiter  ausfluss  der  7.  strophe,  den  möglicherweise  ein  interpolator  in 
bewegung  sezte  (s.  218). 

7* 


100  KAUFFMANN 

Meyers  gründe  für  seine  textkritische  herstellung  einer  ursprüngliclieu  compo- 
sitioii  dos  gedichtes  sind  nirgends  überzeugend.  Es  niusten  andere  matorialien  bei- 
gebracht werden,  ehe  unser  interpret  gerechtfertigt  sein  konte,  eine  von  ihm  zu- 
sanimengestelte  stroplienreihe  als  VqIospq  auszugeben  und  dieses  stück  jüngster 
Eddakritik  als  christliche  heilslehre  zu  deuten.  Selbst  der  hinweis  auf  die  Eireksnic^l 
und  Hakonarmql  (s.  2G2  fg.)  kann  auf  grund  der  damaligen  zustände  in  Norwegen 
nur  ein  weiteres  zeugnis  für  die  unerschütterte  festigkeit  des  glaubens  liefern.  Ge- 
wiss waren  die  betreffenden  liofdichter  vom  schlag  eines  Jarl  Sigurdr,  den  seine 
hochsinnige  treue  zum  getauften  könig  niclit  hinderte,  zugleich  einer  der  eifrigsten 
Verteidiger  des  alten  glaubens  zu  sein  (Maurer,  Bekehrung  I,  151  fgg.). 

Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  sich  empfängliche  gemüter  finden,  die  dem  küh- 
nen Schwung  des  führers  folgen  —  gewiss  wird  es  für  sie  eine  befriedigende  abrun- 
dung  und  Vollendung  des  ganzen  sein,  in  Sa^mundr  dem  weisen  den  Verfasser  der 
E.  11,  Meyerschen  VQlospc'j  kennen  zu  lernen  (s.  275  fgg.).  Wenn  überhaupt  jemand, 
kontc  er  als  solcher  genant  werden:  hat  ihm  ja  die  legende  manches  ungeheuerliche 
angedichtet,  vgl.  z.  b.  hier  einschlagend  Yita  Saemundi  s.  XXVII,  87  (dazu  Zöckler 
I,  C5).  Er  ist  1133  oder  1135  gestorbefl.  Die  von  ihm  benüzten  Schriften  des  Ho- 
norius  Augustodunensis  „waren  kaum  schon  alle  im  ersten  viertel  des  12.  Jahrhun- 
derts auf  Island  bekant"  (s.  272  fg.).  Kurz  vor  seinem  tode  muss  also  der  verdiente 
pastor  Oddensis  der  nachweit  die  grosse  mystifikation  zugeeignet  haben,  die  für  den 
1170  geborenen  Snorre  schon  als  altes  gedieht  gegolten  und  im  Zeitalter  der  schritt 
nicht  bloss  die  entsteUimgen  in  Snorra  Edda,  sondern  auch  die  in  cod.  H.  erfahren 
haben  solte. 

Ssemundr,  eine  hauptstütze  der  kirche  (er  ist  z.  b.  1097  bei  der  einführung 
des  zehnten  beteiligt),  nach  allem  was  wir  wissen  ein  volksmann  bester  sorte,  der 
die  Vergangenheit  seines  volkes  kante  und  studierte  —  Sremundr  traue  ich  anachro- 
nismen,  wie  die  Meyersche  VglospQ  sie  enthält,  nie  und  nimmer  zu.  Man  verzeihe 
die  abscli weifung,  aber  unwilkürlich  wird  es  einem  inr  Meyerschen  buche  zu  mute, 
als  Ijewegte  man  sich  in  der  inoderneu  mytlienfabrik,  die  das  publikum  mit  dem 
Bacon  -  Shakespearemythus  in  Spannung  gehalten  und  die  sjjitzfiudigkeiten  Bugges  und 
Meyers  auf  den  markt  geworfen  liat.  Die  fabrikmarke  ist  hier  wie  dort  dieselbe,  die 
mache  gleich  unhistorisch. 

Ich  verzichte  darauf  zu  widerholen,  was  Müllenhoff,  Iloffory,  Jessen,  Bugge 
ül)er  das  alter  der  überlieferten  Vijlospö  beigebi'acht  haben.  Es  sind  nunmehr  die 
littei'arischen  parallelen  zu  prüfen,  die  Meyer  in  seiner  untorsucliuug  aufgestelt  hat. 
Icli  constatiere  zunächst,  dass  v.  42  —  44  und  dazu  gehörig  v.  20  (von  Meyer  gestri- 
chen) nach  s.  180  „ohne  zwcifel"  echt  germanischen  Inhalts  sind,  nur  der  höUenhund 
Garmr  soll  antik  zugestuzt  sein  =  Cerberus.  Im  vorbeigehen  füge  icii  an,  dass  der- 
selbe ja  leicht,  z.  b.  aus  Bedas  bei'ühmtem  bricfe  an  Ecgbert  zu  haben  war:  ille 
triceps  inferorum  canis,  cui  fabulae  Cerberi  nomen  indiderunt  (Haddan  and  Stul)bs, 
Councils  and  ecclesiastical  documonts  III,  325).  Im  stil  der  herschendon  mythendeu- 
tung  bricht,  nachdeni  die  wolkonfrauen  herangeschwebt  sind  und  der  wind  seine  nocli 
fröhlichen  weisen  angestimmt  hat,  das  gewitter  los.  Allein  der  dichter  der  Volospü 
habe  die  schlimmen  germanisclien  wettermytheu  nur  zum  aufputz  seiner  heilsgesehichte 
vorwendet.  Icli  zweifle  nicht,  dass  die  Ijctreffenden  Strophen  ihre  ausuahmestellung 
nur  den  lieblingsideen  E.  IL  Meyers  veixlanken. 

Für  uns  andere,  die  wir  tuis  unmöglich  entscliliessen  können,  die  religions- 
geschiehte  der  Germanen  in  eine  gewitteruacht  mit  winddämonen  und  blitzheroen  auf- 


ÜBER   MEYER,   VÖLUSPA  101 

/Ailusen,  iu  vorblcndctcr  riiiseitigkcit  dio  uiiscliauung  des  mitiirlolicns  zu  hypostasicren 
uiul  allü  andern  lebeusbedinguugon  unsorov  vorfahren  auf  sieh  beruhen  zu  lassen, 
1  Reiben  derartige  einfalle  Jiöclist  gleichgültig.  Solte  man  es  bei  ruliiger  Überlegung 
für  möglich  oder  auch  nur  denkbar  halten,  dass  mau  unsere  vorfahren  über  dio  natur- 
vo]-gäugo  grübeln  lässt,  während  uns  doch  die  formen  des  rechtslcbens  und  der 
sitte,  die  mit  den  Individuen  so  innig  verschmolzenen  nationalen  Institutionen 
der  Germanen  die  bedürfnisse  der  gemütor  so  anschaulich  widerorkenncn  lassen?  Es 
ist  liier  nicht  der  ort,  ein  programm  zu  entwickeln  und  meinen  in  arbeit  genom- 
menen untersuchungeu  über  germanische  religionsgcschichte  vorzugreifen.  Hängt  es 
nicht  mit  den  in  ganz  falsche  bahnen  gerateneu  grundanschauungen  zusammen,  wenn 
auch  E.  H.  Mej-er  widcrum  meteorologische  Vorgänge  als  germanische  mythenstoffe 
anerkent,  dagegen  dio  Zerrüttung  des  volks-  und  familienlebens  (v.  45)  verdächtigt? 
V.  43  mit  ihrer  Unterscheidung  von  Hol  und  ValhcjH  wäre  leichten  kaufs  durch  eine 
anleihe  bei  Schullerus  Beitr.  XH,  235  aus  der  Originalfassung  der  VcjlospQ  auszu- 
schliessen  gewesen;  was  zeichnet  die  strophc  vor  der  Baldrepisode  aus,  dass  diese 
getilgt,  jene  erhalten  ist?  Es  fehlt  dem  buche,  an  dessen  resultate  wir  nun  im  ein- 
zelnen heranzutreten  haben,  all  das,  was  uns  bestimmen  könte,  wo  wir  zweifeln, 
seiner  entscheidung  zu  folgen  und  wo  wir  überrascht  werden,  aus  ihm  zu  lernen. 

Vielleicht  befriedigt  es  den  einen  oder  andern,  wenn  ich  für  die  meirc  nk 
iitinnc  mngo  Ilcimdallar  (v.  1)  an  die  forniel  der  päbstlichen  kanzlei  erinnere,  die 
adresse  magnis  et  parvis,  ingenitis  et  servis  Zacharias  papa,  welche  der  aus  dem 
jähr  748  stammende  68.  Bonifatiusbrief  (Jaffe  s.  195)  trägt,  oder  wenn  ich  die  vielleicht 
dem  eingang  der  5.  strophe  zu  gründe  liegende  naturerscheinung  auch  aus  Jordanis 
III,  20  ((luod  nobis  videtur  sol  ab  imo  surgere,  iUos  [Scandza]  per  terrae  marginem 
dicitur  circnii-e)  belege.  "Weitere  gelegentliche  lesefrüchte  stelle  ich  später  zu  nutz 
und  frommen  zusammen.  Lassen  wir  zunächst  einzelnheiten  aus  Meyers  buch  revue 
passieren.  AVas  Meyer  s.  15  fgg.  über  Heimdallr  mythologisiert,  „ein  offenbar  jünge- 
res und  sonst  nicht  besonders  angesehenes  mythisches  wesen",  von  dem  nicht  zu 
begreifen  sei,  wie  er  zu  der  hohen  ehre  eines  städtegrüuders  gelangt  sein  solte, 
beschäftigt  sich  mit  der  symbolischen  deutung  des  regenbogens  und  seiner  färben. 
Die  biblische  regenbogenscene  nach  der  sintflut  und  die  sich  anschliessende  stände- 
sonderung  (bei  Honorius,  imago  mundi:  hujus  [Noe]  tempore  divisum  est  genus 
humanuni  in  ti'ia:  in  liberos  (de  Sem),  milites  (de  Japhet),  servi  (de  Cham))  scheine 
ein  nordischer  gelehrter  vielleicht  nach  irischem  vorbild  in  eine  art  inneren  Zusam- 
menhangs gebracht  und  so  auch  diese  dem  heidnischen  gott  des  regenbogens  über- 
wiesen zu  haben.  Weil  die  grüne  färbe  des  regenbogens  die  erde,  die  blaue  das 
Wasser  bedeutete,  wird  der  im  anfang  geborene  (mit  Christus  verschmolzene)  gott 
des  regenbogens  genährt  durch  der  erde  kraft  und  durch  das  kalte  wasser  und  end- 
lich durch  den  —  sonardreyri.  Dass  hier  für  das  zu  erwartende  feuer  das  blut 
eintritt,  gerade  das  bezeuge  den  christlichen  einfluss  am  unwiderlegiichsten  (s.  30). 
Gemeint  ist  einfach  das  blut  Christi,  des  sohnes  {sonardreyri)^  als  ob  kenningar 
wie  fnprgjqld  jqtna  Sn.  E.  II,  306.  I,  244  nicht  existierten.  WiU  Meyer  geck  kann 
til  sonar  blöts,  tu  frettar  Heimskr.  1,  24  (Uhland  Schriften  VI,  213)  ebenso  deu- 
ten? Das  misverständnis  Meyers  hat  schon  der  rationalistische  compilator  der  VqI- 
sunga  saga  verschuldet,  vgl.  Bugge  zu  Gu{)rünarkv.  II ,  21.  Die  rote  färbe  des  regen- 
bogens werde  auch  auf  das  unsere  sünden  sülmende  blut  gedeutet,  das  dem  herrn 
nach  dem  speerstich  aus  der  Seite  floss.  Durchzudenken  hat  Meyer  seine  annähme 
wol  selbst  nicht  vermocht,  wenn  er  a.  a.  o.  meint,   die  Charakteristik  spiele  zwischen 


102  KAUFFMANN 

den  erinnerungen  an  den  alten  regenbogengott  Heimdallr  und  den  neuen  eindrücken 
der  erscheinung  des  heilandes  hin  und  her.  Sind  für  das  12.  Jahrhundert  die  ein- 
drücke der  ersclieinung  des  heilandes  noch  „neu"  gewesen? 

Nach  s.  85  ist  L6{)orr  der  heilige  geist.  Nach  s.  127  war  es  ein  kühner  aber 
geschickter  griff  miseres  dichters,  dem  heiligen  geist  noch  einen  andern  heidnischen 
namen,  nämlich  den  des  Mimer  zu  geben.  Unter  solchen  Voraussetzungen  habe  ich 
auch  nichts  dagegen,  wenn  Meyer  s.  190  behauptet,  in  v.  46  vertrete  Heimdallr  nicht 
den  heiland,  sondern  einen  engel,  „wahrscheinlich  weil  er  nach  engelart  das  himlische 
Wächteramt  bekleidete  und  nach  Apokal.  10,  1  einer  von  den  englischen  verkündern 
des  jüngsten  gerichts,  eine  Iris,  also  das  zeichen  des  regenbogens  auf  dem  haupte 
trug".  Ich  wüste  nicht,  dass  mir  irgendwo  in  meiner  wissenschaftlichen  erfahrung 
eine  solche  nachgiebigkeit  des  autors  gegen  seine  tendenzen  aufgefallen  wäre,  die  vor 
dem  gewalttätigsten  nicht  zurückschreckt.  Mir  ist  nur  bei  einem  coufusionarius  wie 
Honorius  von  Augustodunum  (gelegentlich  von  Zöckler  so  genant)  etwas  begegnet 
wie:  leo  sirjnificat  aliquando  Christum,  aUquando  diabolum,  aliquando  siiperbu))i 
principem  (Bibl.  Max.  XX,  1179  E).  So  weit  ist  Meyer  von  seinen  einfallen  befan- 
gen, dass  er  uns  zumutet,  ein  corim  eruois,  den  verborgenen  teil  des  kreuzes  Christi, 
mit  der  tuba,  die  Heimdall  bläst,  zu  verwechseln.  Ich  habe  darauf  bereits  hingewie- 
sen. Allerdings  lassen  sich  anspielungen  auf  das  gericht  gottes  beibringen.  Ich  lese 
z.  b.  bei  Schönbach  Altd.  pred.  11, 181  fg.  aus  Ven.  Hildeb.  Cenomanensis:  iwofunditas 
id  est  pars  illa  qtiae  latet  profunda  mysteria  judicioruin  Dei,  während  es  bei 
andern  die  oceidta  gratia  Dei  zu  bedeuten  pflegt.  Dass  aber  dabei  nicht  an  das 
jüngste  gericht  gedacht  werden  darf,  stellen  die  worte  bei  Schönbach  s.  184:  occidta 
voluntas  Dei  et  incomprehensibilitas  judiciorum  ejus  unde  ista  gratia  in  honiines 
venit  usw.  ausser  zweifei.  Hat  einmal  einer  der  mittelalterlichen  mysticisten  die 
cornua  crucis  etwa  durch  die  cornua  lunae  symbolisiert  oder  umgekehrt?  Auf 
christlicher  Überlieferung  beruhend  ist  hörn  Sn.  E.  I,  48  verwendet  worden,  worüber 
unten  weiteres  zu  sagen  sein  wird.  Wenn  eine  skandinavische  phantasie  dazu  fähig  war, 
einen  kreuzesbalken  als  posaune  blasen  zu  lassen,  dann  allerdings  würde  ich  gerne 
darauf  verzicliten,  das  plastische  auschauungsvermögen  der  nordleute  zu  bewundern 
und  eine  dichtung  wie  die  VqIospq  zu  verteidigen. 

Str.  27     Veit  Heimdallar  hljöp  of  folget 

und  heipvqnom  helgom  bapme 
Str.  46  en  injqto'pr  kyndesk 

at  eno  ga.mla  Ojallarhorne 

h(}tt  bkess  Heimdallr  horns  d  lopte  . .  . 
Der  deutung  dieser  strophen  s.  116  fgg.  ist  die  anerkennung  scharfsinniger  combina- 
tion  nicht  vorzuenthalten.  Ich  kann  es  mir  versagen,  für  die  schon  so  vielfach  seit 
Jac.  Grimm  belegte  anschauung  des  kreuzes  als  des  lebensbaumes  weitere  citate  zu 
häufen,  sie  liegen  alüberall  am  wege.  Die  arme  des  kreuzes,  die  sich  nach  den  vier 
regionen  erstrecken ,  werden  bekantlich  als  cornua  bezeichnet  und  bilden  durch  ver- 
mitlung  Alcuins  die  vorläge  für  Otfrid  V,  1,  19  (thes  kruces  horn)^  worauf  seit 
J.  Grimm  Mythol.  II,  665  und  Holtzmann,  Mythol.  s.  188  wieder  Bugge,  Studien 
s.  473  aufmerksam  gemacht  hat.  In  dem  bereits  erwähnten  traktat  des  Julius  Fir- 
micus  Maternus  heisst  es  c.  21 :  cornua  nihil  aliud  nisi  venerandum  signum  cru- 
cis monstrant.  hujus  signi  uno  extenso  ac  directo  cornu  vmndus  sustcntatar ,  terra 
constringitur  et  e  duorum  quae  per  latus  vadunt  covtpagine  oriens  tangitur, 
occidens  sublevatur,    ut  sit    tottcs    orbis    tripertita   stabilitate   firmatus  eonßxiqtce 


i'BKR    MEYER,    VÖM'SPA  103 

oprris  ißi//>/ii)iiil//)/is  rinliclhus  fninUuncnhi  iriiccuiiiir.  c.  L'ö  lliiiunii  cra/  hi  para- 
ihfxo  Ay.  \t;l.  uiK'h  c.  'J7.  Iiitcrossanturü  stellfii  sind  ;uis  Tcrtullian  ln'i/.uln'inp.'ii  /..  Ii. 
iidvL'r.s.  .Iiulai'us  (cd.  Odder)  s.  11015:  quid  iiiain'fcsliii^^  .  .  iil  <iiii)il  jicrleral  (iliiii 
per  liiiiitiiii  in  Addiii ,  id.  rrstihicnii(r  per  liijinini  (''lirisli.  Iloc  Hijiiuin  sihi  et 
ls(((ir.  .  .  (id  s(/(;ri/iciu/it  ijisc  jidiidbat  .  .  rl  Isaac  cum  liijiHi  r('sn-r(üi(.-<  es/,  (irictr. 
<ihl((ti)  i)i  rejire  (■(ii-i/ibi/s  Inicrodc  et  Cl/ris//(s  ti/tis  IfiiipdriliKs  li<iin(m  hininris 
suis  portaril  iidiucniis  coriiiliKs  cnicis  roroiia  spiz/cfr  in  cdpilc  eins  cirvnuidiila. 
Adv.  Maa'ioucm  1.   III.  c.  18.   I!).  22  u.  a. 

Es  wäre  des  Nonlliinders  dii'htrnsclior  kral'i  nicht  unwürdig;- mit //y'^/'z/^/' /.////'/r.sV,- 
at  OK)  (jdDila  (IjallariKirnc  liclitL'l'foktc  in  der  inanirr  eines  <!al)riel  Max  unter  die 
vorzeiclieii  seines  ragnanskkr  aulgeiKjninien  zu  ]ial)cn,  weini  der  zusainmeidiang  dos 
Verses,  wie  M.  will,  bedeuten  könte:  der  heilaud  Icuehtct  au  jenem  altb(,'rüliinten 
kreuz.  Das  st-hniettei'nde  (ijallarliorn  Ileinidalls  kaini  ein  coruu  crucis,  aueh  wenn 
wir  die  niysiiiikatinii  weit  treiljen  weiten,  nicht  vortreten;  M.'s  ei.g'eno  werte 
(s.  11!):  .Ji/ji'/)  das  sunst  seludl,  .geliiu'  usw.,  wie  hörn  bedeutet,  verwendete  der  hier 
g-anz  besonders  niysteritise  Verfasser  für  das  einfaeho  horu")  .g'emahnen  an  Bugge, 
der  ad  hoc  mir  einen  Shakespeare  zu  vergleichen  wüste. 

A\'ie  leicht  wir  mittelst  der  biblischen  terminologie  auch  tlie  dunkelsten  an- 
dcutungen  der  Vid.  aufzukliircn  vermögen,  zeigt  namentlich,  was  M.  s.  120  ff.  iiliei' 
die  Worte 

1/  s-('r  a/isasl-  aitrr/oni  forsc 
af  repc  Valfopor 
beigeliracht  hat.  Das  pfand  Walvaters  ist  Christus  der  gekreuzigte.  Dass  die  pignura 
rn/cis  in  der  mittelalterlichen  litcratur  reliquieu  meinen,  kann  ich  nicht  verschweigen. 
A"(in  diesem  pfände  ergiesst  sich  lilut  und  wasser,  als  Christi  soitc  mit  dem  speerstiche 
geöffnet  wird.  Wollen  wir  uns  auch  gefallen  lassen,  dass  der  ausdruck  fars  kaum 
übertrieben  erscheinen  könne,  wenn  man  sich  die  kunstdarsteUungen  der  sceuo  ver- 
g(\genwäi1:ige,  so  last  uns  auch  M.  im  stich,  wenn  wir  fragen,  wie  unser  christlicher 
dicht.i'r  das  in  diesem  Zusammenhang  in  erster  liuie  wichtige  Idut  vergessen  konte! 
AN'as  langen  wir  damit  an,  wenn  gelegentlich  die  formel  gebraucht  wird:  ex  hifcrc 
fniis  saf/ifis  iiosfrac  eiiiaiiat,  oder  bi/i  Ezzo  25:  der  gntes  pr/inuo  isi  da\.  phtot, 
wenn  M.  bchau[itct,  diesen  l)runnen  habe  auch  Xql.  29  zur  grundlageV  Schliesslich 
ist  ,,das  in  dem  ijuell  verpfändete  augo  AValvater  (Jdins  das  im  quell  aller  dinge,  gott, 
ruhende  pfand,  Christus,  aus  dem  sich  vom  paradiesesbaum  her  das  wasser  des 
lebens  ergiesst  und  der  hüter,  der  jeden  morgen  daraus  trinkt.  Mimer,  kann  nun  kein 
anderer  sein,  als  der  hl.  geist''  (s.  127).  Der  altgermanische  custos  fontium,  in  dem 
M.  früher  einen  gandharvcn  gesehen  hatte,  muste  solch  ungeahnte  mctamorphose 
erdulden!  Ich  begreife  nicht,  wie  M.  auch  jezt  noch  seine  ansieht  (s.  124)  damit  zu 
vereinigen  wüste,  dass  Mimer  zu  deu  altertümlichsten  gestalten  gennanischen  glau- 
l)ens  gehöre.  Wir  sind  indessen  nach  dem  bisherigen  auch  auf  solche  auswoge  vor- 
bereitet; nnt  leichter  beschwingter  {ihantasie  lässt  sich  die  vorstelliuig  vielleicht  nach- 
denken. 

Dass  H(>fu{)lausn  v.  21  unseru  mythus  wahrscheinlich  voraussezt  (Beitr.  Xll,  3!J0. 
XllI,  107),  hcätte  all  solche  speculationen  im  keim  ersticken  sollen.  Doch  im  gegen- 
teil.  Im  bannkreis  seiner  einfalle  erhebt  M.  deu  akt,  dass  Mimer  jeden  morgen  mct 
trinke,  zum  abbild  des  täglichen  messopfers.  Hier  verzichte  ich  darauf  die  philologische 
lupe  anzusetzen  und  frage  nur,  ob  es  denkbar  ist,  dass  eine  derartige  heidnische 
vermummung  des  allerheiligsten  sich  irgendwo  mit  dem  gewissen  eines  Christen  ver- 


104  IvAUFFMANN 

tragen  konte!  Traut  M.  eine  solch  frivole  profanatiou  seinem  priester  von  Oddi, 
dem  besten  kleriker  Islands,  zu?  Mich  würde  es  nun  nicht  mehr  wundern,  wenn 
jemand  mit  der  behauptung  aufträte,  auch  die  himmelsköuigin  Maria  sei  in  der  alten 
liedersamlung  nachweisbar,  wenn  Ht'^v.  146  von  der  pjöpans  kona  und  dem  mantu^ 
mqgr  (menschensohn?)  in  geheimnisvollem  Zusammenhang  die  rede  ist.  Solche  witz- 
lose schnurren  sind  ebenso  billig,  als  sie  ernste,  eindringende  historische  kritik  per- 
siflieren. 

Parallelen,  die  mich  überrascht  haben  und  ein  sorgfältiges  eingehen  erfordern, 
bringt  M.  s.  94  ff.  zu  den  strophen  21  ff.,  die  Schicksale  und  person  der  GoUveig  sowie 
den  Vanenkrieg  betreffend.  Auf  die  nordischen  Spiegelbilder  des  sechstagewerks  folge 
die  scenerie  des  sündenfalls  und  engelsturzes.  Hiergegen  ist  sofort  der  entscheidende 
einwand  zu  erheben,  dass  nach  algemeincr  ansieht  der  stürz  der  engel  entweder  dem 
sehöpfuugsakte  vorausgieng  oder  am  ersten  schöpfungstag  spielte  (Zöckler  I,  420).  Der 
stürz  der  engel  konte  von  unserem  dichter  eventuell  nur  im  Zusammenhang  mit  der 
Schöpfungsgeschichte  behandelt  werden.  M.  hat  nicht  einmal  daran  gedacht,  gründe 
für  die  Umstellung,  die  unser  dichter  vorgenommen  haben  müste,  beizubringen. 

Meyer  citiert  Ambrosius  de  paradfso  c.  15.  Hier  wird  etwa  folgendes  über 
den  Sündenfall  dargelegt:  serpentis  tyjnim  accejnt  delectatio  corporalis:  midier 
symbolunt,  seiisus  erat  nostri,  vir  meiitis  . .  .  delectatio  sensum,  scnsus  autem  men- 
tem  captivam  facere  eonsuevit.  Schon  im  12.  cap.  hiess  es,  die  delectatio  sei  divino 
aversa  mandato  et  inimica  sensibus  nostris  .  .  .  si  autem  ad  diabolmn  referas, 
vertcs  inimicus  est  generis  humani.  Qiiae  autem  causa  inimicitiarum  nisi  in- 
vidia?  . .  diabolus  . .  invidit  hotnini  eo  quod  ftguratus  e  linio  nt  incola  paradisi 
esset,  electus  est  .  .  dicens:  iste  de  terris  müjrabit  ad  caelum,  cum  ego  de  caelo 
lapsus  in  terra  sini  .  .  .  Itaque  machinatus  est,  itt  non  primo  Adam  adoriretur, 
sed  Adam  per  mulierem  circumscribere  conaretur  .  .  .  Cognoseens  igitur  hoc  loco 
tentanienti  genus,  plurima  etiam  aliis  locis  teiitamenti  genera  reperies.  Alia 
sunt  per  principem  istitis  miindi,  qui  qioaedam,  vcnena  sapientiae  in  hune 
mundmn  evomMit,  ut  vera  putarent  homines  esse  quae  falsa  sunt  et  specie  quadam 
hominum  caperetur  affectus  ....  sunt  quaedam  potestates  quae  amorem  Simu- 
lant, gratiamque  praetendant,  ut  paulatim  cogitationibus  nostris  venenum  suae 
iniquitatis  infundant  a  quibus  oriuntur  illa  peccata  quae  vel  ex  deleetatione  vel 
ex  quadam  mentis  facilitate  nascuntur.  Sunt  etiam  aliae  potestates  quae  col- 
luctantur  nobiscum.  Hernach  werden  ministri  diaboli  genant,  qtii  et  cordis  et 
voeis  suae  infectas  veneno  veluti  verborum  suorum  jactant  sagittas. 
Der  kirchenvater  komt  im  verlauf  zum  Schlüsse:  Viderint  alii  quid  sentiant  mihi 
tarnen  videtur  a  midiere  coepisse  Vitium.  Es  ist  nirgends  davon  die  rede,  dass  Eva 
durch  dreierlei  infectae  sagittae  diaboli  bezwungen  worden  sei  (s.  94),  sondern 
Ambrosius  zählt  zwei  arten  von  versucliung  auf  und  sagt  schliesslich:  multipUcia 
tentamenta  sunt  diaboli.  Die  an  zweiter  stelle  genanten  potestates,  quae  velut  col- 
luctantur  nobiscum  lassen  sich  durch  eine  stelle  aus  dem  2.  cap.  illustrieren,  wo  es 
heisst:  nemo  enim  nisi  qui  legitime  certaverit  coronatur.  Joseph  quoque  casti- 
monia  numquam  ad  nostri  memoriam  pervenisset,  nisi  midier  domini  ejus  contu- 
bernalis  ignitis  diaboli  spiculis  incitata  tentasset  ejus  affectum,  nisi  postremo 
affecfasset  ejus  interitum  ,  quo  clarior  esset  castimonia  riri  qui  mortem  pro  casti- 
tate  contemserit.  Sind  wir  der  sache  und  ihrem  Zusammenhang  nach  berechtigt,  wie 
M.  tut,  jene  infectae  sagittae  diaboli  der  Versuchung  im  ])aradies  mit  den  ignita 
diaboli  spicula  zusammonzuschweissen,   die  in  der  brünstigen  lüstornheit  des  weibes 


ÜBER    MEYER,    VÜLUtiPA  105 

den  unschuldigen  bedrohend  Wieso  ist  die  siniionversuchung  des  Josepli  dem  an- 
griff des  toufels  auf  Evas  nascliliaftigkcit  „älinlieh" "?  Was  sagen  wir  vollens  dazu, 
wenn  die  dreifache  Versuchung  Jesu  in  der  wüste  (als  laqueus  gidac,  jactantiae, 
avaritiae  atquc  ambitionis  Ambrosius  de  Cain  et  Abel  lib.  I.  c.  5)  die  dreizahl  stützen 
soUV  Zu  prijsvar  horna  ist  indessen  auch  MüUenhoff  DA.  V,  1,  310  anm.  zu  beachten. 
Ähnlichlieiton,  die  tatsächlich  nicht  bestehen,  bilden  die  brücke  zu  M.'s  werten  (s.  95), 
Ambrosius  rede  von  einem  weibe,  das  im  paracUese  durcli  drei  feurige  Speere  getroffen 
worden  sei.  Mit  diesem  weibe  habe  aber  imser  mysticus  nicht  die  Eva  gemeint,  son- 
dern das  faustische:  duac  cnim  mulieres  unicuique  nostrum  eohabitant  inimicitiis 
ae  discordiis  disidenies  vchit  qiiibusdam  xelotypiae  contentionibus  nostrac  rcplentcs 
anivii  do/iiuvi.  Una  earum  nobis  suavitati  et  amori  est,  blanda  conciliatrix  gra- 
iiac  qiiae  vocatur  voluijtas.  Ilanc  nobis  opinmnur  sociam  ac  domesticcmi,  illani 
aftcram  immitem,  aspcram,  ferani  credimus,  cid  nomen  virtus  est.  lila  igitur, 
»leretrieio  proeax  tuotti,  infracto  per  delieias  incessu,  nutantibus  ocidis 
et  ludcntibus  jaculans  palpebris  retia  quibus  pretiosas  juvemim  anitnas 
capit  focidos  enim  meretricis,  laqioeus  peecatoris)  qioemeii'mque  viderit  dubio 
sensit  practerenntem  in  augtilo  transitus  domus  suae  sermonibus  ado- 
ritur  gratiosis,  faciem  jiivenum  volare  corda  domi  inquieta,  in  plateis  vaga, 
oscidis  prodiga,  pudorevilis,  amictu  dives,  genas  p)icta.  Etenim  quia  verum  deco- 
reni  naturae  habere  non  jjotest,  adidtcrinis  fiicis  aff'ectatae  pidehritiidinis  lenoci- 
iiatur  speciem  non  veritatem.  Vitiorum  suceineta  comitatu  et  quodam  nequitiarum 
choro  eireuinfusa,  dux  criminum  talibus  verborum  machinis  muriim  mentis 
aggrcditur  himtanae.  Mit  berufung  auf  Prov.  7,  14  ff.  heisst  es  weiter:  Hane  enim 
per  OS  Salonionis  speciem  fornicariae  videmus  expressam  .  .  .  opprobriosae  frau- 
dis  vclamine  operit  corporis  sui  stratimi  ad  sollicitandos  juvenum  animos  . . . 
thesauros  demonstrat,  reg  na  promittit,  amorcs  spondet  continuos,  inexploratos 
concubitiis  pollicetur  .  .  .  confitsa  omnia,  nihil  naturae  ordine.  Illic  .  .  repleta 
vomitu  bibentiiim  poeula  majore  odore  ebrietatis  quam  si  recentia  tantum  vina 
flagrarent.  Ipsa  in  medio  sians:  Bibite,  inquit,  et  inebriamini,  ut  cadat 
unusquisque  et  non  resurgat.  .  .  Ille  mihi  gratior  qiii  sibi  nequior.  Galix 
aureus  Babylonis  in  manu  mea  inebrians  omnem  terram  a  vino  meo 
biherimt  omnes  gentes  ....  His  auditis  veliit  cervus  sagittatus  in  jecore  haeret 
saucius.  Quem  miserans  virtus  et  casurum  cito  videns  improviso  occurit  .  .  . 
palam  inquit  apparui  tibi  non  quaerenti  ine.  Ne  fallat  imprudentem  et  circum- 
veniat  te  mulier  effrenata  et  luxuriosa  quae  non  novit  pudorem:  sedet  in  fori- 
bus  domis  in  sella,  palam  in  plateis  advocans  praetereuntes  ...  tzc 
aidcm  accipe  potius  disciplinam  . .  .  veni  ad  convivitim  sapientiae  etc.  (Ambrosius 
de  Cain  et  Abel  lib.  I.  c.  4.  5).  In  Warnungen  vor  der  libido  oder  fornicatio  und 
der  avaritia  klingt  die  grossartige  Schilderung  aus.  Ich  setze  noch  zur  Charakteristik 
folgendes  her:  inflammat  anitmim,  igne  suo  pascit  cum  .  .  .  elementa  concidit,  mare 
sidcat,  terram  effodtt,  caeluni  vutis  fatigat,  ncc  sereno  grata  nee  nubilo,  condemnat 
provcntus  annuos  fetusque  terrarum  arguit.  Es  ist  die  gier  nach  dem  gokle,  deren 
völkerzerstörende  leideuschaft  auch  die  phantasie  der  Germanen  zu  den  eindruckvoll- 
sten büdern  aufgewühlt  hat. 

An  einer  andern  steUe  (de  Elia  et  jejunio  c.  15)  ruft  Ambrosius  —  es  nimt 
sich  humoristisch  aus,  nach  dem  was  in  meiner  darstellung  vorausgegangen,  doch  ist 
das  nicht  beabsichtigt  —  ein  dreifaches  Vae !  über  die,  welche  manc  ebrietatis  potum 
requirunt,  qiios  conveniebat  Deo  laudes  referre  .  . .   Vix  diluculum  et  jam  cursatur 


106  KAUFFMANN 

per  tabernas,  vinum  quaeritur,  excutiuntur  tapetes,  accubitiivi  festinant  sternere, 
lagenas  argenteas,  aiiratos  caliees  exponunt.  Calix  atireus  in  manu 
domini  inebrians  omnem  lerram.  A  vino  ejus  bibcrunt  onmes  gentes,  ideo  com- 
motae  sunt.  Et  subito  cccidit Babylon  et  contrita  est.  (Jerem.  51,7).  Calix  ergo 
aureus  contritus  est,  quia  Babylon  contrita  est  quae  est  calix  aureus  .  .  . 
deniquG  divina  indignatione  conteritur.  Qua  ratione  calix  atireus?  Qtionimii 
qui  veritate  deficitur  quaerit  illeeebrant, ,  ut  species  sattem  pretiosa  ad  bibendum 
aliquos  possit  illicere  .  .  .  Non  te  inducatit  atirea  vasa  et  argentea  .  .  Vas 
apostolicum  fictile  est,  sed  in  eo  thesaurus  est  Christi.  Vae  siceram  niane  sectan- 
tibus.  Aureuin  est  hoc  vas,  poculum  est,  et  in  co  2}oculo  veneuum  mortis,  vene- 
num  libidinis,  venenum  ebrietatis. 

Noch,  besteht  der  altbewährte  erfahruogssatz  jeder  historischen  forschung  zu 
recht,  dass  die  chancen  zu  irren  grösser  werden,  je  mehr  einzelne  data  der  Über- 
lieferung aus  ihrem  gegebenen  Zusammenhang  gerissen  und  isoliert  oder  gar  in  wil- 
kürlich  geschaffene  ordnuugsreihen  gestelt  werden.  Man  vergleiche  wie  von  M.  die 
soeben  ausgehobenen  partien  aus  den  ambrosianischen  tractaten  zerstückelt  und  mit 
ganz  fremdartigen  bruchstücken  contaminiert  worden  sind.  In  dieser  hinsieht  ist  M. 
leider  nicht  über  Bugges  äusserliche  citatenhäufung  hinausgegangen.  Man  lese  das 
4.  und  5.  cap.  in  Ambrosius  de  Cain  et  Abel  I.  fortlaufend,  wie  der  Verfasser  sie 
componiert  und  seinen  lesern  vorgelegt  hat.  Ist  es  denkbar,  dass  nach  der  bachan- 
tischen  aufreguug  der  Voluptas  der  faden  abgeschnitten  werden  darf?  Bricht  sich 
der  grelle  strahl  der  das  gemiilde  beleuchtet,  nicht  erst  zum  versöhnenden  milden 
glänz  in  der  Schilderung  der  Virtus? 

Und  ich  frage  wieder:  hätte  ein  christlicher  heilsprophet  es  vor  sich  selbst 
rechtfertigen  können,  abgerissene  citate  aus  dem  4.  cap.  sich  zu  notieren  und  das  für 
die  heilslehre  viel  wichtigei'e  5.  cap.  zu  überspringen'?  Aber  auch  wenn  wir  im  ein- 
zelnen uns  zurecht  finden  weiten:  bei  Ambrosius  ist  wiederholt  hervorgehoben,  dass 
die  verführuugskünste  der  Voluptas  gegen  die  juvenes  gerichtet  sind.  Was  mochte 
den  Isländer  veranlast  haben,  die  juvenes  durch  junge  frauen  zu  ersetzen?  Die  figur 
der  Voluptas,  in  der  Zeichnung  des  Ambrosius,  wirkt  in  der  geselschaft  junger  frauen 
geradezu  widersinnig,  absurd.  "Wir  müssen  uns  also  höchst  bedenkliche  gewaltsam- 
keiten  gefallen  lassen,  bis  wir  dazu  gelangen,  nun  voUens  die  Voluptas  mit  der 
babylonischen  hure  und  diese  mit  dem  calix  aureus  ==:  Gollveig  zu  identificieren. 
„Der  ganz  nordisch  klingende  weibername  Gollveig  (D.  A.  V,  1,  95)  und  die  von  Bugge 
behauptete  Verbindung  von  ags.  wcc^c  becher  und  an.  veig  getränke  wrd  aus  diesem 
ideenzusammenhang  besonders  deutlich"  (s.  96).  Es  fält  auf  den  Salzburger  kleriker 
ein  eigentümliches  licht,  der  den  calix  aureus  der  babylonischen  hure  verdeutscht 
und  einem  seiner  beichtkinder  als  christlichen  ehrenuameu  beigelegt  hat.  Die  sprach- 
lichen bedenken  MüUenlioffs  gegen  die  Identität  Gollweig,  Choldimaih  (Salzburger 
Verbrüderungsbuch  103,  17)  sind  bekautlich  nicht  zu  rechtfertigen.  Ich  rede  nicht 
von  den  an.  Sölveig,  Hallveig,  pörveig  etc.,  inzwischen  hat  Bugge"  selbst  seine  ansieht, 
an.  veig  sei  aus  dem  ags.  entlehnt,  zurückgenommen  (Studien  s.  574).  Aisl.  veig 
bedeutet  eben  nun  und  nimmer  becher,  sondern  getränk  (veig  betyder  en  jäsande  saß 
Eydberg,  Undersökniugar  I,  176,  vgl.  auch  N.  M.  Petersen,  Mythologi  s.  219).  Mit 
dem  hinweis  auf  Sn.  E.  11,  489,  wo  reig  unter  den  kvenna  heiti  ukend  aufgezählt  ist, 
können  wir  uns  hier  über  das  geheimnis  der  namenbildung  beruhigen.  GoUveig  ist 
eine  gemeingermanische  namensform  (ganz  analog  verhalten  sich  Heiprän  und  Chai- 
deruna  Beitr.  Xn,264)   und  kann  nach  bedeutung  der  compositionsglieder  aus  calix 


ÜBER  MEYEK.  VÖLUSPA.  107 

aureus  nicht  hergeleitet  werden.  Ferner  möchte  icli  daran  erinnern,  dass  das  treiben  der 
Gollveig-nei})r  sieh  durch  die  bcstimmungen  der  ags.  gesetze  gegen  die  horcwenan 
veranschaulichen  last.  In  den  gesetzen  Edwards  und  Gudrums  (c.  a.  906)  heisst  es 
c.  11:  loiccmi  oiMc  ici^leras,  mdnsicoran  oääe  moräivyrhtan  oääe  fule,  äfylede 
fehfcrc  horcwcnan  ahwar  on  lande  ivuräan  a^ytene  ponne  fysie  hie  man  of  earde 
and  cldnsie  pd  pcode  etc.  (Schmidt'  s.  118).  Iiörcivenan  sind  ausserdem  in  Aethol- 
reds  (a.  a.  o.  s.  228)  und  in  Cnuts  gesetzen  (s.  272)  erwähnt.  Diese  hörciccnan  sind 
die  oi'gane  gewesen,  welche  die  deoßicau  ^aldorsansas,  snldorcrcrftas  usw.  (^if  hica 
tviccije  ynibe  ceni^cs  mannes  litfe)  beim  weibervolke  colportierten ,  worüber  uns  das 
Poenitentialo  Ecgberti  archiepiescopi  Eboracensis  (Ancient  laws  and  Institutes  of  Eng- 
land ed.  B.  Thorpe  s.  343)  interessante  einzelnhoiten  überliefeii  hat,  die  allerdings 
nur  im  zusannnenhang  der  abendländischen  poenitentialordnungen  gewürdigt  werden 
können,  worüber  ich  bald  andern  orts  handeln  werde.  AVas  die  bestrafung  solcher 
Personen  betritt,  so  verweise  ich  auf  R.  Keyser,  Normaindenes  religionsforfatning 
(Samlede  afhandlinger)  s.  371. 

So  löst  sich  auch  diese  verlockendste  partie  des  M.'schen  buchcs,  die  verführe- 
rische deutuug  der  Gollveig  durch  den  biblischen  calix  aureus  der  babylonischen  hure, 
in  eine  selbtstäuschung  auf.  Es  wird  aber  trotzdem  wegen  des  folgenden  notwendig, 
uns  die  Verschmelzung  der  Voluptas  mit  der  babylonischen  hure  zu  besehen.  Ambro- 
sius  de  Cain  et  Abel  I.  c.  4  gibt  den  calix  aureus  Babylonis  der  Voluptas  in  die 
liand.  Excerpieren  wir  aus  De  Elia  et  jejunio  c.  15  die  werte  Babylon  contrita  est 
quae  est  calix  aureus,  so  sind  wir  immer  noch  nicht  so  weit,  dass  die  Voluptas 
durch  den  calix  aureus  resp.  Babylon  hätte  vertreten  werden  können.  „Wider  ist 
Honorius  unser  nothelfer"  (s.  97).  Die  vorliegenden  dunkeln  stellen  der  VqI.  empfangen 
ihr  voUes  licht  erst  aus  der  Expos itio  in  cantica  canticoruin  Honorii;  ohne  sie  und 
vor  ihi-  ist  die  VqI.  nicht  denkbar.  Wir  haben  schon  gesellen ,  dass  wir  des  dem  be- 
ginnenden 12.  jahrh.  angehörigen  Honorius  nicht  bedürfen.  Ich  möchte  aber  doch, 
um  M.  ganz  gerecht  zu  werden,  zusammenstellen,  was  für  die  Gollveig -episode  in 
betracht  kommen  könte.  Ich  halte  mich  dabei  möglichst  unabhängig  von  der  M.'schen 
darstelhmg  und  gebe  meine  eigenen  auszüge  aus  der  merkwürdigen  dichtung  des 
rätselhaften  mannes. 

Im  prolog  werden  die  grundvoraussetzungen  erläutert:  fdia  regis  Babylonis  (id 
est  diaboli)  est  gentilitas  in  confusione  idololatriae  natu.  Sed  liaec  facta  rcyina 
aiistri  venit  ad  Salomonein  quia  spiritu  sancto  quem  auster  signifleat  illustrata 
venit  in  coelis  regnatura  ad  verum  pacificum  Christimi.  Last  sich  dies  auch 
nur  entfernt  mit  den  Schicksalen  der  Gollveig  vereinigen?  Nach  dem  altgeprägten 
Schema  werden  die  einzelnen  positionen  historice,  allegorice,  tropologicc,  anagogice 
umgedeutet  (ich  bezweifle,  ob  eine  vermengung  dieser  categorien  zulässig  war);  und 
so  ist  die  braut  Christi  die  angelica  et  humana  natura  .  .  a  paradiso  expulsa  .  . 
hanc  gigantes  quasi  latrones  .  .  in  devium  äeduxerunt  et  mtdtis  vitiorimi  sordi- 
bus  polluerunt.  Cujus  miseria  sponsus  coiulolcns  hostes  ejus  diluvio  delevit.  Iitsam 
vero  Noe  quasi  paedagogo  eustodiendam  tradidit.  Sie  ist  dann  unter  Sara,  Rebecca  etc. 
zu  verstehen;  immer  ist  ihr  freund  und  bräutigam  schützend  ihr  zur  seite,  bis  er  sie 
in  caelestem  aulam  coronandam  addtceet.  Es  heisst  von  ihr  mtdtis  ?)ialis  cam 
tyrannus  et  aevmla  ejus  saepe  tentavertont ,  quot  modis  quot  dolis  qtiot  insidiis 
quot  artibus  eani  ab  amore  sponsi  avertere  conati  sunt  et  non  valuerunt  .  .  per 
gigantes  tnulta  nefaria  ei  intulenmt  .  .  adhuc  sub  antichristo  eorum  omnibus 
modis   tentationem  instabunt  .  .   habet  in  comitatu  omnes,   qui  sub  praedicatione 


108  KAÜFF3IANN 

Heliae  et  Enoch  et  sub  persecutione  Antichristi  pro  Christo  sanguinern  fiiderint. 
Sie  weiss  selbst,  dass  sie  alles  füi' Christus  erduldet;  formosa  dicitur  quia  forma  osa, 
id  est,  propter  formam  odiosa.  Fonnum  quipipe  est  ferrimi  in  ignc  candens  iinde 
dicuntur  formosi  .  .  ideo  dicitur  ecclesia  formosa  quia  in  igne  tribulationis 
excocta  martyribus  rubescit,  virginibus  albescit  .  .  .  adver sitatibus  mundi  deni- 
grata,  interitis  gemmis  virtutum  ornata,  oder,  wie  es  an  anderer  stelle  von 
der  sapientia  heisst,  ut  aurura  pura  et  in  Camino  tribulationis  excocta. 
Sie  ist  sich  bewusst:  ego  quidem  sunt  nigra  quia  huic  inundo  p>ropter  passiones 
quos  stistineo  dcspecta  .  .  quasi  sim  de  furibus  et  latronibus  nigris  in  pecca- 
tis.  Diese  latroncs  identificieii  Honorius  mit  den  daemones,  unter  denen  wir  nach 
kii-chlicher  lehre  sogar  die  heidnischen  götzen  verstehen  dürfen.  Sie  ist  die  verfolgte 
ecclesia,  welche  tanto  odio  est  habita  ut  nidlus  ei  locus  manendi  tutus  esset,  sed 
semper  de  civitate  in  civil ateni  fugiens  miyraret,  einzig  dui'ch  das  be wust- 
sein aufrecht  erhalten:  non  pro  furto  vcl  aliquo  crimine  sed  pro  Christo  kaee 
patior  .  .  .  sol  (auch  fervor)  pcrsecutionis  me  obfuseavit.  .  .  .  Persecutio  dicta  est 
meridies  fsolis  fervor)  in  quo  solis  ardor  fervet  in  quo  ecclesia  aestuabat  mit 
andern  werten :  cris  tu  ecclesia  amica  mea  inter  gcutes  fdias  Babylonis  .  . .  quae  te 
mtcltis  spinis  cruciatuum  pungcnt  et  Dtultis  imenis  lacerabimt,  a  carnißci- 
bus  ut  lilium  a  spinis  lacerata.  Im  «chatten  des  lebensbaumes ,  des  hl.  kreuzes 
sezt  sich  die  fidelis  aninia  dum  aestum-  specularis  vitae  declinans  in  requie  spiri- 
tualis  vitae  refrigerari  desiderat.  Leider  sind  es  zunächst  die  propheten,  von  denen 
gesagt  ist:  qui  in  altam  contemplationcm  sublcvati  Christum  et  ecclesiae  mysteria 
a  lotige  prospexerunt ;  doch  sagt  Honorius  auch  von  der  ecclesia:  sciens  patris 
secreta.  .Wer  konte  darauf  verfallen,  die  ecclesia  in  coclis  rcgnatura  mit  Babylon 
zu  identificieren ,  von  dem  es  heisst:   cccidit  et  coutrita  est? 

Im  fortgang  des  commentars  wird  dann  die  mortalitas  als  originale  peccatum 
mit  einer  mauer  verglichen.  Quem  rnurum  coepit  Adam  aediflcare,  et  omnis  poste- 
ritas  eius  laborat  eimi  consummare.  Vielleicht  konte  an  diese  periode  der  Verfol- 
gung die  Schilderung  angeschlossen  werden,  die  Honorius  an  späterer  stelle  von  den 
kämpfen  beim  Weituntergang  gegeben  hat.  Die  gesamte  Weitentwicklung  überschaut 
er  von  da  aus  noch  einmal,  und  alles  dulden  fasst  er  zusammen  in  einer  langen  reihe 
von  kriegen.  Im  reich  der  gnade,  d.  h.  seitdem  das  erlösungswerk  volbracht  ist, 
zählt  er  6  kiiege:  Primum  bellum  fuit  inter  Christum  et  diabolmn  etc.  Voraus 
liegt  die  algemeine  friedensruhe  unter  Augustus,  die  eine  sechszahl  der  kriege  vor 
dem  erscheinen  Christi  beschlicsst.  Die  vorchristhchen  kämpfe  eröffnet  das  primum 
bellum  {civile  bellum  sagt  Honorius  in  seinem  Speculum)  inter  tyrannum  et  impe- 
ratorem  .  .  .  quando  tyrannus  .  .  similis  altissimo  esse  voluit  .  .  victus  a  rege 
Deo  cum  omnibus  suis  de  aula  coeli  cccidit  et  carceris  inferni  supplicium  subiit. 
Secundum  bellum  fuit  sub  gigantibus  .  .  tertitim  bellum  fuit  sub  aedißcatoribus 
ttirris  .  .  quartum  bellum  fuit  sub  patriarchis  etc.  Das  erste  bellum  civile  (folkvig 
fyrst  V(jl.  21)  solto  der  dichter  aufgenommen,  die  folgende  liste  nicht  einmal  auge- 
deutet haben? 

AVenn  Schcrer,  dessen  fleiss  wir  Germanisten  nächst  Diemor  unsere  bisherige  be- 
kantscliaft  mit  Ilonoiius  zu  verdanken  liabcn  (vgl.  Zeitschr.  f.  österr.  Gymnasien  1868 
s.5671f.j  in  den  Denkmälern-'  s.418  anm.  sich  ausdrückte,  die  person  des  Honorius  behalte 
etwas  rätselhaftes  für  uns,  so  gilt  diciS  heute  noch  ebenso.  Mau  ist  in  den  fachkreisen 
der  historiker  geneigt,  ihn  nach  Augsburg  zu  versetzen  (siehe  Watteubach,  geschichts- 
quellenH^,  182);  sei  dem  wie  ihm  wolle,  Schönbach's  2.  bd.  altdeutscher  predigten  hat  uns 


ÜBER   MEYER,    VÖLITSPA  109 

wider  gezeigi,  dass  Müllcnlioff  recht  zu  haben  scheint,  wenn  er  von  Honorius  sagte 
(Denkm.-  s.  VIII),  dass  er  für  die  deutsche  theologie  seiner  zeit  besonders  erfolgreich 
tätig  gewesen  sei.  Erst  E.  H.  Meyer  hat  es  gewagt,  die  in  unserer  mythologisclicn 
iiboiiieferungeu  so  nicrkwürdig  anklingende  darstelluug  in  unmittelbare  abliängigkoit 
von  demselben  zu  setzen;  die  bearbeitcr  der  Denkmäler  liatten  bei  gelegenheit  von 
s.  418,  16  noch  nicht  an  die  esche  Yggdrasels  erinnert,  wie  jezt  M.  s.  116  ff.  Es 
musste  verlocken  „in  der  dreisten  travestie  (??)  der  heiligen  geschichte  das  Schicksal 
der  Gollveig-Hei|)r,  die  verstossung  aus  dem  himmelreich  und  ihren  bösen  lebens- 
waudel  auf  erden  widerkehren  zu  sehen"  (s.  99);  um  so  verlockender,  als  sich  aus 
Honorius  mittelst  überspringung  weitläufiger  erörterungcn  auch  eine  deutung  für  das 
folkvig  fyrst  gewinnen  zu  lassen  schien.  Es  gehörte  zu  einer  solchen  deutung 
erstaunlich  viel  kühnheit.  M.  erkent  ausdrücklich  in  den  Strophen  23  —  26  heidnische 
grundvorstelluugen  an,  glaubt  aber  trotzdem,  es  handle  sich  um  den  mythus  der  aus 
dem  paradies  verstossenen  menschenseele,  der  braut  Christi  und  den  damit  verknüpf- 
ten aufrulir  der  engel  gegen  gott,  den  ersten  krieg  der  weit. 

Bei  dem  mysteriösen  dunkel,  in  das  für  uns  die  VQlospo  gehült  ist,  müssen 
wir  anerkennen,  dass  berechtigung  vorliegt,  mit  denkprocessen  zu  rechnen,  bei  denen 
nicht  alles  an  der  straff  gerade  gespanten  richtschnur  abläuft.  Das  ungewöhnliche  hat 
vorerst  noch  ein  besonderes  anrecht  auf  Wahrscheinlichkeit.  Es  wäre  unbillig,  dar- 
legungen  zu  verlangen,  wie  sie  bei  unserem  Verständnis  zugänglichen  quellen  zum 
wissenschaftlichen  stil  gehören.  Aber  es  gibt  doch  auch  hier  grenzen.  Diese  grenzen 
werden  zumal  durch  die  Überlieferung  selbst  gesteckt,  andererseits  gelten  auch  für 
schlussfolgeningen ,  bei  denen  die  prämissen  erst  zu  reconstruieren  sind,  die  alge- 
meinen logischen  gesetze  und  es  ist  nicht  statthaft,  sich  durch  petitio  principii  fangen 
zu  lassen. 

Wie  ein  vergleich  meiner  excerpte  aus  des  Honorius  Expositio  in  cantica  can- 
ticorum  mit  den  von  M.  s.  98  ff.  gegebenen  citaten  zeigt,  ist  die  auswahl  bei  ihm  sehr 
wilkürlich.  Und  was  M.  beibringt,  bedarf  der  historischen  begTÜndung,  ehe  es  gestattet 
sein  könte,  aus  demselben  zeugenstimmen  für  seine  sache  zu  entnehmen.  Im  Specu- 
lum  des  Honorius  (Migne  patrolog.  172,  941  C)  ist  von  dem  lumen  vulhis  Dei  (i.  e. 
Christus)  die  rede:  per  hoc  quijyje  sumus  a  inorte  reconciliati,  i^er  hoc  supernae 
curiae  sunt  damna  restaurata;  was  aber  mit  diesen  damna  gemeint  ist,  deutet 
der  parallelsatz  an:  per  hoc  anglorum  agminum  gaudia  duplicata.  Die  einbusse 
(damna),  welche  die  superaa  cima  durch  den  stürz  des  Lucifer  erlitten  hat,  kann 
nicht  deutlicher  ausgedrückt  sein.  Nichts  desto  weniger  müssen  wir  die  sich  anschlies- 
sende Wendung:  Bens  namquc  o)]mipotens  caelestis  Hicrusalem  palacium  ad 
Umdem  sui  S2^lcndifltiis  ordiuibus  angelortim  plcnitcr  instntxit,  sedjit'i- 
vnis  archangclus  a  Deo  recedens  hoc  nequiter  destruxit  im  citatenschatz  unseres 
vermeintlichen  skandinavischen  Interpreten  des  Honorius  als  quelle  für  VqI.  24  (bro- 
temi  ras  borpveggr  äsa)  verzeichnet  sehen.  Es  ist  für  mich  ein  ding  der  Unmöglich- 
keit, einen  christlichen  kleriker  den  gedanken  hegen  zu  lassen,  Lucifer  und  seine 
getreuen  hätten  das  palacium  des  himmels  zerstört.  Vernünftigerweise  können  die 
werte  des  Honorius  doch  nur  besagen,  dass  die  Ordnung  der  himmelschöre  durch 
den  abtrünnigen  zerstört  worden  sei.  Hier  rächt  sich  bitter  die  methode  Meyers, 
immer  nui'  mit  abgerissenen  citatenfetzen  zu  operieren. 

Weil  wir  über  die  Vanen  nicht  sonderlich  viel  wissen,  so  soll  nach  s.  104  ihr 
mythus  ein  kunstproduct  späterer  gelehrter  skalden  und  geistlicher  sein,  zu  dem  sie 
dui'ch  die  ags.  poesie  angeregt  sein  mochten,   die  gerade  den  aufruhr  der  engel  und 


110  KAUFFMAKN 

die  damit  verbundeueu  stoffe  sehr  liebte  (Gen.  25  if.).  Schon  die  Eireksmi'^l  sind 
um-  eine  nachahmung  des  descensus  Christi  ad  inferos  im  Nicodeniusevaugelium. 
Die  gefallenen  engel,  Satan  an  der  spitze,  seien  mit  namen  von  göttern  belegi  worden. 
Sitifjqtli  wird  zu  einem  ags.  helden  gestempelt,  trotz  seines  gut  skaudinavischen 
namens.  Manches  erbauliehe  fält  im  detail  ab,  nur  kann  z.  b.  weder  die  rückkehr 
Baldrs  noch  die  äusserung  Odins :  ser  ulfr  hinn  h^svi  d  sjqt  gopa  (von  anderem  ab- 
gesehen) nicht  untergebracht  werden.  Ich  hätte  es  nicht  gewagt,  nach  den  tatsachen, 
die  z.  b.  K.  Maurer,  Bekehrung  I,  172  f.  über  den  zwangsweisen  übertritt  des  Eirekr 
zum  Christentum  verzeichnet,  in  so  bestirnter  form  von  dem  Christentum  des  dichters 
zu  reden,  wie  dies  s.  105  geschieht.  Vollens  die  anspielung  auf  den  schwedischen 
Ericus  ist  flickwerk;  oder  meinte  M.,  der  verf.  der  EireksuK^l  habe  die  vita  Anskarii 
gelesen?  Die  zweifellos  heidnischen  Hakonarmul,  in  denen  die  heidnischen  götter  mit 
stolz  genant  sind,  sollen  nach  christlichem  muster  gedichtet  sein?  Ich  sehe  keine 
veranlassung  mich  weiter  mit  den  einfallen  unseres  autors  zu  plagen.  Gegen  ende 
des  buches  steigert  sich  die  combinationsfreudigkeit  immer  mehr,  Weltuntergang  und 
welterneueiimg  werden  zu  bunter  mosaik  zusammengewürfelt.  Ich  möchte  zum 
schluss  nur  noch  die  Schöpfungsgeschichte  eines  bhckes  würdigen. 

Es  handelt  sich  um  VqI.  3  —  6,  Strophen,  in  denen  schon  lange  biblische  oin- 
flüsse  gewittert  worden  sind.  M.  ist  auch  hier  seiner  boweisführung  volständig  sicher, 
die  ganze  strophenreihe  3  — 19  folge  im  wesentlichen  der  Genesis.  Der  nordische 
Schöpfungsbericht  habe  durchaus  keinen  germanischen  oder  gar  indogermanischen 
character;  auch  den  iranischen  erzählungen,  an  welche  man  immer  mit  Vorliebe 
erinnert  hat,  scheine  ein  Zusammenhang  mit  der  Genesis  nicht  abgestritten  werden 
zu  können.  Mau  habe  sich  indessen  mit  der  kirchlichen  exegese  vertraut  zu  machon, 
um  den  Zusammenhang  zwischen  dem  biblischen  Genesis-  und  dem  nordischen 
VqIospq- texte  ganz  zu  begreifen,  dabei  aber  eine  gewisse  freiheit  der  auffassung, 
auswahl  und  widergabe  dem  nordischen  dichter  von  vornherein  zuzuerkennen.  Er 
habe  giimd  gehabt  seine  abhängigkcit  zu  verhüllen.  So?  Ymor  war  in  der  tat  ein 
echt  nordischer  riese,  ja  er  gehörte  sogar  dem  idg.  dämoneukreise  an;  dagegen  sei 
es  oberflächlich  an  den  indischen  Purusa  zu  denken,  aus  dessen  gliedern  hiramel, 
erde  und  sonne  usw.  geschaffen  wurden.  Und  doch  wird  s.  52  capital  daraus  ge- 
schlagen, dass  schon  der  heidnische  Ymer  wie  der  indische  Purusa  seinen  schädol  zum 
himmel  und  sein  blut  zur  see  hergegeben  hat.  Es  Verstösse  aufs  sclu'offste  gegen  alle 
altindogermanischen  Vorstellungen  (wie  sie  nämlich  in  M's  Idg.  Mythen  I,  210  ff.  dar- 
gelegt sind),  dass  aus  der  band  so  junger  gebilde,  wie  die  götter  es  seien,  die  Schöpfung 
hervorgegangen  sein  könne.  So  ist  denn  Ymer  bewohner  der  wettei-wolke ,  die  kuh 
Au{)umla  gibt  nur  eine  andere  anscliauung  derselben  gewitterwolke  wider  —  mir  wii'd 
jedesmal  in  solcher  Umgebung  so  gewitterschwül,  dass  mein  anschauuugsvermögen 
versagt. 

Ymer  ist  abei'  auch  das  chaos  der  Genesis,  mit  dem  ginnnngagap  gleichfals 
identisch  ist.  Die  terra  inanis  et  vacua  und  die  aquae  von  Gen.  1 ,  2  verwandelte 
unser  dichter  in  die  negativen,  aber  bestimmteren  vasa  sandr  ne  srer  ne  upphimenn. 
Hat  M.  die  svalar  unncr  vergessen  ?  Und  wie  weiss  er  mit  der  terra  inanis  et  vacua 
das  jqrf)  fannxk  a:va  zu  vereinigen?  An  der  massgebenden  stelle  ist  keine  der  for- 
mein genant.  Die  facics  ahyssi  gal)  Veranlassung  zu  der  bildlichen  darstellung  eines 
abgruudriosen :  ein  wilder  mann  mit  widerwärtigem  köpfe.  Der  erste  akt  der  bibli- 
schen Schöpfung,  die  Scheidung  von  licht  und  finsternis  kümmerte  unsera  Verfasser, 
der  sich  überhaupt  auf  das  allernotwendigste  beschränkte,   nicht  —  er  liess  ihn  fort. 


VllFAt    MEYER.    VdUJSPA 


111 


Gegen  die  cimnischuii;^'  der  Snorresi'lieii  tassuiic;,  sowii'  der  iilierlieferunj;'  anderer 
lieder  in  die  darstellunj,'  der  Vc>l.  li\^v  ich  narhdriicklicii  vcrwalii'unt;-  ein;  von  einer 
gleichstellung  Yniers  mit  Adam  (siehe  Zdckler  a.  a.  o.  I,  (>').  !:!!).  220.  187  f.)  ist  in 
der  V(jl.  so  wenig  eint>  simi'  /ji  linden,  als  vun  ihn'  miselanig  der  gegensätzlichen 
elemento  (Züeklor  I,  173)  oder  der  zerteilung  des  mikrokosmisehen  urri(^s(Mi.  V.  4 
hjojiom  i/pßi)  entspreeho  dem  2.  tagvwcrk,  der  erseliaffung  des  firmaments.  Die  zahl 
der  in  der  V(d.  anl'tretenden  sehüprer  werde  kcMnen  anstnss  errrenen  (iil)er  di(!  hetei- 
lignng  der  trinität  s.  Züekler  I.  l'.\7>.  171  n.  ö.).  Wohei'  hat  nnser  Verfasser  al)er  die 
beuemunig  Bors  st/i/rr'f  Der  ausdruek  seil  alieniings  von  hliehst  zweitelhafter  eeht- 
heit  sein.  AVcnn  dann  die  sonne  auf  die  .,grundstein(!  des  (n'densaales"  herahseheint. 
um  sie  zu  trocknen,  um  die  /nrhu  rirriis  lii>rvorzul)ringen  (.3.  tagewerk),  so  begehe 
der  Verfasser  den  ülirigens  verzeihliehen  Verstoss,  die  soinie  scheinen!  zu  lassen,  ehe 
sie  noch  geschaffen.  Was  unserem  dichter  diesen  tadel  zug(vogen,  ist  wol  andern 
ebenso  unerfindlich  wii'  mir.  ich  selie  von  der  urliehtstJieoi'ie  der  kirehenväter  ab 
und  verweise  dafür  auf  Zöckler  I,  17:5.  :ii)(5.  401.  Aml)rosius  He.xaem.  lib.  1H.  c.  G 
zieht  die  streuge  Schlussfolgerung  als  glaubcnssatz:  sricoit  oiimcs  soloii  (iiirtorcm 
//())/  r.v.sv  nascciitiu'»! ,  J/on'or  rsf  hcrhis.  junior  foevo.  Dil).  IV.  c.  3:  coite  solem 
htrri  qiiideni  snl  'lioii  rcf/i/(/rf  dies  <[iil<(  (iiHpIhis  unmiiiv  }>/ er  i d I a  iio  solc  rcsplcu- 
dct ,  mit  merkwürdiger  ül)ei'einstimmung  zu  si(i)))an  A"i)l.  4;  vgl.  c.  7  Jiiun  als  coii- 
sors  et  f rater  solis.  Ich  lial)e  mir  die  sache  immer  so  gedacht,  dass  dii'  sonne 
längst  geschaffen,  der  dichter  nur  nicht  geschwätzig  genug  war,  auch  das  natüiiichste 
im  einzelnen  zu  erzählen,  pcir  ea  ii/ißr/arp  u/o'rrt»  sküpo  wird  mit  stilschweigen 
übergangen,  denn  die  beizielunig  von  des  Kosmas  /}  ntat]  leisti't  nichts.  Die  vulgat- 
ansicht  der  exegeten  von  der  kugelgestalt  der  erde  (Zf'jcklei-  T,  123)  ist  mit  den  nor- 
dischen vorstelhuigen  nicht  vereinbar.  Ich  weiss  wol,  ilass  einzelne  väter  die  erde 
sich  als  scheibenförmig  Hache,  vom  ocean  rings  umflossene  läudermasse  gedacht  haben. 
AVas  gerade  Kosmas  betritt,  so  lehrte  er  eine  viereckige  olilonge  gestalt  der  erdober- 
fläcbe  im  anschluss  an  die  vier  zipfel  oder  ecken  der  erde.  Aw  iiüpgarjyr  ist 
man  versucht  zu  denken,  wenn  man  sieli  dii^  mittelaltei-liche  gäocentriscln^  auffassuug 
des  Planetensystems  gegenwärtig  hidt  (terra  in  rnedio  omniuv)):  vgl.  auch  diese  Zeit- 
schrift X,  37. 

V.  5.  G.  sind  mit  ]\Iüllcnlioff  u.  a.  spätere  Zusätze  oder  wahrscheinlicher  in  eine 
Strophe  zusammenzuziehen  (s.  o.),  die  sich  volkommeu  im  rahmen  des  4.  tagewerks 
bmvege.  Sie  vergesse  freilich  die  sterne.  Dii'  deutung  Hoft'ory's,  die  auch  M.  unab- 
hängig gefunden  hat,  wird  preisgegeben,  nicht  \\'eil  sie  luirichtig  ist,  Sendern  weil  sie 
nicht  in  den  liericht  der  Genesis  passt.  Dass  nun  alier  mit  v.  7  nicht  das  5.  tage- 
werk, die  tierschopfuug,  ci'zählt  wird,  bezeichnet  endlich  auch  M.  aufrichtig  als 
bedeutende  abweichung.  ITuser  mysticus  hätte  sich  als  blossen  nachahmer  der  Gene- 
sis (wie  ja  bekantlich  viele  andere)  sofort  vijllig  blossgcstelt  —  so  lautet  die  vielleicht 
andern  lesern  einleuchtende  entschuldigung.  AVas  M.  sonst  noch  weiss,  muss  ich 
bitten  l)ei  ihm  selbst  s.  72  ff.  nachzulesen.  Es  haben  wider  einmal  die  berge  gekreist, 
es  ist  aber  nicht  einmal  ein  mausgrosser  gewinn  für  die  A'"ol.  zu  tage  gekommen. 
Dagegen  für  Suorre.  AVir  In'auchen  mis  fernerhin  keine  skrupel  mehr  darüber  zu 
machen,  wo  bei  Snorre  (II,  255.  I,  38)  Ymer  geblieben  ist.  Der  gute  christ  hat 
erbarmungslos  die  lehre  der  kii'che  zur  seinigen  gemacht  und  mit  seinem  ekki 
das  nichts  an  den  anfang  dei'  dinge  gestelt,  vgl.  Alüllenhoff,  de  carm.  AVessof. 
s.  9.  Ich  acceptiere  diese  zweifellos  richtige  erklärung  als  sicheren  gewinn.  Es 
herscht,    wie   Zöckler  I,  137     hervorgehoben    hat,    bei    allen    kirchcuväteru    weseat- 


112  KAUFFMANN 

liehe  Übereinstimmung  darüber,  die  heidnische  und  jüdisch -liellenistische  annähme  einer 
nngftschaffenen  materic,  die  coätcrnität  oder  gar  priorität  des  weltstoffs  mit  der 
gottheit  zu  verwerfen.  Sehr  interessant  ist  in  diesem  Zusammenhang  die  polemik 
Tertullians  in  seiner  Streitschrift  gegen  Hermogeues  (Zöckler  I,  156  f.).  Wer 
sich  die  viel  verzweigten  ströme  vergegenwärtigt,  die  in  der  christliclien  Hexaeme- 
ron-literatur  zusammengeflossen  sind,  der  wird  vielfach  geneigt  sein,  wenigstens  den 
gedanken  anklingen  zu  lassen,  ob  nicht  Urverwandtschaft  in  einzeln  teilen  vorliege.  Die 
orientalische  kosmologie  bei  einem  manne  wie  Ephraem,  hat,  wie  es  den  auschein 
hat,  aufgesogen  was  von  ur zeitlichen  Überlieferungen  erreichbar  gewesen  ist;  von 
den  nachweislich  starken  einüüssen  der  griechischen  philosophenschule  nicht  einmal 
zu  reden.  Der  menschliche  Organismus  ist  nach  der  naturphilosophic  der  Stoa  das 
mikrokosmische  abbild  des  alls  (Zöckler  I,  47),  für  die  Stoiker  wie  für  die  anhänger 
riatons  ist  die  materie  als  das  gestaltlose  chaos  von  anbeginn  der  dinge  (Zöckler 
I,  52  f.);  an  den  massgebenden  einfluss  eines  Philo  brauche  ich  nicht  zu  erinnern. 
Doch  ist  nicht  aus  dem  äuge  z\i  verlieren,  dass  die  Schöpfungsberichte  verschiedener 
nationalitäten  leicht  unabhängig  zusammentreffen,  da  es  sich  stets  um  die  herkunft 
ungefähr  derselben  guter  des  lebens  liandelt.  So,  meine  ich,  könte  auch  die  scenerie 
von  Vgl.  4  auf  eine  anschauungsweise  zurückgehen ,  wie  sie  vielfach  von  den  exegeten 
des  1.  Gonesiscapitels  vorausgesezt  wird.  .  Die  erde  war  ursprünglich  vom  meer  über- 
strömt und  wird  aus  den  wassermassen  emporgehoben.  Die  sonne  leuchtete  durch  das 
wasser  auf  den  festen  meeresboden  {d  salarstcina'^ :  vgl.  den  nameu  der  Salier  als  der 
meeran wohner  und  die  späteren  Salgau,  Salland?),  und  es  wächst  der  grüne  rasen, 
nachdem  die  wasser  eingcdämt  sind.  Die  deutung  Hoffory's  auf  dem  meeresboden 
halte  ich  für  zweifellos  richtig,  nur  die  berufung  auf  lat.  soh;m  ist  bedenklich.  Ich 
lerne  aus  Zöckler  I,  248,  dass  gerade  Beda  sich  mit  der  anschauung  getragen  hat, 
wonach  das  neugeschaffene  urlicht  durch  die  den  erdball  rings  umgebenden  wasser 
bis  zur  Oberfläche  der  erde  durchgedrungen  sei,  wie  die  taucher  es  verstehen,  in  den 
tiefen  des  meeres  das  wasser  um  sich  her  heller  zu  machen.  Ambrosius  Hexaem. 
in.  c.  2  sagt:  tractavimus  invisihilem  ideo  fu/'sse  ferram,  quod  aquis  operta  tegc- 
retur  .  .  post  congregationem  aquae,  quae  erat  super  terram,  et  post  derivationem 
eius  in  maria,  apparwisse  aridmn.  lib.  I.  c.  8:  solis  radius,  qui  solet  et  suo  aquis 
latentia  declarare. 

Was  weiten  wir  dagegen  sagen,  wenn  jemand  beliauptete,  die  geheimnisvolle 
mythologie  der  runen,  wie  Sigrdrifa  sie  kent  und  lehrt,  sei  nichts  anderes  als  der 
gedanke  eines  Origcnes,  Athanasius  und  anderer,  dass  die  uns  umgebende  creatur  nur 
eine  Zeichenschrift  des  allerhöchsten  sei,  buchstaben  in  seinem  Schöpfungsbuche?  Nach 
Gregor  von  Nazianz  eine  grosse  und  herrliche  schrift  (aroi/fTov)  gottes,  wodurch 
dieser  wie  durch  eine  stumme  Zeichensprache  verkündigt  werde;  ähnlich  bei  Basilius, 
Chrysostomus,  Augustin  u.  a.  (Zöckler  I,  113  f.).  Es  ist  so  sehr  leicht  anklänge  au 
die  nordischen  berichte  aufzuspüren :  wenn  in  der  Genesisdichtung  des  Spaniers  Juven- 
cus  der  cherub  als  eine  art  von  waberlohe  um  das  paradies  her  dargestelt  wird 
(Zöckler  I,  257);  ab  horto  jjaradisi  qui  dieittir  undique  igneo  muro  esse  eonelu- 
sus  .  .  vi  homines  inde  prohiheat  ignis  sagt  einmal  Honorius  von  Augustoduuum 
(a.  a.  0.  1181  D);  oder  wenn  beim  Massilioten  Claudius  Marius  Victor  das  eiskrystall- 
artige  firmament  als  ein  kühlender  schild  für  die  erde  gegen  die  hitzc  der  ätherregion 
aufgcfasst  wird  (Zöckler  I,  261  f.  378):  man  erinnert  sich  dabei  des  himintarga  SnE. 
I,  292,  des  Svalenn  stendr  solo  fyrer  sJcjqldr,  sMnanda  gnpe :  hjnrg  ok  brim  reitk  at 

1)  Vgl.  nol■we_^^  soll  grundstock  (Aasen'). 


illil'.R   MKVKR.    YtimsrA  113 

brinna  slciila  cf  hioni  fcllr  i  frd  (ii-imiicsin.  MS.  Si.nrili'irmii.  lä.  W'i'uii  (_»|)iiiu  und 
Frigg  in  der  (>iiii!,aiii;'S|iV(isa  zu  den  (Irimnesni.  siilti  i  lilifisL-jalfH  (wie  Xm'v  vVn'Cryog';) 
ok  sd  UV)  licivia  alln,  so  Iioisst  es  auch  von  gott  in  der  allen,  icüivdii'li  von  Ewald 
herausgegebenen,  in  England  entstandenen,  soiir  weif vnllen  Vita  (iregm-ii:  Deu  (imiiia 
ex  (ircc  stni  sprc/tliD/lr  pro/- ii/i'nfri//ff'  (Kcsischiilt  für  <<.  Wailz  s.  fil),  wohl  nach 
Ps.  13,  1  il(i»ii)iiis  (If  i'dclii  jinis/ic.rt/  st/jicr  /ilios  h(iiiiiiiiiiii :  vgl.  aneli  .laFie,  Mon. 
Mog.  p.  44,  1  ff.  Für  d(>n  halsschniurk  dei-  Freyja  künti'  man  des  niiniilf  gcdenki'ii, 
von  dem  wii'  liei  llonnrius  lesen:  iiionllc,  unml  {vi-i'U'^iani)  nniiil  cl  nnuiil  jiectns.  fs/ 
xii/i/Niu  riri//in's  (/rs/KUiisiitiir .  i/r  (iduUrr  iinlldl  iiudunii  ni  siinim  alniKic  a.  a.  o. 
llli.'{  F.  Als  i'iiii'  schildlmfg  wird  die  larr/'s  Darid  geseliildi'i't :  j/u'/lc  t////iri  pi-iiilod 
ex  Cd  a.  a.  o.  1177  F;  und  die  au/ti  citcli  iinii  rccipit  iillitiii  pcccdli  iiKtciihiiii ,  \\\r 
llaldis  wolmung  a.  a.  o.   IISO  1!. 

Die  üherrinstininiungrn  werden  alier  ei-nsthal't(M'en  eharalcters.  snhald  wir  uns 
d(M'  liherlieferung  in  Snnri'i-'s  cinniiendium  niUiern.  A\'it'  daiikhar  wären  wir  gewesen, 
wenn  M.s  lleissige  hand  eine  iiucllenkund(^  der  Snorra  Edda  uns  besi'hert  liättrl  So 
lange  wii'  eine  solche  nicht  bi'sitzen,  ist  es  nicht  statthaft  orziUilungen  für  das  heiden- 
tum  in  anspruch  zu  mdimen.  füi'  widdie  nur  Snori'o  und  sein  ki'ois  die  gewähi's- 
männer  stelt.  Ich  keime  nur  aus  Sn.  E.  11,  2S1.  1,  142  jene  komische  geschichti',  die 
[tiu'!'  i>assiei'te.  als  e]'  seine  luM-ke  geschlachtet  hattr  und  sie  am  aiidei'n  morgen  jnit 
seinem  hammer  wider  helehte.  wovon  Hymeskv.  37.  3S  nichts  weiss.  Dazu  gibt  es 
aus  iler  wuudergeschichtc  d(^s  Brittena[»ostels  ('«ei'maiuis  ein  veiiilüfi'endes  seitenstück, 
das  uns  wenigstens  gegen  die  noi'dische  überliefei'ung  (zu  dei-  übi-igons  11.  Petersen, 
(iottesdienst  s.  .'iS  zu  vergleiehen  ist)  versichtig  machen  muss.'  Sie  sticht  bei  Neninus 
s.  32  und  ausführliciier  in  der  Acta  SS.  zum  31.  .Tuli  (s.  272).  (iermamis  war  bei 
i'inem  ai'inen  Kidudots  n'i/is  an  einem  stürmischen  wiutertag  eiugekelirt;  die  kleine 
familie  besizt  nur  eine  rai-ca  nelist  nfuliis.  Dieser  wird  dem  gaste  zu  ehren 
gesehlachti't :  cociki  cxjdicitd  hi'dliis  (IcniHiniis  nndicrni/  vnx-ni,  inipvniUiiic  /d  assa 
r/'f/di  eol/ectd  d/l/t/cid üts  s//jicr  jicil/cnldii/  ('/'//s  aide  iindroii  in  jiracsfpin  cnu/jio- 
iial.  (jiio  fdctd  (mij'dni  dii-tii  <ju()d  vstj  rif/rlns  dl/s<j/ic  iiinrd  ndrrcxil ,  iiid1ri(juc 
rnadsfaiis  pahidiiiii  cdrprrc  cuepit.  Dagegen  bei  Nennius  (Mon.  Ilist.  Ih'it.  1,  03): 
rHidinii  dccidli ,  cnxif  et  pasiiif  didc  svrruiii  Dei  ractrrd^qtic  sdcio!<  ejus,  tj/n7t/(f< 
S.  (Icniidinis  prdvfcpit .  itt  nmi  cdiij riiKiercfur  "S-  de  dssihds  eil/di.  ef  sie  pictuiii 
esf.  Ii)  eraff/itifiii  rit/ilds  i/ireidds  est  dide  iiiafreiii  sitdiii  saiids  ef  r/n(s.  Iiieo- 
l/nt/isij/te  dei  //riserieordid  ef  nndiuiie  S.  (leniidiii.  Amdi  übei'cinstimmungeu  wie 
die  von  Maurer  Bekehrung  1.  4()8,  UU  und  Jac.  Grimm,  iiiyth. '  l.")7  f.  753  anm.  2 
erkanten  dürfen  erwähnt  wenlen.  AVähi'cnd  Vaf|n'ü{inesm.  30.  37  auf  die  fragi^  Ojjius 
an  den  riesen.  woher  doi'  wiml  koinnu'.  die  antwort  gegclien  wird:  Ilmsrelur  l/eifer 
es  siff  d  lii»iens  endd  jutiDHi  in  dnnir  Intin .  df  i/dits  r<eii(jjoiii  l'rejxi  riiid  h(niid 
iilld  ineiui  yfer,  weiss  Snorre  II,  2r)7.  I,  48:  rjerpo  hiiieinti  oh-  seffd  _///lr  jorpina 
med  IUI  skaiäiim  (d{  i/iidir  I/rerf  hiini  seffn  pcir  drer;/  ÄHsira ,  \'estrd,  Noipru, 
Stipfd ,  zwerguamen,  die  amdi  litu-eits  in  dem  interpolierten  katalog  der  V(^)l.  stehen. 
,1.  Grimm  hat  Myth. '  s.  382.  525  in  denselben  die  bezeichnung  der  vim'  haujitwinde 
gesehen,  was  nii'gends  überliefei't  ist,  der  Sache  nach  aber  das  ilehtige  hei'ausgehobeu 
hat.  In  solchem  falle  kann  nur  blinde  Voreingenommenheit  ehi'istlichen  einfUiss  ver- 
kennen, vgl.  Apocaly[ise  7,1:  pusf  J/aee  ridi  qtiafuur  aii(jelns  sfd//fes  super  (ludfiior 
augidos    fcrrae    (=   skduf,    doch   ist    zu  der   Wortbedeutung   Buggc.    Studien    s.  205 

1)  Nachträglich  sehe  icli,  dass  bereits  Moni'  und  Wnlt  daraal  hiiiL;('\vii"-i.'ii  lialicii,  vgl.  Mannhardt, 
üerm.  Mythen  s.  57  ft'.     Vu;!.  auch  Grimm,  Myth.  151. 

ZEITSCHKIFT    F.    DEUTSCUE    PHILOLOGIE.      BD.    XXIV.  8 


114  KAUFFMANN,    tJBER    MEYER,    VOLUSPA 

anm.  3  zu  bcrücksiehtigen)  tencntcs  qnataor  renton  terrae,  ne  flarent  super  ferrani 
neque  super  mare  neqtie  in  uUam  arborem.  Es  sind  die  mundi  eardines,  e  quibtis 
ventortim  potens  quaternio  (F.  Oeliler  corp.  haeret.  I,  131)  oder  die  quatiior  partes, 
distitiGtiones  mundi,  welche  die  cornua  crucis  umfassen:  orientem  seilicct  et  occi- 
dentem,  aquilonem  et  meridiem  (in  derselben  reilienfolge  wie  im  nordischen  text 
gegen  YqI.  11).  Eine  deutlichere  spur  als  der  termiuus  hörn  der  Eddastelle  ist  nicht 
zu  verlangen  (doch  vgl.  landshorn  Yigfusson  Dict.  s.  279),  und  es  liegt  auf  der  band, 
dass  in  demselben  christlichen  boden  die  poetischen  jaräarslaut,  heimsskaut  wurzeln. 
Ob  dagegen  eine  termiuologie  wie  Honorius  Augustod.  de  imagine  mundi  I.  c.  5G: 
dieuntur  autem  nubes  quasi  nimhorum  naves  die  quelle  für  vindflot  Alvism.  18 
gebildet  hat,  kann  zweifelhaft  sein.  Ich  habe  mich  Beiti'.  XV,  195  ff.  dafür  erklärt, 
dass  bereits  unsere  töltesten  mythologisclien  lieder  von  dem  kulturstrom  berührt  sind, 
der  im  sonnigeren  Süden  entsprungen  war.  Diese  berührungen  nachzuweisen,  ist  eine 
ernste  aufgäbe,  an  der  schon  manche  kraft  sich  erschöpfte.  Wie  tiefgreifend  das 
römische  recht  die  germanische  nationalität  gefährdete,  muss  hier  nachdrücklich  her- 
vorgehoben werden;  es  ist  notwendig  an  den  ergebnissen  der  rechtsgeschichtc  den 
blick  zu  schärfen,  wenn  es  gilt,  die  Wandlungen  der  religions Vorstellungen  auf  christ- 
lich-römische einÜüsse  zurückzuführen.  Seitdem  ITsonors  Eeligionsgeschichtliche  Unter- 
suchungen (I.  II.  Bonn  1889)  erschienen  sind,  selten  auch  wir  gelernt  haben,  wo 
und  wie  der  spaten  angosczt  werden  muss,  um  an  die  wurzel  der  volksbräuche  zu 
gelangen.  An  verwegenen  verlorenen  einfallen  haben  wir  jezt  reichlich  genug  erlebt. 
Die  mythologische  forschung  hat  jezt  als  nächste  aufgäbe,  aus  dem  bunten 
bilde  der  Überlieferung  die  factoren  auszuscheiden,  die  dem  religiösen  leben  der 
einzelnen  germanischen  stamme  angehören.  Auf  der  grundlage  des  religiösen  lebens 
erhebt  sich  der  labyrinthische  bau  der  religiösen  dichtung.  Ich  zweifle  nicht, 
dass  die  religiösen  anschauungeu,.  ceremonien  und  Symbole,  die  das  gesamtvolk  be- 
herrschen, wie  ein  Ariadnefaden  uns  durch  die  übeilieferten  dichtwerke  die  richtige 
bahn  führen  werden.  Die  Scheidung  zwischen  der  kunstleistung  des  individuellen 
dichters  und  dem  festen  fonds  des  volkstümlichen  glaubens  ist  die  Vorbedingung  für 
die  behandlung  der  frage  nach  der  herkuuft  der  dichterischen  Stoffe.  Die  einzelneu 
formen  der  volkstümlichen  religiösen  ceremonien  haben  gleichfals  ihre  geschichte,  an 
deren  aufhellung  wir  zu  allererst  werden  zu  arbeiten  haben.  Ausgangspunkt  kann 
aber  nur-  der  zustand  des  germanischen  heidentums  unmittelbar  vor  dem  bekehruugs- 
werke  der  christlichen  missionare  sein,  wenn  wir-  historisch  zuverlässige  resultate 
erwai-ten.  Ich  arbeite  seit  längerer  zeit  in  dieser  richtung  und  bin  von  ganz  anderer 
Seite  der  frage  nach  der  kulturberührung  der  Germanen  mit  der  romanischen  weit 
nahegetreten. 

MARBURG,    8.  FEBRUAR  1890.  FRIEDRICH   KAUFFMANN. 


A.  Wagner,  prof.,  Der  gegenwärtige  lautstand  dos  schwäbischen  in  der 
mundart  von  Reutlingen.  Er.ste  hälfte.  Reutlingen  1889.  (Festschrift  der 
kgl.  realanstalt  zu  Reutlingen  zur  feier  der  25jährigcn  regierungszeit  sr.  majestät 
des  königs). 

Für  den  verf.  ist  die  nähere  bestimmung  seiner  abhandlung,  die  gegenwär- 
tige lautform  der  Rcutlingor  Ma.  zur  darstoUuug  zu  bringen,  wesentlich.  Denn  auch 
er  huldigt  der  ansieht,  dass  wir  im  stände  seien,  den  proccss  der  lautveränderung  zu 


KAUFFMANN.    i'BER    WAOXER  ,    REUTLIXGER    MUNDART  115 

belauschen  und  die  richtung-  derselben  vorauszusagen.  Das  ist  ein  durch  die  engli- 
schen Phonetiker  nach  Deutschland  verpflanzter  irtum.  Von  den  schriftsprachlichen 
einflüssen  wie  ac  statt  qe  (aeclrks  i^ohört  aber  nicht  hierher,  ahd.  ccjidchsa) ,  ö  statt 
ao  u.  a.  abgesehen,  bedarf  es  nur  der  koutuis  der  älteren  spräche,  um  isolierte  reste 
wie  (Is^ot  (zehnte  ans  zöhendo  >  *zehede),  ßrcllaeno  (entlehnen  aus  verlehenen), 
qemots  (irgendwohin  aus  *naiswaze)  u.  a.  als  besonders  altertümlich  zu  schätzen;  von 
einem  vorschwinden  der  nasalierung  kann  vernünftigerweise  nicht  die  rede  sein.  Die 
Reutlinger  ma.  hat  in  der  alt(Mi  reichsstadt  zweifellos  genau  dasselbe  Schicksal  gehabt, 
wie  der  scliwäbisehe  dialekt  in  weniger  exclusiven  bezirken  und  ist  in  ihrem  laut- 
bestand seit  jahi'huuderten  fest  geworden.  Durch  zerstreute  boeinflussungen  von  selten 
der  gemeiusprache  wird  derselbe  im  gründe  nicht  berührt. 

Die  Schreibweise  schliesst  sich  im  ganzen  den  von  mir  gebrauchten  zeichen  an. 
Es  ist  zu  bedauern,  dass  der  herr  verf.  darin  nicht  consequenter  gewesen  ist  und  da- 
durch sein  scherflein  zur  herstellung  einer  gleichmässigen  dialektorthographie  bei- 
getragen hat.  Aus  verschiedenen  gründen  wäre  ä  statt  u  vorzuziehen  gewesen; 
warum  der  verf.  die  fast  algemein  recipierten  e,  o  (statt  dessen  m,  o)  verschmäht  hat, 
ist  nicht  einzusehen.  Das  griech._;if  können  wir  auch  sehr  leicht  entbehren,  wenn  wir 
neben  x  noch  x  einführen  etc.  Es  ist  geradezu  pflicht,  in  dialektdarstellungen  klein- 
liche Sonderinteressen  zu  opfern,  um  dem  leser  das  Studium  dadurch  zu  erleichtern, 
dass  man  die  Systeme  älterer  arbeiten  beibehält. 

Die  abhandlung  enthält  s.  3  —  20  eine  sehr  gehaltvolle  phonetisclie  analyse  der 
laute ,  die  in  einzelheiten  von  meiner  darstellung  abweicht.  Fremdartig  ist  mir  nament- 
lich die  airfstellung  eines  kieferwinkels  5.  grades  für  ä;  aus  meiner  erfahrung  wüsste 
ich  nichts  zur  bestätigung  desselben  beizubringen.  Ferner  soll,  was  jeder  beobach- 
tung  meinerseits  zuwiderläuft,  der  kieferwiukel  für  ^  und  q  derselbe  sein;  ich  muss 
an  der  absteigenden  reihe  o,  a,  (p  festhalten.  Im  übrigen  haben  indessen  unsere 
unabhängigen  beobachtungen  zu  volständig  übereinstimmenden  resultaten  geführt 
(namentlich  was  den  schwierigen  diphthong  di)  betritt,  so  dass  wir  behaupten  dürfen, 
die  schwäbische  lautbildung  sachgemäss  erläutert  zu  haben.  Widerspruch  muss  ich 
gegen  "Wagners  steigende  diphthonge  (s.  11)  erheben.  Man  mag  die  Verbindung  ja 
als  steigenden  diphthong  betrachten  (dessen  erstes  einsilbiges  element  nicht  als  * 
sondern  als  e  anzusehen  wäre);  die  termiuologie  ist  aber  nicht  empfehlenswert,  schon 
weil  sie  auf  w  übertragen,  zu  Ungeheuerlichkeiten  führt,  ic  in  iva  ist  überhaupt  kein 
halbvocal  mehr,  wie  Wagner  schon  von  Winkler  hätte  lernen  können,  folglich  ist 
seine  Umschreibung  "«  H  «e  etc.  in  hohem  gTad  irreführend.  Ausl.  -e,  -o  sind 
nicht  mit  dem  nasalzeichen  zu  versehen,  es  sei  denn,  dass  nasenresonanz  vorausgeht. 

Sehr  dankensweii  ist  nun  aber,  dass  uns  hier  zum  ersten  mal  in  philologischer 
darstellung  experimentelle  messuugen  der  Quantitäten  vorgelegt  worden  sind. 
Wagner  hat  mit  dem  Grützner -Marey'schen  apparat  gearbeitet  (vgl.  jezt  Phonet. 
Studien  IV)  und  die  quautitätskurven  auf  tabellen  beigelegt.  Ich  benutze  die  gelegen- 
heit,  auf  den  artikel  von  herrn  William  Martens  in  Kiel:  Über  das  verhalten  von 
vocalen  und  diphthongen  in  gesprochenen  werte  n.  Untersuchung  mit  dem  sprach- 
zeichner  in  der  Zeitschrift  für  biologie,  herausg.  von  W.  Kühne  und  C.  Voit  (N.  f.  VII. 
bd.  1889  s.  289  ff. ,  mit  sehr  wei-tvoUeu  tabellen  und  tafel  I)  die  aufmerksamkeit  zu 
lenken.  Herr  Martens  hat  nüt  dem  apparat  von  prof.  Hensen  (vgl.  Zeitschrift  für 
biologie,  N.  f.  bd.  V.:  über  die  schrift  von  schallbewegungen)  gearbeitet  (wie  neuer- 
dings noch  eingehender  Pipping).  Es  empfiehlt  sich  jedoch  bei  widcrholung  der  ver- 
suche,  vorsichtiger  zu  verfahren.     Wenn  ruis  Wagner  s.  5   als  resultat  seiner  vocal- 


116  KAUKFMANN,    ÜBER   WAQNKR,    REUTLINUER    MUNDART 

messnugen  mitteilt,  dass  die  (|uantit;it  der  langeu  vocalc  zu  der  der  kurzen  sich  wie 
3:2  verhalte,  so  weiss  ich  damit  wenig  anzufangen,  wenn  ich  über  die  termini  „lang- 
und  „kurz"  ohne  aufklärung  bleibe.  Die  oxperimente  von  Martens  ergaben  z.  b.  eine 
maximaldauer  von  0,549,  eine  minimaldauer  von  0,038  Sekunden.  Sehr  schön  sind 
dagegen  die  resultate  bei  den  consonanten  s.  13  ff.  Auffallend  bleibt  mir  nur,  dass 
dem  verf.  der  lautwert  auslautender  lenis  entgangen  ist :  inlautende  lenis  wird  in  aus- 
lautstellung  zu  aspirierter  fortis:  rap  nicht  rah  rabe,  rappe  etc.  Möchten  doch  die 
physiologischen  experimente  auch  auf  andern  dialectgebieten  recht  sorgfältig  widerholt 
werden!  Es  ist  keine  frage,  dass  die  wissenschaftliche,  tatsächliche  ergebnisse  liefernde 
dialectforsohung  erst  mit  hilfe  von  apparaten  ihren  zweck  erfüllen  wird,  wie  ja  selbst- 
verständlicli  die  iuteressen  der  phj'siologen  ihre  notwendige  wissenschaftliche  unterläge 
erst  erhalten,  wenn  sie  nicht  mit  einer  abstracten,  sondern  mit  der  individuell  mund- 
artlichen aussprachsform  operieren.  Der  Edison'sche  phonograph  wird  walirscheinlich 
unseru  zwecken  nicht  die  erhofften  dienste  tun.  Kreisen,  welche  die  technischen 
erfindungen  mit  Interesse  verfolgen,  mache  ich  noch  eine  in  Deutschland,  wie  es 
scheint ,  nicht  beachtete  Untersuchung  von  Adrien  Guebhai'd  namhaft :  Nouveau  procode 
phoneidoscopique  par  les  anneaux  colores  d'interference  in  der  Association  Francaise 
pour  Tavancement  des  sciences.  Paris  1879  (Oongres  de  Montpellier.)  Vielleicht 
haben  andere  mit  der  Wiederholung  der  experimente  mehr  glück,  als  ich. 

S.  20  ff.  erhalten  wir  eine  sehr  reichhaltige,  auf  idiotismensamlung  angelegte 
Statistik,  zunächst  die  vocale  umfassend;  diphthonge  und  consonanten  werden  in  aus- 
sieht gestelt.  Ich  möchte  den  Verfasser  dringend  dazu  ermutigen.  "Was  kentnis  der 
älteren  formen  anlangt,  so  werden  zwar  am  schluss  der  abschnitte  aus  den  Urkunden 
des  städtischen  archivs  materialien  verzeichnet,  aber  in  sehr  äusserlicher  form.  In 
diesem  stück  bleibt  viel  zu  wünschen.  Auch  die  gruppieruug  der  (juantitäten  ist 
verfehlt. 

MARBURO,    DECEMBER    1889.  FRIEDRICH    KAUFFilANN. 


Kautrinanii,  Friedr.,  Gcschiclite  der  schwabischen  mundart  im  mittel- 
alter  und  in  der  neuzeit,  mit  textproben  und  einer  geschichte  der  Schrift- 
sprache in  Schwaben.     Strassburg,  Trübnor,  1890.    XXVIII,  355  s.   8°.    8m. 

Das  buch  enthält  eine  behandlung  der  lautlehre  des  schwäbischen ,  in  welche 
verwobon  ist,  was  der  verf.  über  flexionserscheinungen  gesammelt  hat.  Wie  von  ihm 
zu  erwarten,  gibt  der  verf.  eine  von  den  gruudsätzen  heutiger  Sprachwissenschaft 
ausgehende  und  denselben  völlig  genüge  tuende  arbeit.  Aber,  was  mehr  heisseu  will, 
er  komt  auch  zu  ganz  hervoiTagenden  ergebnisseu.  Manche  partien  schwäbischer 
lautlehre  werden  für  absehbare  zeit  zur  hauptsache  nun  fertig  gestelt  sein,  andere 
sind  hier  ganz  erheblich  gefördert.  AVas  der  verf.  an  historischem  material  aus  den 
denkmälern  von  den  ältesten  lU'kundlichen  nameusformen  an  abwärts  bis  auf  die  dia- 
lektdichter des  18.  Jahrhunderts  zusammengetragen  hat,  führt  vielfach  zu  ebenso  über- 
raschenden als  fest  begründbaren  resultaten.  Und  mag  das  hier  gegebene,  was  sich 
heute  kaum  völlig  übersehen  lässt,  in  manchen  punkten  noch  in  ausschlaggebender 
weise  ergänzt  werden,  ao  bildet  es  doch  jedesfals  für  jede  weitere  arbeit  ein 
ausgezeiclmetes  hüfsmittel.  Bedeutend  weniger  genügend  ist  das  material  aus  der 
lebenden  mundart.  Hier  musste  verf.  mehrfach  die  mundart  eines  einzelnen  punktes, 
des  Städtchens  Horb  a.  N.  als  förmliche  grundlage  benützen.  Dazu  konte  er  fügen, 
was  er  aus  seiner  heinuvt  Stuttgart  kent,  was  er  selbst  sonst  erreichen  konte  und  was 


BOHNKNBEKCiER,    ÜßEIt    KArFFMANN,    OKSril.    VKU    SnnvÄB.    MUNÜART  117 

neben  einigen  engere  gel)icte  oder  einzelne  erscheinungeu  behandelnden  kleinereu 
publicationen  uuscro  oberamtsbeschreii)ungen  bieten.  Horb  hat  nun  wohl  für  einige 
erscheinungcu  eine  ganz  besonders  günstige  läge,  aber  es  erscheint  als  Städtchen 
schon  nielirfach  von  der  gebildetensprache  beeinflusst.  In  Stuttgart  ist  kaum  mehr 
etwas  von  bedeutung  zu  holen.  Die  oberamtsbeschrcibungen  aber,  auf  welche  es  für 
die  grossen  weiten  gebiete  des  dialocts  ankäme,  sind  hierfür  ganz  unzureicliend.  Ein- 
gehenderes und  brauchbares  material  liefern  nur  die  alleracusteu ,  Babingen,  Tuttlingen 
und  Ellwangen.  Somit  vermögen  dieselben  nur  über  begrenzte  gebiete  im  n.o.  und 
im  s.w.  zu  untcrriehteu ,  alles  andere  fehlt.  Und  selbst  das  bei  ihnen  gegebene 
bedarf  der  controlle.  Gut  steht  es  wider  dank  BirHugers  arbeiten  um  das  oberschwä- 
bischc.  So  mag  es  sich  aus  diesem  mangel  an  material  und  einer  daraus  sich  erge- 
benden Unsicherheit  u.  a.  auch  erklären,  dass  verf.  auffallender  weise  im  gebiet  der 
lebenden  mundart  dem  von  ihm  selbst  als  absolut  unumgänglich  anerkanton  grund- 
satz,  die  gesetzmässigeu  bildungen  als  solche  zu  bestimmen,  mehrfach  nicht  oder 
nur  ungenügend  nachkomt,  sich  mit  aufführung  der  neben  einander  hergehenden  ver- 
schiedenartigen entsprechunjjen  begnügt  und  selbst  nicht  volkstümliches  als  gleich- 
berechtigt einreiht.  Oft  worden  auch  den  im  text  aufgeführten  durcliaus  gleich- 
berechtigte entsprecliungen  in  der  anmerkung  abgemacht,  offenbar  weil  sie  einem  dem 
verf.  weniger  naheliegenden  dialectgebiet  angehören.  Damit  bin  ich  auf  das  formale 
gekommen.  Wer  auf  guten  sprachlichen  ausdruck,  richtige  Stoffverteilung  in  absätzen, 
Paragraphen  und  abschnitten,  corrcctes  anbringen  der  paragraphen-  und  absatzziffern 
sieht,  wird  andere  anforderungen  machen,  als  der  verf.  an  sich  gestelt  hat.  Über 
dem  bestreben  pointiert  und  eigenartig  zu  reden,  wird  der  verf.  manchmal  auch 
dunkel  und  unverständlich.  Weite  er  uns  aber  vor  die  wähl  stellen,  ob  wir  lieber 
das  buch,  wie  es  ist,  mit  seinen  formalen  Unebenheiten  und  seiner  unvolständigkeit  in 
Verarbeitung  der  lebenden  mundart  annehmen,  oder  erst  länger  warten  möchten,  bis 
er  gelegenheit  gefunden,  diesen  mangeln  vollends  abzuhelfen,  so  würde  der  fachmann 
zweifellos  doch  ersteres  vorziehen. 

Das  Vorwort  benüzt  der  verf. ,  persönliches  und  sachliches  verknüpfend ,  zu 
principiellen  anseinandersetzungen.  Gegenüber  der  von  Paul  aufgestelteu  erklä- 
rung  der  sprach  Veränderung  sieht  verf.  deren  grund  in  einer  bestirnten,  zeitlich 
begrenzten  und  aus  konkreten  anlassen  hervorgehenden  änderung  der  function  der 
Sprachorgane.  Wer  mm  auch  diese  aufstellung  des  verf.  anerkent,  wird  eine 
wesentliche  modifizierung  der  ansichteu  der  Sprachwissenschaft  nur  dann  darin 
sehen,  wenn  ihm  dieselben  früher  mit  den  aufstelluugen  Pauls,  nun  mit  denen  des 
Verfassers  völlig  zusammenzufallen  scheinen.  Da  seit  dem  14.  jahrh.  keine  Verände- 
rung der  lautbildung  nachgewiesen  werden  kann,  die  Stabilität  des  lautbestandes  viel- 
leicht aber  noch  älter  sei,  so  sieht  der  verf.  die  vorauszusetzenden  functionsändemngen 
der  Sprachorgane,  veranlasst  durch  die  einwanderung  des  Stammes  in  seine  heutigen 
sitze,  und  gibt  als  gesichtspunkte  veränderten  luftdruck,  gänzlich  andere  bodens-  und 
lebensverhältnisse.  Aber  was  ist  diesen  Verhältnissen  bei  ihrer  Verschiedenheit  in 
oberschwäbischer  ebene  und  Schwarzwald ,  in  Alb  und  Neckarthal  gemeinsam  gegen- 
über den  Verhältnissen  der  alten  heimat?  Würde  verf.  wirklich  versuchen,  in  ein- 
zelnen aus  solchen  veränderten  Verhältnissen  die  functionsveränderungeu  der  sprach- 
organe  zu  erklären,  so  würde  er  wol,  um  bestimte  Ursachen  zu  erhalten,  gezwungen 
sein  einzelne  Verhältnisse  herauszugreifen,  welche  niu-  für  einen  grösseren  oder  gerin- 
geren kreis,  nicht  aber  für  sämtliche  stamniesangehörigen  gelten  konten.  Damit  wäre 
anzunehmen,   dass   sich   die   einen  dem  beispiel  der  anderen  anschlössen;  wir  hätten 


118  BOHNENBERGEK 

also  hier  psychische  gründe,  und  die  functionsveränderung  hätte  dann  bei  beiden  teilen 
durchaus  verschiedenartige  Ursachen.  Diese  aus  psychischen  gründen  hervorgehende 
bewegung  müsste  dann  aber  ebenso  ausnahinelose  gesetze  geschaffen  haben,  wie  die 
aus  mechanischen  gründen  gegebene,  und  sie  wäre  zu  trennen  von  der  secundären, 
welche  analogicbildungen  schaft.  Aus  gleichem  gründe  geht  meines  eraclitens  verf. 
zu  weit,  wenn  er  für  die  hd.  lautverschiebung  das  bild  der  Wellenbewegung  für  un- 
statthaft erklärt  und  vielmehr  jede  einzelne  mundart  den  process  selbständig  durch- 
machen lässt.  SoU  damit  gesagt  sein,  dafs  auch  das  Individuum  ohne  psychische 
abhängigkeit  von  anderen  denselben  vollzieht?  Mag  man  mit  verf.  darüber  einver- 
standen sein,  dass  noch  andere  Umwälzungen  der  gleichen  zeit  angehören  und  dass 
womöglich  ein  alle  zusammen  erklärender  einheitlicher  grund  anzusetzen  ist,  so  wird 
es  doch  auch  hier,  fürchte  ich,  bei  der  grossen  Verschiedenheit  der  Verhältnisse  der 
einzelnen  sehi-  schwer  sein,  irgend  welchen  zustand  in  der  weise  für  das  ganze  gebiet 
der  Verschiebung  gleichartig  zu  denken,  dass  derselbe  allenthalben  wesentlich  gleich- 
zeitig dieselbe  funktionsveräuderung  der  sprachorgane  bewirken  könte.  Immer  werden 
zum  mindesten  inseln  bleiben,  innerhalb  welcher  gerade  in  den  fraglichen  Verhält- 
nissen Verschiedenheit  oder  wenigstens  ])edeutende  abstufung  herscht.  Diese  müssten 
dann  die  funktion  der  Umgebung  angenommen  haben.  Und  damit  wäre  räum  für 
irgendwelche  art  der  ausdehnungsbewegung.  Ob  aber  dabei  zum  mindesten  eine  an- 
zahl  von  h au pt Zentren  als  ausgangspunct  der  Verschiebung,  oder  nur  ein  einziges 
hauptgebiet  anzunehmen,  darauf  will  ich  nicht  weiter  eingehen,  zumal  der  Vorgang 
selbst  heute  überhaupt  noch  unerklärbar  erscheint. 

Hauptabschnitt  I,  phonetik,  gibt  die  nötigen  phonetischen  gesichtspunkte  und 
charakterisiert  den  lautphysiologischeu  bestand  der  mundart.  Dieser  wäre  als  die  haupt- 
sache  noch  mehr  hervorgetreten,  wenn  manches  der  algemeinen  phonetik  angehörige 
gekürzt  oder  gestrichen  worden  wäre.  Ueberhaupt  kann  man  sich  bei  diesem  ab- 
schnitte mehrfach  fragen:  für  leser  welcher  art  ist  dies  geschrieben V  Wenn  verf.  in 
betreff  der  geräuschlaute  angibt,  dei-  versuch  mit  einer  Wassersäule  in  einer  glasröhre 
von  7  mm  durchmesser  ergebe  bei  lenis  ein  steigen  von  1 '/,  cm ,  bei  fortis  von  2Y,  cm, 
so  verliert  ein  solches  experiment  dadurch  ziemlich  an  wert,  dass  man  dasselbe  nicht 
wohl  durch  den  die  mundaii  redenden  mann  machen  lassen  kann.  Und  dann  wäre 
das  experiment  auch  auf  die  aspirierte  fortis  anzuwenden  gewesen,  ob  diese  nicht 
noch  stärkere  explosion  aufweist. 

Hauptabschnitt  II  gibt  eine  Orientierung  über  namen  von  stamm  und  Sprache, 
Stammesgrenze,  merkmale  der  nachbardialecte ,  teilung  des  schwäbischen  in  östliches 
und  westliches  gebiet.  Unbeschadet  aller  kürze  solte  man  aber,  nachdem  ort  und 
zeit  richtiger  bestirnt  sind,  nicht  mehr  von  der  „sog.  Schlacht  bei  Zülpich  a.  496"  reden. 

Den  hauptteil  der  arbeit  bildet  abschnitt  HI,  die  lautstatistik.  Hier  werden 
die  einzelnen  laute  in  ihrer  geschichte  von  den  ältesten  nachweisbaren,  vom  verf.  aus 
den  denkmälern  meist  überreich  belegten  formen  an  bis  in  die  heutige  mundart  vor- 
geführt, die  gesetze  wie  die  zeit  der  Umbildung  bostimt.  In  dieser  beziehung  ist 
allenthalben  das  ergebnis,  dass  seit  dem  14.  jh.  keine  wesentliche  änderung  in  der 
mundart  mehr  statgefunden  hat.  Aus  der  benützuug  der  denlcmäler  ergeben  sich 
ganz  interessante  grundsätze  füi'  deren  Verwertung,  z.  b.  für  che  bedeutung  der  „um- 
gekehrten Schreibung",  für  beurteilung  der  Schreibart  in  Übergangszeiten,  wo  das  tra- 
ditionell gegebene  von  dem  der  ausspräche  entsprechenden  zeichen  verdrängt  \\ird,  für 
Charakterisierung  der  Schreiber,  welche  je  nach  stand  und  bildung  mehr  der  traditio- 
nellen Schreibart  anhangen  oder  den  lebenden  laut  geben.     Was  die  vocale  betrift,  so 


ÜBER    KAUFl'MANN,    GESCH.    DEK    SCHWAB.    MUNDART  119 

beabsichtigt  verf.  zuerst  durch  behaudluug  der  oinzelvocalc  einen  ausweis  des  bestan- 
des  zu  den  verschiedenen  zeiten  zu  geben;  in  einem  nachfolgenden  cap.  „Geschichte 
des  vocalismus"  werden  die  wirkenden  gosetzo  eruiert  und  die  zuvor  nacligowicsenen 
Vorgänge  erklärt.  Ich  gebe  der  küi-ze  halber  nur,  was  ich  aiiszusetzen  habe.  Durch- 
gehend sind  bei  behandlung  der  alten  kürzen  die  quantitätsverhältnisse  zu  wenig  genau 
gegeben.  Es  wäre  rnit  rücksicht  auf  die  einzelnen  gebiete  der  mundait  genauer  zu 
untersuchen  gewesen,  welche  beispiele  dehnen  und  welche  die  kürze  erhalten.  Das 
gleiche  gilt  in  betreff  der  diphthongisierung  alter  kürze,  und  hier  wäre  besonders  noch 
zu  beachten,  wo  dieselbe  vor  nasal -]- spirans  consequent  durchgeführt  ist,  und  wo  nur 
zum  teil.  Ferner  wie  weit  heute  noch  die  Vertretung  c  >  ej  und  e  ">  de  durch- 
geht. Was  hierüber  §69,  2,  b  und  §  72  gesagt  ist,  ist  z.  t.  selbst  für  Horb  anfecht- 
bar. Dasselbe  gilt  vom  wandel  ö  >  äo  und  oc  >  de.  Bei  den  Vertretern  von  mhd.  iu 
ist  eingehender  als  geschehen  der  versuch  zu  machen ,  diejenigen  der  beiden  ursi)rüng- 
lich  verschiedenen  laute  auseinander  zu  halten  und  genau  anzugeben,  in  welchen  bei- 
spielen  und  wo  der  diplitliong  als  ui,  t,  ü  erscheint,  oder  dafür  mit  dem  Vertreter 
des  Umlautes  von  ü  zusammenfallend  oi  auftritt.  Das  gebiet  von  ü  ist  ausgedehnter, 
als  verf.  meint.  Eingehend  sind  die  vocale  der  nebensilben  behandelt  und  sehr  in- 
haltreich die  belege  aus  den  denkmälern  für  endsilbenvocale  der  ahd.  und  mhd.  zeit. 
Ob  die  frage  über  das  Verhältnis  pe  :  po  als  Vertreter  von  cd  durch  den  ohnedies  etwas 
unbestimt  algemeinen  hinweis  auf  verschiedenen  nachdrucksgrad  (§110  A  3j  gelöst 
ist,  bleibt  mir  fraglich.  Soll  hier  gesagt  sein,  i  in  ai  sei  direct  zu  a  geworden? 
Und  wenn  so,  wo  bietet  sich  hiezu  eine  parallele?  Dies  fiUu't  auf  die  erklärung  der 
gegebenen  vocalveränderungen  hinüber.  Hier  stimme  ich  im  princip  der  darlegung  des 
Verfassers  bei,  dass  bei  schwachgeschnittenem  accent  tieftonigkeit  des  stamsilbenvocals 
mit  zum  höchsten  laut  aufsteigender  betonung  für  das  schwäbische  sich  womöglich 
zweigipfliger  accent  und  dehnung  ergibt.  Wenn  aber  verf.  diese  Wirkung  auf  die 
geschlossene  silbe  beschränkt,  dehnung  iu  offener  silbe  auf  ausgleiclmng  beruhen  und 
umgekehrt  jede  silbe  in  pausastellung  sich  dehnen  lässt,  daher  auch  ebenso  kurze 
einsilbige  formen  auf  ausgleichung  zurückführt,  so  kann  ich  diese  annähme  nicht  für 
das  ganze  schwäbische  gebiet  teilen.  In  einer  anmerkuug  weist  der  verf.  die  rück- 
sicht auf  den  charakter  der  folgenden  cousonanz  kurzweg  ab.  Stände  ihm  mehr  ma- 
terial  zur  Verfügung,  so  wäre  er  wol  anderer  ansieht.  Es  lässt  sich  in  bestimten 
gebieten  ganz  genau  nachweisen,  wie  vor  bestimter  consonanz  dehmmg  bez.  für  e 
diphthongisierung  stathaben  kann,  und  wie  dieselbe  vor  andern  unterbleiben  muss. 
Wenn  dann  innerhalb  bestimter  grenzen  wider  einzelne  cousonanzen  wie  z.  b.  aspi- 
rierte fortis  oder  b  -j-  cons.  verschiedene  quantität  des  vorgehenden  ursprünglich 
kurzen  vocals  zeigen,  wenn  ng  anderen  stand  zeigt  als  nk,  german.  h  anderen  als 
der  Vertreter  von  germ.  k,  so  ist  diese  interessante  erscheinung  auch  bei  der  bestim- 
mung  der  articulation  der  betreffenden  cousonanteu  zu  beachten.  Dass  zwischen  den 
verschiedenen  consequent  bildenden  gebieten  Übergangsgebiete  entstehen,  kann  nicht 
auffallen.  Somit  sage  ich:  zum  mindesten  in  einem  teile  des  schwäbischen  gebietes 
tritt  organische  dehnung  auch  ein,  wo  der  vocal  die  silbe  schliesst,  und  es  gibt  bestimte, 
die  dehnung  aufhaltende  consonauzen.  Bei  der  erklärung  der  diphthongisierung  wäre 
auf  grund  des  zuvor  bei  der  darstellung  der  einzelnen  laute  eingehender  zu  gebenden 
materials  zu  fragen  gewesen,  warum  gerade  die  nasalvocale  anderen  voran  sein  konten, 
und  warum  auch  unter  ihnen  ein  teil  zurückblieb.  Dann  wäre  der  satz,  dass  der 
homogene  geschlossenere  vocal  erzeugt  wird,  wenn  bei  überlangem  vocal  kehlkopf  und 
Zungenrücken  sich  heben,  specieller  auf  die  einzelnen  erscheinungen  anzuwenden.   AVie 


120  BOHNENBERGER ,    ÜBER    iCAUFFMÄNN,    GESCH.    DER    SCHWAB.    MUNDART 

wird  ostschwäbisch  ö  zu  da  unclczup?  Soll  p  über  ei  geleitet  werden  (§140, 2.  a)? 
Parallel  03  aus  0  geht  es  doch  wohl  direct  auf  e  zurück.  So  war  wol  auch  e,  wo 
es  als  ea  erscheint,  zunächst  durch  dehnung  zu  e  geworden,  so  dass  für  das  gesamt- 
gebiet diphthongisierung  des  offenen  e  zu  ea  nachzuweisen  wäre. 

Bei  darstellung  der  cousonanten  schliesst  sich  an  diejenige  der  einzelnen  ge- 
räuschlaute eine  sehr  eingehende  behaudluug  der  lautverschiebung  au.  Zumeist 
liandelt  es  sich  dabei  um  eine  mit  grosser  bestimthcit  und  geuauigkeit  diu'chgeführte 
auseinandersetzung  mit  der  Schreibung  der  denkmäler.  Doch  zeigt  sich  dabei  wider 
aufs  neue,  wie  verwickelt  die  Sachlage  ist,  besonders  bei  ph,  eh.  Aber  auch  für  die 
sachliche  fassung,  welche  man  im  grossen  mid  ganzen  als  feststehend  anzusehen 
jiflegt,  führt  die  Untersuchung  desverf.  noch  zu  mehrfachen  genaueren  bestimmungen. 
Es  ergibt  sich  z.  b. ,  dass  germ.  dentaler  reibelaut  schon  um  die  wende  des  7.  und 
8.  jh's.  zum  verschlusslaut  wurde,  dass  dieser  leztere  stumm  war,  da  <  mit  rf  wechselt, 
und  dass  die  auftretenden  th  nicht  letzte  spuren  oder  graphische  fortsetzung  des  alten 
reibelautes  sind,  sondern  erst  jünger  und  gleichwertig  mit ^.  Die  aufstellung  Kögels, 
dass  ausl.  fortis  explos.  zunächst  affricata  wurde,  hat  verf.  in  der  hauptsache 
abgewiesen.  Im  gebiet  der  Sonorlaute  wäre  §  181,  2  wider  über  das  eindringen  von 
ff  nach  z  bez.  cons.  -j-  ^  bestimtere  angäbe  zu  machen  gewesen. 

Ein  anhang  behandelt  in  guter  spraehe  und  von  gemässigtem  Standpunkte  aus 
die  geschichte  der  Schriftsprache.  Hier  werden  selbst  strengere  Verfechter  einer  mhd. 
Schriftsprache  ein  gut  stück  mit  dem  verf.  gehen  können.  Zur  trennung  wird  es 
kommen,  wo  er  die  reinheit  der  i'eime  der  mhd.  classiker  betont;  wo  er  darülier  weg- 
geht, dass  nach  H.  Fischers  nachweis  Rugge  saelekeit  :  freit  reimt;  wo  Hartmann 
definitiv  ausserhalb  Schwabens  im  engeren  sinne  lokalisiert  werden  soll.  Beim  buch- 
druck  weist  verf.  mit  recht  auch  auf  die  frage  nach  der  heimat  der  druckenden 
gesellen  und  auf  die  bedeutung  der  messen  hin.  In  betreff  der  nachlutherischen 
drucke  kann  er  sagen,  dass  er  über  umfänglicheres  material  verfügte,  als  seine  Vor- 
gänger. 

Als  abschluss  sind  die  textpi'oben,  beginnend  mit  einei'  solchen  aus  demL^>.  jh. 
und  herabgehend  auf  die  heutige  mundart,  von  wert. 

TÜBINGEN.  K.    BOHNENBERGER. 


Zur    entstehungsgeschichte    des    Evangelienbuches    von    Otfrid    I.      Von 
L.  Tescli.     Grcifswald,  diss.  1890.     60  s. 

Der  Verfasser  sucht  die  entstehungszeit  der  einzelnen  kapitel  des  Otfridischen 
Werkes  zu  bestimmen.  Als  kriterien  für  frühe  abfassung  gelten  ihm  (s.  57) :  häufiges 
auftreten  des  part.  praes.  mit  sin,  häufige  nachstelluug  des  attributiven  adjcctivs, 
alliteration ,  widerholtes  fehlen  der  Senkungen  (leider  ist  die  crörterung  dieser  beiden 
metrischen  fragen  nicht  mit  abgedruckt!),  Vermeidung  fremder  eigennamen,  benutzung 
der  evangelien  ohne  commcntar,  gliederung  in  strophen  von  je  4  langzeilcn,  abrun- 
dung  der  einzelnen  kapitel  zu  selbständigen  liedern  ohne  anknüpfung  an  das  vorher- 
gehende und  an  das  folgende.  Dem  resultate  (s.  42  fgg.),  dass  aus  dem  ersten  buche 
namentlicli  die  kapitel  4.  ö".  ü.  7.  9.  10.  11*.  12 -f  13.  17*.  23*.  25*  zu  den 
ältesten  bostandteilon  des  evangelienbuches  gehören,  kann  man  zustimmen;  die  aus- 
scheidungen  späterer  zusätze,  welche  Tcsch  aus  den  nüt  *  bezeichneten  unter  diesen 
kapiteln  versucht,  beruhen  aber  doch  auf  subjectiver  Vermutung,  deren  Wahrschein- 
lichkeit  von   der  stärke   der   bcwciskraft  abhängt,   die   man  den  von   Tesch  in  jedem 


KKUMAXN.     fnKK    TKsCJl  .     i:NTSTK!irN(iSil  l-XIl.     \<V>    KVANIi.   Ill  rilK>    VOX    MTl'RHi.  121 

falle  vorgebrachten  ,i;ründoii  /AigestcJion  wird,  rhcv  die  i^licilcruiii;'  in  ali^cluiitti'  von 
je  4  laugverscn  z.  1).  urteilt  Tcscli  zwar  unisiclitigor  und  l)csonuonor.  als  Olsen  in 
seinem  aufsatze  Z.  d.  f.  a.  31 .  l'OS  fi;. ;  aber  er  geht  doch  vielleicht  zu  weit,  wenn  er 
anninit,  ein  an  den  nieisti'n  stelh'ii  vierzeiligc  abrundung  zeigendes  kajütel  müsse 
eine  sdlciic  an  allen  stt-llcn  ursprünglitdi  gehallt  haben.  Kr  vermutet  aus  diesem 
gründe  z.  b.  hinter  den  verscn  1,-1,9.10  ausl'all  (idtsr  s|);itere  absichtliehe  auslassung 
zweier  alten  vers«;  (für  I,  4,  (i.'>.  (34  und  GO.  70  si'heint  er  keine  Störungen  d(>s  vi(U'zei- 
ligen  al)schlusses  anzuerkennen),  und  hält  anderseits  aus  demselben  gründe  !,:"),  21.122 
für  später  zugesetzt,  zu  einer  zeit,  in  widedier  Otfrid  die  vierzeilige  alirumlung  nicht 
mehr  erstrebt  hal)C.  Ich  habe  mir  die  sache  immer  so  gedacht,  dass  Otfrid  vier- 
zeilige (in  anderen  lallen  sechszeilige)  gliederung  zwar  oft  erstnjbt  und  in  manchen 
kapiteln  auch  ausuahmides  dureligefUhrt  hat,  dass  er  sie  alier  zu  keiner  zeit  für  unbe- 
dingt oi'ford(n'lich  hielt,  und  dass  er  also  auch  2  in  sich  abgcschlusscm^  langvorso 
zwis(;ben  vierzeiligen  (oder  sechszciligen)  gruppen  stehen  lassen  konte,  wc!ni  ihm 
keine  passende  erweiteruug  oder  füUung  einüel.  Ausscrlich  bezeichnet  ist  ja  (abgesehen 
von  den  fällen,  in  denen  ein  refrain'  in  gleichen  abständen  auch  dem  äuge  auffal- 
len muste)  d'w  vier-  oder  sechszeilige  gliederung  in  keinem  falle  in  den  handscliriftcn. 

Übrigens  hat  die  frühe  abfassung  der  bisher  genanten  ka[utel  des  i'rsten  bnches, 
mögen  sie  nun  zum  teil  spätere  Überarbeitung  erfahren  halicn  oder  nicht,  l)ishcr  wohl 
niemand  bezweifelt. 

In  der  annähme  siiäterer  abfassung  für  1,  '.i  und  I,  27  stimme  ich  Tesch  (s.  'u) 
liei.  Inwieweit  er  für  die  einreihuiig  der  ülnigon  teile  des  evangelienbuehes  in  die 
flrei  jterioden  der  entstehungszeit,  die  er  s.  öS  f.  charakterisiert,  bestimte  uml  wahr- 
scheiuliche  neue  resultate  gewonnen  hat,  ist  aus  dem  bisher  veröffentlichten  teile  der 
arbeit  noch  nicht  ersichtlich.  Mit  anerkennenswerter  ofl'enheit  gibt  er  zu,  dass  aus 
der  s.  29  fgg.  angestelten  untersuehimg  über  „volkstümliches  im  evangelionbuch"  sich 
keine  residtate  nach  dieser  riehtung  gewinnen  lassen;  liestrebungen  dieser  art  treten 
in  jüngeren  wie  in  Jüteren  bestandteilen  gleich  stark  hervor.  Die  Verwendung  seltener 
Worte  oder  abweichender  wortformen  (wie  z.  b.  hirinncs  nur  11,  0,  57  statt  des  sonst 
stets  gebrauchten  hirun,  zugleich  der  einzige  fall  einer  form  auf  -;;/r«  ohne  adhorta- 
tive  bedeutuDg;  gebrauch  des  inf.  wcsan  oder  shi;  2.  sg.  auf  -.y  oder  auf  -.s7)  hat  er 
nicht  für  die  zwecke  seiner  arbeit  verwendet.  Ich  liillige  diese  enthaltsamkeit ;  deim 
liei  der  anzunehmenden  formellen  Überarbeitung  des  ganzen  Werkes,  deren  leztes  Sta- 
dium in  den  correcturen  und  Zusätzen  der  haudschrift  V  uns  noch  vor  äugen  liegt, 
dürfte  es  sehr  bedenklich  sein,  aus  derartigen  differenzen  Schlüsse  auf  die  abfassungs- 
zeit  der  einzelneu  teile  zu  machen.  Zu  s.  19  liemerke  ich,  dass  der  uannj  Jesus  nie 
in  fremder  form  vorkomt,  weil  //ci7«/<<  als  entsprechende  Übersetzung  galt,  vgl.  0.1,8,27 
nach  Mt.  1,  21  und  <).  1,  14,  4  nach  Luc.  2,  21;  auch  im  Tatian  steht  an  den  entspre- 
chenden stellen  5,8.  7,  1  (und  ebenso  3,4)  das  deutsche  wort,  und  nur  später  ist  ein- 
mal 82,  8  Jliesus  in  den  text  gesezt  (fehlt  bei  Sievers  im  namensverzeichnis).  — 
Durchaus  unbegründet  ist  die  Vermutung  (s.  51  note),  dass  die  ka[iitelüberschriften  und 
marginalien  nicht  von  Otfrid  selbst  herrühren  sollen.  Der  corrector  der  haiulsehrift  V 
hat   sie  ebenso  durchgesehen  und  stellenweise  ergänzt,    wie  den  deutschen  text. 

Die  Widmung  an  könig  Ludwig  Ijczieht  sich  offeidiar  auf  das  ganze  volli-ndete  werk 
Otfriils;   gilt  dassell)e   auch   von  den  beiden  Zuschriften  an  Salomo  von  Konstanz  und 

1)  Ich  wüiilo  lionii  (Ir.  Tesch  ilaiikbar  yowoscn  sohl,  wenn  er  dio  lio-rüniluiiv,  ^eincr  zwoilou  thoso 
,,Erilmaiiiis  ansichten  über  dio  Verwendung  dos  refrains  in  OtlVids  ovangelienbucli  sind  nicht  cünsei|iient " 
mii-  freundlichst  mitgeteilt  hätte. 


122  BERGER 

an  die  St.  Galler  raönche,  oder  begleiteten  diese  zunächst  niu-  einzelne  teile  des  noch 
nicht  vollendeten  Werkes  V  Die  erste  meinung  wurde  von  Olsen  (Z.  f.  d.  a.  29,343) 
ausgesprochen,  die  zweite  vorficht  jezt  Tesch  in  der  ersten  these  seiner  dissertation. 
Mir  ist  bei  der  Zuschrift  an  Salomo  die  zweite,  bei  der  an  Ilartni.  und  "Werinbert  die 
erste  annähme  Avahrschoinlicher;  aber  volle  Sicherheit  darüber  wird  man  kaum  ge- 
winnen können  —  es  sei  denn,  dass  ein  beweisendes  äusseres  zeuguis  aufgefunden 
werden  solte,  wie  etwa  eine  neue  Otfridhandschrift,  die  niu-  einen  bestirnten  teil  des 
Werkes  mit  nur  einer  widmuug  enthielte. 

Ich  komme  bei  dieser  gelegenheit  auf  eine  von  mir  schon  öfters  benuzte  ana- 
logie  zurück.  Für  Klopstocks  Messias  kenneu  wir  ja  das  jähr,  in  welchem  jeder 
gesang  zuerst  erschien';  wir  wissen  ausserdem  durch  äussere  Zeugnisse,  dass  die  rei- 
henfolge  der  abfassuug  nicht  immer  mit  der  der  Veröffentlichung  übereinstimt,  dass 
z.  b.  lange  stücke  aus  dem  1773  zuerst  gedruckten  XVIII.  und  XIX.  gesauge 
schon  zwischen  1748  — 1752  abgefast  sind  (vgl.  R.  Hamel,  Klopstockstudien  3,  56  und 
desselben  commentar  in  der  ausgäbe  DNL.  46).  Würde  wol  jemand  ohne  die  äus- 
seren Zeugnisse  diese  stücke  (für  die  zum  teil  auch  mehrfache  Überarbeitung  bezeugt 
ist)  aus  inneren  gründen  mit  Sicherheit  als  ältere  bestandteilo  erkant  haben?  Schwer- 
lich! Und  deshalb  wird  man  sich  auch  hüten  müssen,  den  resultaten,  welche  herr 
Tesch  aus  seinen  beobachtungen  mit  anerkennenswertem  fleisse  und  Scharfsinn  gewon- 
nen hat,  mehr  als  einen  gewissen  grad  von  Wahrscheinlichkeit  zuzuerkennen. 

KIEL.  0.    ERDMANN. 


Zur  Waffen-  und  schiffskunde  des  deutschen  mittelalters  bis  um  das 
jähr  1200.  Eine  kulturgeschichtliche  Untersuchung  auf  grund  der  ältesten  deut- 
schen volkstümlichen  und  geistlichen  dichtungen.  Von  Heinrich  Schröder.  Kiel, 
Lipsius  &  Tischer.     1890.     46  s.     1,50  m. 

Der  Verfasser  der  vorliegenden  schrift,  einer  Kieler  dissertation,  hat  sich  ohne 
zweifei  eine  dankbare  aufgäbe  gestelt.  „Eine  kulturgeschichtliche  Untersuchung"  nent 
er  sie  gewiss  nicht  mit  unrecht;  man  muss  dabei  nur  im  äuge  behalten,  dass  die 
realienkunde ,  um  die  es  sich  hier  handelt,  zwar  ein  unentbehrlicher  teil  der  kultur- 
geschichte  ist,  sich  aber  keineswegs  mit  ihr  deckt,  wie  es  nach  einem  leider  noch 
nicht  ausgestorbenen  lässigen  sprachgebrauche  den  anschein  hat.  Der  realienkunde 
des  deutschen  mittelalters  ist  bisher  weit  mehr  der  eifer  von  archäologen,  kunsthisto- 
rikern,  kriegsschriftsteUern,  geistlichen  und  mancherlei  dilettanten,  als  von  eigent- 
lichen pliilologen  zu  gute  gekommen;  die  schriftliche  Überlieferung  ist  dabei  über  ge- 
bühr vernachlässigt  und  weder  stofflich  erschöpft,  noch  überhaupt  streng  methodisch 
verwertet  worden.  Die  schwierige  aufgäbe,  mit  einer  volständigcn  beherschung  des 
erhaltenen  anschauungsmaterials  die  alseitige  durchforschung  der  mittelalterlichen  Ur- 
kunden, geschichts Schreiber  und  prediger  zu  verbinden,  beides  gegen  einander  zu 
halten,  zu  vergleichen  und  daraus  die  geschichtlichen  Wandlungen  zu  entwickeln,  ist 
nach  wie  vor  ungelöst. 

Für  die  waffenkunde  hat  bekautlich  San  Marte  einen  derartigen  versuch  ge- 
macht: er  hat  die  schriftlichen  berichte  fleissig  excerpiert  und  auf  gräberfundo  und 
abbildungen  vielfach  rücksicht  genommen;  nur  leider  völlig  kritiklos,  so  dass  sein 
buch  nicht  mehr  geworden  ist,  als  ein  übersichtlicher  katalog,  in  dem  es  eine  ent- 
wicklung  überhaupt  nicht  gibt,  aber  belegstellen  etwa  aus  dem  Beowulf  oder  Euod- 
lieb   mit  solchen  aus  dem  Wigalois  oder  Lohengrin  friedliche  nachbarschaft  halten. 


i'liEK    .^rilRÜDEi;.     ZUK     WAFFEN-     UNU    SCilirFMCUMlE  123 

In  einem  begrenzten  Zeiträume,  von  ]]')()  — 1;50(\  übcriialun  das  verdienstliclie,  aber 
sehr  überschäzte  werk  v(in  Alwin  Sdiultz  diesell)i'  leistuni;-:  eine  reichiialtige  mato- 
rialsamlung,  sehr  ileissig,  aber  sehr  iiusserlich  angeordnet,  ohne  wirklieh  liistorische 
gesichtspuukto.  Die  frage,  wie,  woher  und  seit  wann  die  hijfisclie  liildung  almählioh 
vordrang,  wie  sie  sidi  naeh  und  narli  niii  der  i'irdii.>iniisch('n  auseinandersezti.',  wie- 
viel sie  von  dieser  autnahin.  umbildete,  verdrängte,  bekämpitc!  usw..  wiitl  in  diesi;ni 
werke  gar  ni(>.ht  aufgewurtcn ;  niclit  nur  l)erichto,  welehe  etwa  hundert  jahi'i'  ausoin- 
anderliegen,  aueh  Iranzösisehe  luid  deutsehe  quellen  werden  zi('ndieh  sorglos  kom))i- 
niert,  und  vielfaeh  werden  ganz  vcu'einzelte  belege  dun-li  ein  voreiliges  „gewiihnlieh", 
,,geru''  oder  dgl.  fälsehlieh  veralgcmeiniM't. 

Schröder  geht  von  der  riehtigen  l'orderung  aus,  dass  „die  versehiedenlieiti'n 
naeh  ort  und  zeit''  sorgfältiger  beaehtet  werden  müssen.  Nach  dem  titel  seiner  sehi'ift 
hat  er  sich  das  Jahr  1200  als  grenze  gcsezt  und  fügt  hinzu:  „eine  kulturgeschichtliche 
Untersuchung  auf  gi'und  der  ältesten  deutschen  volkstümlichen  und  geistliehen  dich- 
tungen".  Leider  führt  dieser  titel  irre,  denn  auf  s.  5  erfährt  man,  dass  noch  eine 
besehräukuug  nach  rückwärts  hinzutritt:  es  handelt  sich  keineswegs  um  die  „ältesten 
deutschen  volkstümlichen  und  geistlichen  dichtungen'-  —  also  nicht  etwa  um  die 
reiche  ausbeute  aus  Ilildebrandslied,  lleliand,  Otfrid,  Waltharius  usw.  — ,  sondern 
lediglich  um  „die  zeit  von  ca.  1100  (Exodus)  bis  ca.  1217  (Kudrun)'',  uml  aus  dieser 
zeit  nur  um  „deukmäler,  die  noch  keinen  französischen  einiluss  zeigen".  Das  hätte 
schon  im  titel  angedeutet  werden  sollen. 

Schröders  arbeit  fusst  auf  neun  gedichten:  Rother,  Morolf,  Brendel,  Nibelimgen, 
Kudrun,  Anuolied,  Kaiserchrouik ,  Exodus,  jüngere  Judith.  Warum  die  gedichte  von 
Oswald  und  herzog  Ernst  nicht  bcnuzt  sind,  hätte  wenigstens  gesagt  werden  müssen. 
„Das  Rolaudslied  und  das  Alexanderlied  musten,  weil  auf  französischer  quelle  be- 
ruhend, ausgeschlossen  werden."  Daraus  ergibt  sich  die  wunderliche  tatsache,  dass 
nach  annähme  des  Verfassers  die  begriffe  „auf  französischer  quelle  beruhend"  und 
„französischen  einiluss  zeigend'*  dasselbe  besagen;  denn  die  genanten  neun  gedichte 
haben  keine  französischen  (|uelleu,  folglich  • —  so  scheint  er  zu  schliessen  —  zeigen 
sie  auch  keinen  französischen  einiluss.  Glaubt  denn  aber  der  Verfasser  wirklich,  dass 
es  nur  einen  „einiluss"  von  buch  zu  buch,  dass  es  nicht  andere  und  viel  wichtigere 
wege  der  culturübertragung  gibt?  weiss  er  nicht,  dass  der  französische  eiutluss  in  der 
geschichte  uusrer  bildung  schon  mit  dem  11.  Jahrhundert  ganz  deutlich  wird  und  eine 
erschciuung  wie  der  „Kuodlicb"  ohne  die  Voraussetzung  einer  aus  Frankreich  immer 
entschiedener  herüberwirkendeu  ritterlichen  cultur  nicht  zu  verstehen  ist?  Und  wenn 
Schröder  nur  den  wortsidiatz  seiner  neun  gedichte  ansah,  so  sprachen  doch  schon  aus- 
drücke wie  hi'iitff,  hantasch,  pan\icr,  ijnhUut,  l-Drertiurf  usw.  unzweideutig  genug 
für  „franzi  isischen  einiluss " ! 

Mag  man  übrigens  dem  Verfasser  immerhin,  ganz  abgesehen  von  seiner  Ijcgi'ün- 
dung,  eine  solche  einschränkung  seines  themas  zugeben,  so  hätte  er  sich  doch  jedes- 
falls  nicht  begnügen  sollen,  das  rohmaterial  einfach  vorzulegen,  damit  sich  jeder,  so 
gut  es  geht,  selbst  damit  abfinde:  er  hätte  es  vielmehr  für  seine  pflicht  halten  müssen, 
dem  leser  auch  den  Standpunkt  zu  bezeichnen,  von  welchem  er  das  material  zu  be- 
urteilen habe.  Er  hätte  liei  jedem  caiiitel  über  alter,  gestalt.  vi/rwendung,  liozeich- 
nung,  bearbeitung  usw.  der  einzelnen  waffeu  einige  kui'zeu  historischen  andeutuugen 
geben  müssen  und  dann  erst  die  frage  aufwerfen  sollen:  wie  stellen  sich  diese  neun 
gedichte  dazu?  wieweit  stimmen  ihre  angaben  zu  den  verhiütnissen  der  voraufliegen- 
den zeit"?  wo  weichen   sie   von   diesen  al)V   und  wie  sind  diese  abweichuniren  zu  er- 


124  BERG ER 

klären V  Mit hilfe  der  bekanten  werke  von  Liudeuschmitt,  Max  Jahns,  v.Peucker, 
Demmin  usw.  wäi'e  das  auch  für  einen  aufiinger  nicht  zu  schwer  gewesen.  Aber 
freilich  scheinen  alle  diese  vorarbeiten  dem  Verfasser  nicht  bekant  geworden  zu  sein: 
nach  s.  6  sind  jene  neun  gedichte,  die  genanten  werke  von  Alwin  Schultz  und 
San  Marte,  Pfeiffer's  abhandlung  über  das  ross  im  altdeutschen  und  zwei  arbeiten 
von  Jänicke  sein  ganzes  rüstzeug.  AVenigsteus  noch  das  in  seiner  art  ausgezeichnete 
werk  von  G.Köhler  „Die  entwicklung  des  kriegswesens  und  der  kriegführung  in  der 
ritterzeit"  hätte  er  einsehen  müssen.  Er  hätte  beispielsweise  daraus  lernen  können, 
dass  die  halsberge  ursprünglich  nichts  war  als  ein  halsband  (monilia),  eine  Verbesse- 
rung der  römischen  rüstung.  welche  zwischen  heim  und  panzer  den  hals  noch  unbe- 
schirmt Hess;  dass  die  halsberge  spätestens  seit  813  hinten  am  heim  befestigt,  später 
von  einer  unter  dem  heim  befindlichen  kapuze  getragen  wurde  und  über  die  brünne 
hinübergriff,  von  der  sie  bis  etwa  1150  als  besonderes  waffenstück  völlig  getrent  war. 
Als  dann  im  12.  Jahrhundert  halsberge  und  brünne,  beide  aus  kettengeflecht  hergestelt, 
fest  mit  einander  verbunden  wurden,  gieng  der  ausdruck  li aisberge  auf  die  ganze 
rüstung  über;  wo  sich  dann  halsborgc  und  brünne  aufs  neue  trenten,  ergab  sich  die 
sonderbare  begriffsverschiebung ,  dass  man  die  brünne  vorzugsweise  als  halsberge 
bezeichnete.  Hätte  der  Verfasser  seine  quellen  nicht  mit  ganz  anderen  äugen  ansehen 
müssen,  wenn  er  diese  und  andere  ausführungen  gekaut  hätte?  Die  genaue  diu'ch- 
forschung  eines  eng  abgegrenzten  gebietes  einer  eutwickluugsreihe  hat  doch  nur  einen 
sinn,  wenn  man  von  der  ganzen  reihe  eine  anschauung  hat;  sonst  muss  man  im 
einzelnen  notwendig  irren.  "Wer  die  ergebnisse  der  Schröderschen  Untersuchung  an- 
sieht, wie  sie  auf  s.  45  zusammengestelt  sind,  der  bemerkt  alsbald,  dass  den  Verfasser 
genau  derselbe  Vorwurf  triff,  wie  Alwin  Schultz:  falsche  veralgemeinerung  einzelner 
Zeugnisse.  Wir  wissen  doch  ganz  bestimt,  dass  in  der  bewaffnung  des  mittelalters 
beständig  sich  Wandlungen  volzogen  haben,  dass  man  nicht  einmal  in  einem  einzigen 
beliebigen  Zeitpunkte  die  rüstungen,  etwa  wie  unsere  uniformen,  als  etwas  wesentlich 
gleichartiges  beurteilen  darf.  Vielmehr  bestand  nachweishch  neben  einander  eine  aus- 
serordentliche mannigfaltigkeit  der  ausrüstung.  Auch  auf  diesem  gebiete  hatte  die  mode 
ihre  geltung;  aber  an  allen  ihren  neuerungen  konten  sich  eben  die  wenigsten  betei- 
ligen, weil  das  sehr  kostspielig  war.  Deshalb  fristete  sich  manches  alte  fort;  neues 
wurde  hier  und  da  aufgenommen;  einzelne  stücke,  erst  kleinere,  dann  grössere,  altes 
und  neues  wurde  neben  einander  gebraucht,  mit  einander  vermittelt;  jeder  suchte 
almählich  dem  andern  nachzukommen  usw.  Daraus  ergab  sich  eine  grosse  Schwierig- 
keit für  den  Sprachgebrauch,  und  die  vorhandenen  technischen  bezeichnungon  wurden 
keineswegs  überall  in  dem  gleichen  sinne  gebraucht. 

Was  soll  man  nun  unter  solchen  umständen  mit  einem  ^resultat"  wie  diesem 
machen:  y^Aas panzier  war,  wenigstens  in  uascrer  pcriodo  noch,  aus  ringen  gefertigt" V 
Diese  beliauptung  stüzt  sich  auf  eine  einzige  belegstelle:  ein  guot  panxier,  die  ringe 
wären  toix,  und  cluog  Morolf  361.  Woher  weiss  denn  aber  der  Verfasser,  was  seine 
quellen  zufällig  verschweigen?  konten  nicht  neben  den  riugpanzieren  auch  platten- 
panzierc  bestehen?  Wenigstens  \\issen  wir,  dass  brusti)latten  schon  am  ende  des 
12.  Jahrhunderts  vorkommen  (Köhler  III,  1,  41).  Wenn  Schröder  ferner  erklärt,  „das 
panzicr  wurde  auch  von  ritteru  getragen",  so  wurde  ja  das  von  A.  Schultz  durcli- 
aus  nicht  bestritten,  der  nur  angab  „weniger  von  den  rittern  als  von  den  leichtbe- 
waffneten" (Eöf.  leb.  IP,  49).  Ein  drittes  „resultat"  lautet:  y,sehiUve%%el  ist  nicht 
der  riemen  zum  tragen  des  Schildes,  sondern  der  fass-,  griffriemen".  Dem  sind  doch 
aus  des  Verfassers  eignem  material  entgegenzuhalten  Nib.  415,  wo  Brüuhikls  schild- 


f'BEK    Sl'lIRÖllER,    '/AM    \V.\KKEN-    UN'Ii    SCHIFFSKUN'DE  125 

fessel  ein  edel  borte  geuaat  wird,  dar  üf  Ulyeu  steine  yrüene  ahani  ein  (jras]  1959 
man  n/iios  in  hi  dem  vex%el  wider  xichen  dan;  1505,  wo  Ilageu  mit  oiiiem  schild- 
fossel  ein  schiff  aul)iudet.  Diese  Iczte  stelle  hat  der  Verfasser  übersehen,  wie  seine 
samluugeu  überhaupt  nicht  volständig  sind.  An  jenen  drei  stellen  —  und  an  zahl- 
reichen anderen  im  sonstigen  rahd.  —  ist  ganz  zweifellos  überall  der  lange  umhänge- 
rienien  gemeint,  an  dem  der  schild  um  den  hals  getragen  wurde  (sonst  auch  schilt- 
riemc  genannt),  nicht  aber  der  kurze  griffriemen,  durch  den  man  hand  und  arm 
steckte.  Wie  komt  also  Schröder  zu  seiner  zuversichtlichen  bohauptung,  dass  schilt- 
re'Kxel  den  griffriemen  bedeute?  Lediglich  auf  eine  einzige  stelle  hin,  Nib.  1875,  wo 
Dankwart  sich  zum  losschlagen  bereit  macht:  den  schilt  niete  er  hoher,  den  rex/xel 
nider  bax.  Hier  sei,  meint  der  Verfasser,  der  griffriemen  gemeint,  „der  sonach  be- 
weglich sein  musste"  (s.  18).  Ich  möchte  wol  wissen,  wie  sich  der  Verfasser  das  vor- 
gestelt  hat.  Das  hochrückeu  des  Schildes,  ein  typischer  ausdruck  für  die  bereitschaft 
zum  angriff,  geschieht  durch  emi)orheben  des  durch  die  griffiiemen  gesteckten  armes; 
wie  soll  es  also  jemand  fortig  bringen,  den  schild  emporzurücken  und  zugleich  die 
griffriemen ,  durch  die  das  eben  ermöglicht  wird ,  herunterzuziehen  V  und  welcher  Wider- 
sinn, von  einem  beweglichen  griffriemen  zu  reden  —  wie  hätte  man  dann  über- 
haupt den  schild  fest  fassen  können?  Da  bei  dem  vezzcl  an  der  angeführten  stelle 
an  den  schwertfessel  wol  auch  nicht  zu  denken  ist,  so  bleibt  nur  eine  erklärang  übrig, 
die  schon  v.d.  Hagen  angedeutet  hat:  der  schildrexxel,  d.h.  der  tragriemen,  musste 
beim  hochrücken  des  Schildes  notwendig  am  halse  schlottern;  um  das  zu  vermeiden 
und  ihn  wider  straff  zu  machen ,  knüpfte  man  das  eine  seiner  enden  am  oberen  schild- 
rande  ab  und  befestigte  es  an  einem  weiter  unten,  am  seitenrande,  angebrachten  ringe 
oder  haken.  Ich  weiss  augenblicklich  nicht,  ob  für  eine  solche  auffassung  noch  andere 
belege  vorhanden  sind;  füi'  unsern  fall  scheint  sie  mir  die  einzig  mögliche.  Es  ist 
übrigens  nicht  unwahrscheinlich,  dass  irgend  einmal  dem  sehiltrieme ^  dem  tragriemen, 
der  schildvexxel  als  das  armgestelle  oder  der  riemen  zum  fassen  des  Schildes  gegen- 
über gestanden  hat;  nur  hielt  sich  der  Sprachgebrauch  an  diese  norm  durchaus  nicht. 
Ganz  ähnlich  steht  es  mit  der  kovertiure.  Der  Verfasser  erklärt:  „Die  kovertiure 
konte  sowol  von  eisen  als  von  zeug  sein;  sie  unterscheidet  sich  nur  durch  ihren  grös- 
seren umfang  von  den  älteren  pferdedeckeu."  Damit  glaubt  er  die  sache  entschieden 
zu  haben,  denn  bisher  waren  „über  die  bedeutung  des  wertes  kovertiure  sich  die  ge- 
lehrten nicht  einig"  (s.  37)  —  weil  eben  der  Sprachgebrauch  kein  einheitlicher  war! 
Aus  Köhlers  buche  hätte  Schröder  entnehmen  können,  dass  die  panzerdecke  (etwa 
seit  der  mitte  des  12.  jahrhundeiis)  das  frühere  war,  zu  dem  die  zierdecke  erst  später 
hinzutrat,  wodurch  das  wori  korert iure  eine  doppelte  bedeutung  gewann.  Zu  der  an- 
nähme, dass  unter  kovertiure  „die  grosse  bis  zu  den  füssen  herabhängende  decke"  zu 
verstehen  sei,  hat  den  Verfasser  widerum  eine  einzelne  stelle  geführt:  tvax  man  guoter 
decke  und  kovertiure  vant  Kudr.  1148,  2;  da  der  hier  bezeugte  unterschied  nicht  im 
material  liegen  könne,  so  müsse  er  in  der  form  liegen  (s.  37  f.).  Aber  es  handelt  sich 
hier  um  gar  keinen  unterschied,  vielmehr  sind  solche  doppelungen  von  synonymen 
im  Mhd.  gar  nichts  seltenes;  auch  Martin  fasst  die  beiden  ausdrücke  an  dieser  stelle 
als  gleichbedeutend  auf.  Noch  einmal  begegnet  es  dann  dem  Verfasser,  dass  er  aus 
seinem  beschränkten  material  einen  zu  vorschnellen  schluss  zieht:  ^ruoder  wii'd  mhd. 
noch  nicht  in  der  bedeutung  , Steuer'  gebraucht",  und  nach  s.  43  zwingen  auch  die 
von  Lexer  gegebenen  belege  zur  annähme  dieser  bedeutung  nicht.  Von  der  Verbindung 
dax  rnoder  nach  dem  nnnde  wenden  (Koloczaer  codex  182,  938)  möchte  ich  das  aber 


126  BERG ER 

doch  bestirnt  beliaiipteu ;  uud  eutscbtudend  ist,  dass  (jubeniaciiluiii  mit  ruoder  glos- 
siert wird  (Diefenbacb  gloss.  270*^). 

In  drei  punkten  wendet  sich  Schröder  gegen  frühere  ausführungen  von  mir. 
"Wenn  er  den  von  mir  gelegentlich  erwähnten  bedeutungswandel  von  rant  (ursprüngl. 
=  Schildbuckel,  media  pars  clij)ei;  dann  =  margo)  auf  s.  16  einfach  für  „gegen- 
standslos" erkläi't,  so  weiss  er  eben  nicht,  hätte  sich  aber  zuvor  darüber  belehren 
müssen,  dass  rant  zunächst,  genau  dem  lateinischen  timbo  (vgl.  griech.  (ijußbjv,  o/tKiukog) 
entsprechend,  die  erhöh ung  auf  der  mitte  des  Schildes,  welche  auch  zum  stossen 
benuzt  wurde,  bezeichnete,  dann  erst  den  schild  überhaupt,  schliesslich  nur  die  ein- 
fassung  des  Schildes,  woraus  sich  die  endgiltige  bedeutung  entwickelte;  den  anlass 
der  bedeutungsverschiebung  dürfte  das  eintreten  des  auf  lat.  bucciila,  afrz.  boele  zu- 
rückgehenden buclcel  in  die  iirsprüngliche  function  jenes  wertes  gegeben  haben.  Ein 
rest  der  alten  bedeutung  ist  vielleicht  noch  heute  vorhanden,  ich  meine  das  zuge- 
hörige ramft  oder  (jüngere)  ranft^  welches  noch  gegenwärtig  im  obersächsischen  und 
vielleicht  auch  anderwärts  nicht  etwa  die  rinde  am  brote  bedeutet,  sondern  vielmehr 
das  scharf  gebackene  ende  oder  gewissermassen  den  buckel  vom  brot,  welchen  man 
sonst  auch  knust  oder  knollen  usw.  nennt.  Beachtenswert  ist  übrigens  in  diesem 
zusammenhange,  dass  diesem  ranft  am  brote  im  niederdeutschen  der  kanten  ent- 
spricht; es  ist  nämlich  sehr  wahrscheinlich,  dass  bei  dem  woiie  kante  eine  ganz  ähn- 
liche bedeutungsent Wicklung  wie  bei  rand  vorliegt.  Mhd.  ist  es  bekantlich  noch  iu 
dem  sinne  von  „schildrand"  bezeugt,  als  eigentliche  bedeutung  komt  ihm  aber  offen- 
bar zu:  „spitze,  ecke  oder  buckel"  (vgl.  afrz.  cant  =  ecke,  dann  winkel,  dazu  die 
Weiterbildung  canton,  cantone  =  eine  ecke  landes,  kantig  =  mit  scharfen  ecken 
versehen,  Brüsseler  kanten  =  spitzen,  von  der  zackigen  form,  besonders  aber  das 
erwähnte  nd.  kanten  =  buckel  am  brot;  auch  die  seekante  meint  zunächst  nicht 
den  Strand  überhaupt,  sondern  die  felsig  vorspringende  küste).  Auch  hier  also  ein 
ganz  entsprechender  bedeutungswandel  von  dem  begriff  „ecke,  vorspringende  spitze, 
buckel"  bis  zum  „säum"  (vgl.  nhd.  kante  als  säum  am  tuch  oder  linnen,  an  der  ta- 
pete  als  einfassung,  ebenso  an  blumenbeeten;  in  Berlin  hört  man  kante  für  den  ge- 
brochenen rand  am  papier,  welcher  beim  schreiben  frei  bleibt).  Ursprungsverwant  ist 
gewiss  kante  (neben  kanne)  als  ursprüngl.  „ausgeschweiftes  gefäss" ;  beide  worte  füli- 
ren  auf  eine  Wurzelsilbe  kan-^  die  etwas  eckig  hervorspringendes  bezeichnen  muste. 
Dies  um-  beiläufig! 

Der  Verfasser  sucht  weiterhin  meine  datierung  des  Orendel  durch  zwei  beden- 
ken anzufechten.  Ich  möchte  keineswegs  alles,  was  ich  in  jenen  vor  vier  jähren  ab- 
geschlossenen untersuch imgeu  mit  der  Zuversicht  des  anfängers  hingestelt  habe,  noch 
heute  verteidigen,  wenn  ich  mich  auch  nach  wie  vor  zu  dem  grundsatze  bekenne, 
dass  unter  so  verwickelten  Verhältnissen  die  entschlossene  durchführung  einer  klarge- 
fassten  ansieht  lehrreicher  ist,  als  die  gewissenhafteste  registrierung  aller  im  wege 
stehenden  Schwierigkeiten.  Vogt  hat  in  dieser  Zeitschrift  (XXII,  484  f.)  u.  a.  mit 
recht  gerügt,  dass  ich  gewissen  kulturgeschichtlichen  kriterien  zu  wenig  achtung  ge- 
schenkt hatte.  Auf  seine  anregung  gehen  wol  auch  Schröders  einwände  zurück,  dass 
die  ausführliche  scliilderung  der  hehnzimiere  (v.  1222  — 1260)  und  die  erwähnung  der 
bis  auf  den  boden  reichenden  zierdeckc  des  elephanten  (v.  1202)  auf  eine  spätere  ent- 
stehungszeit  des  gedichtes  als  1160  deuten.  Ich  will  diese  beiden  bedenken  natürlich 
nicht  geradezu  von  der  band  weisen,  möchte  aber  doch  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  die  betreffende  Schilderung  gar  nicht  zwingt,  eine  reiche  ciitwickluug  des  helm- 
zimier  für  jene  zeit  vorauszusetzen:   kunstwerke  mit  musicierenden  vögeln  waren  ja 


ÜnET?    SfllKÖDER,    'AVU    WMTFA"-    INIi    SCUirKSKTNIiK  127 

seit  dem  lü.  jalirliuiukTt  aus  l^yzan/.,  aucli  vnii  den  Ai-alicin  Iht  Itükant  uiul  wiirdcu 
min  von  den  wuiidorsüchtigen  spielUnitvn  (nnihfli  auf  die  vcrscliirdcnstcn  dini^e  über- 
tragen, nicht  nur  auf  den  lielin,  sondern  doeh  aucli  auf  den  sjieer,  wie  in  Virgiual 
oder  ■/..  li.  im  <  ircndel  auch,  auf  i'ingv,  auf  den  scliihJ.  Solche  hlicrtragungen  kouteii 
sich  ganz  von  selbst  volziehen,  ohne  dass  dem  in  der  wirklieidioit  etwas  zu  entspre- 
clieu  brauchte.  Elieuso  steht  es  mit  dem  zweiten  einwände  des  Verfassers.  Die  pan- 
zerung  der  [ifei'de  ist  walirscheinliidi  clienso  aus  (h'Ui  Orient,  von  Persm'n  und  Araliern 
übernommen,  wie  die  sitte,  sie  mit  l'arliigeii  decken  auszusiatten  (Weiss,  Kostüm- 
kunde,  mittelalter  lOf).  '2öC)\  Prutz,  Kulturgeschichte  di'r  kn'uzziige  1S4).  Ol)  diese 
herabhängenden  decken  also  in  Deutschland  um  IIGO  üblich  waren  od(n-  nicht,  ist 
eine  ziemlieh  belanglo.se  frage.  Im  Orient  waren  sie  jedesfalls  vorhanden  und  man 
hatte  sie  dort  gesehen;  das  war  für  einen  siiielmanu  ausreichend,   um  davon  zu  reden. 

Mit  d(>n  übrigen  ivsultaten  seiner  abhandluiig  wird  der  Verfasser  recht  haben. 
„Die  stange  der  i'ieseu  dachte  man  sich  nicht  aus  massivem  stahl  oder  eisen,  sondern 
nur  mit  einem  stahlbeschlage'^  (s.  45).  Dass  sie  sich  z.  b.  auch  Wolfram  von  holz 
mit  metallbesehlag  dachte,  lehrt  Willeli.  19.j,  30f.  318,  27  ff.  41G,  28.  429,  22.  Auch 
der  unterschied  zwischen  boi/e  und  an//f/ritst  ist  auf  s.  28  f.  gmviss  richtig  angegeben, 
gegen  San-Marte  und  Schultz;  zu  s.  29  ist  zu  Itemerkeu,  dass  es  nach  Köhler  (III, 
l,  1J3)  stahlbogen  erst  seit  dem  1.").  jalirJmndert  gegeben  hat.  Die  hemerkung  über 
die  anker  s.  43  giebt  eine  zutreffende  bericlitigung  einer  der  vielen  flüchtigen  behaup- 
tungeu  von  Alwin  Schultz.  Ganz  ohne  ertrag  ist  demnach  die  Untersuchung  nicht 
geblieben. 

Der  Verfasser  hätte  sicli  mehr  dank  verdienen  können,  wenn  er  sein  material 
unter  einen  liistorischen  gesichtsiiunkt  gestellt  und  si(di  nicht  liegnügt  liätte,  aufzu- 
zählen, wo  und  wie  die  einzelnen  ausrüstuugsgegeustände  in  seinen  quollen  erwähnt 
werden,  sondern  den  versuch  gemacht  hätte,  von  der  beziehung  der  einzelnen  teile  zu 
einander,  ihrem  gebrauch  und  ihrer  beschaffenheit  überall  ein  in  sich  zusammenhän- 
gendes, anschauliches  hild  zu  gehen.  Eine  nachlese  der  üliorgangenen  belege  will  ich 
an  dieser  stelle  nicht  geben.  Unter  den  nichtritterlichen  waffen  vernüsse  ich  ein 
capitel  über  die  slüigc  (z.  b.  Kehr.  196,  9)  und  die  gc/'sel  (z.  b.  Nib.  4ü3,  3;  Grendel 
2480).  Zu  Seite  12  verweis?  ich  die  hornrüstuugen  betreffend  auf  Raumer,  Geschichte 
der  Hohenstaufen  V,  500.  Noch  eins  aber  hätte  der  Verfasser  durchführen  sollen, 
wozu  er  ein  paar  mal  einen  ansatz  macht:  ich  meine  die,  soweit  seine  quellen  das 
zuliessen,  erschopfemle  feststellung  des  spracligebrauchs  füi-  jeden  einzelnen  begriff. 
Auf  s.  40  hat  er  für  die  ausdrücke  sc//?'f  und  kiel  die  vorkommenden  beiwörter  auf- 
geführt und  eljenso  s.  10  die  adjectiva,  welche  die  scharfe,  härte,  stärke,  breite  und 
den  glänz  der  Schwerter  bezeichnen.  Er  hätte  das  auch  für  hcliu ,  brünnc  usw.  durch- 
führen und  nicht  nui-  die  beiwörter,  sondern  alle  Wendungen,  in  denen  diese  begriffe 
gebraucht  werden,  sammeln,  klassifizieren  und  erklären  können:  das  wäre  auf  diesem 
bescliräukteu  gebiete  nicht  alzu  mühsam ,  aber  sehr  dankenswert  gewesen.  Mindestens 
Verbindungen,  die  einen  ganz  feststehenden  sinn  haben,  wie  „den  sohild  an  den  hals 
hängen,  über  den  rücken  werfen,  sich  auf  den  schild  lehnen,  den  schild  vor  die  füsse 
stellen"  usw.  hätten  auf  s.  19  nicht  fehlen  dürfen. 

So  lässt  die  Untersuchung  Schröders  mancherlei  zu  wünschen;  dass  sie  in  ihrer 
weise  fleissig,  sauber  und  gewissenhaft  gearbeitet  ist,  wird  man  ihm  mit  den  oben  ge- 
machten einschränkungeu  gern  zugestehen.  Vielleicht  entschliesst  er  sich,  da  er  die 
lohnende  aufgäbe  einmal  in  angriff  genommen,  in  einer  späteren  Untersuchung  manches 
in  der  oben  augedeuteten  riclitung  nachzuholen. 

BOXN,    28.  OKTOBER   lÖHÜ.  ARNOLD    E.   BERGER. 


128  KOCHENIJÖRFFER 

Eugolhard.  Eine  erziihluug  vou  Kourad  von  Würzburg  mit  aumerkungen 
von  Moriz  Haupt.  2.  aufläge  besorgt  von  Eugen  Joseph.  Leipzig,  S.  Hirzel, 
1890.     8°.     XVI  u.  320  s.     5  m. 

Mit  Lachmanns  und  Beneckes  Iwein  -  und  Haupts  Eroc  -  ausgäbe  ist  der  Engel- 
hard trotz  allem,  was  seit  ilrrem  erscheinen  die  forsch ung  neues  zu  tage  gefördert  hat, 
die  noch  unersezte  gruudlage  für  die  erkentniss  der  mhd.  dichtersprache  geblieben. 
Wer  sich  mit  den  dichtungen  der  mhd.  zeit  wissenschaftlich  zu  beschäftigen  im  sinne 
hat,  kann  sich  auch  heute  nicht  von  dem  genauesten  studium  dieser  drei  bücher  ent- 
binden. Durch  ihre  eigenart  sind  sie  vor  dem  veralten  gesichert.  Ja  neben  Haupts 
Engelhard  lässt  sich  überhaupt  keine  andere  kritische  ausgäbe  dieses  gedichtes  denken. 
Deshalb  war  eine  neue  aufläge  des  1844  erschieneneu  und  schon  lange  vergriffenen 
buches  wünsch  und  pflicht  der  deutschen  philologie.  Die  art  der  ausführung  war  ge- 
geben; diese  selbst  konte,  je  nachdem  der  herausgeber  zu  der  arbeit  gerüstet  war, 
verschieden  ausfallen.  Wii'  dürfen  uns  und  dem  Verleger,  dessen  verlagswerke  als 
muster  guter  ausstattung  bekant  sind,  glück  wünschen,  dass  er  in  Eugen  Joseph  einen 
gelehrten  gefmiden  hat,  der  mit  völliger  beherschung  des  Konradschen  sprach-  und 
versgebrauchs,  wovon  er  in  der  Klage  der  kunst  den  beweis  geliefert,  besonnenen  takt, 
und  mit  der  schuldigen  pietät  gegen  seinen  grossen  Vorarbeiter  Unbefangenheit  des 
Urteils  in  hohem  masse  vereinigt.  Das  register  der  textänderungen  weist  die  statliche 
zahl  von  426  nach.  Zu  ihnen  haben  in  erster  linie  beigetragen  die  von  Haupt  selbst 
mitgeteilten  emendationen  von  ihm.  Lachmann  und  Wackernagel;  ferner  die  Verbesse- 
rungsvorschläge, welche  Bartsch  in  seinen  beitragen  zur  (Quellenkunde  gemacht  hat. 
Auch  einzelnes  von  andern  forschern  gelegentlich  beigebrachte  ist  berücksichtigt,  und 
eine  anzahl  guter  konjekturen  sind  Edward  Schröder  zu  verdanken,  der  den  heraus- 
geber bei  der  correktur  beraten  hat.  Den  löwenanteil  der  besserungen  hat  Joseph 
selbst  mit  genau  zwei  fünftein  beigesteuert.  Was  ihnen  das  gepräge  der  grösten 
Wahrscheinlichkeit  verleiht,  sind  die  zahlreichen  belege  aus  Konrads  werken.  In  den 
anmerkungon,  die  von  70  auf  100  seifen  angewachsen  sind,  werden  Haupts  ausfüh- 
rungen  teils  ergänzt,  teils  mit  hülfe  neuen  materials  berichtigt.  Von  bedeutung  war 
dabei  die  neuvergleichung  des  alten  druckes,  durch  die  nicht  nur  einige  versehen 
Haupts  sich  rektifizieren  Hessen,  sondern  für  die  bessernde  band  eine  reihe  bisher 
imberücksichtigt  gebliebener  kriterien  sich  bot.  So  halte  ich  die  neue  ausgäbe,  die  — 
glaub'  ich  —  auch  Haupt  freude  gemacht  haben  würde,  in  der  tat  für  eine  verbes- 
serte, und  die  wenigen  bemerkungen,  welche  ich  schUesslich  noch  zu  machen  habe, 
dienen  dazu  mein  urteil  zu  bestätigen. 

Nur  in  einem  punkte  habe  ich  gegen  die  grundsätze,  welche  den  herausgeber 
leiteten,  eine  einwendung.  „Der  alte  text  Haupts",  heisst  es  im  vorwort,  „ist  in  den 
amnerkuugeu  stets  angeführt,  im  falle  der  neue  nicht  von  ihm  selbst  herrühi-t  oder 
gebilligt  ist."  Diese  ausnähme  kann  ich  nicht  loben.  Denn  abgesehen  davon,  dass 
mir  jede  lesung  Haupts  des  Studiums  wert  erscheint,  da  er  bei  seiner  mnigen  Ver- 
trautheit mit  der  mhd.  litteratur  und  seinem  ausgebüdeten  sinne  für  das  typische  und 
individuelle  nichts  aufgenommen  oder  geändert  hat,  was  er  nicht  an  den  kriterien 
des  Stiles  und  verses  seines  autors  geprüft  hätte,  meine  ich  auch,  es  müsse  in  jedem 
falle  sogleich  festzustellen  sein,  was  in  der  ersten  ausgäbe  gestanden  und  warum 
davon  abgegangen  ist,  ohne  dass  mau  diese  selbst  nachzuschlagen  nötig  hätte.  Das 
ist  aber  jezt  oft  unmöglich.  Wenn  die  zeile  1447  lautet  dax  in  triuwen  ie  geschiht, 
der  alte  druck  liic  hat  und  in  der  aum.  steht:  ie  Wackernagel,  so  ist  freilich  der 
schluss  leicht,  dass  Haupt  dem  drucke  gefolgt  war.    Aber  ratlos  steht  man  vor  solchen 


ÜBER    KOXnAI)    V.    WÜRZBURG    ENGELHARD'-'    ED.   JOSEPU  129 

stelleu ,  wo  er  geändert  hatte  imd  in  der  neuen  ausgäbe  die  lesart  des  druckes  vvider- 
hergestelt  ist.  So  heisst  es  1347  bei  Joseph  mit  ein  üf  iuch  gcvalkn;  der  druck 
hat  dasselbe.  In  der  anm.  steht:  mit  ein  "Wackernagel,  ohne  dass  man  einen  grund 
dafür  einsieht.  Erst  die  vergleichung  der  alten  ausgäbe  lehrt,  dass  Haupt  ein  in  im 
geändert  hatte.  Oder  351  liest  man  alle  stne  gesellesehaft ,  in  der  anni.  s1uc  TTaupt. 
Da  keine  abweichung  des  druckes  angegeben  ist,  so  erfälirt  man  erst  durch  die  erste 
ausgäbe,  dass  Haupt  ursprünglich  sin  geschrieben  hatte.  Bei  andern  gelegenheiten 
fallen  Haupts  konjekturon  ganz  unter  den  tisch,  ohne  dass  man  auf  sie  aufmerksam 
gemacht  würde.  1990  hat  der  druck  ivan  si  gehet,  jm  käme  hifs;  Josepli  nach 
Wackernagel  lean  si  g'ahte,  im  kmme  bax.,  Haupt  las  wem  si  gegen  im  küme 
sax,  wovon  aber  der  leser  der  2.  aufläge  nichts  erfährt. 

153  hat  Haupt  gegen  den  druck,  der  hoher  schreibt,  hohen  in  den  text  gesezt 
(mit  herxen  und  mit  munde  wil  ieh  von  hohen  trimren  sin  wdreK  mcere  erniuwen). 
Joseph  belässt  es  bei  dieser  änderung.    Haupt  muss  wol  —  ich  kann  wenigstens  keinen 
andern  grund  finden  —  die  schwache  form  von  triuu-e  als  dem  dichter  ungemäss  be- 
trachtet haben;  er  hat  deshalb  auch  105,  169,  181  das  überlieferte  treu7ven  in  triuwe 
geändert.  Aber  zunächst  ist  klärlich  hier  der  singiilar  von  hoher  trimven  besser  als  der 
plural  und  entspricht  dem  Singular  181  dax  ich  von  hoher  triuwe  sc(ge,  wo  Haupt  dies- 
mal nicht  das  adjectiv,  sondern  das  Substantiv  dem  druck  ziuvider  geändert  hat.   Sodann 
aber  gehört  triuwe  —  wie  minne,  erde  u.a.  —  sicherlich  zu  den  Wörtern,  die  Haupt 
zu  Engelh.  366  im  sinn  hat  {„gold.  schmiede  433  schreibe  ich  noch  jezt  kerne,  da  K. 
von   mehreren  Wörtern  starke  und   schwache   form  nebeneinander  braucht").     Haupt 
selbst  hat  auch  sonst  im  Engelhard  an  der  schwachen  form  keinen  anstoss  genommen. 
FreiUch  kann  luau  für  gewöhnlich  der  form  nicht  ansehen,  ob  sie  Singular  oder  plural 
ist.     AVo   aber  die  majuskel  die  Personifikation  erkennen  liisst,   wie  63  der  Triuwen 
zange,   6295   der  Triuwen   klüse,   6332  der  Triuwen   böte,   da  ist  der  plural  ausge- 
schlossen.   Ich  möchte  also  das  überlieferte  hoher  für  unbedenklich  halten.  —  In  der 
anraerkung  zu   191   stelt  Haupt  verschiedene  verse   zusammen,   in  welchen  die  form 
dis  für  disiu  erscheint,   z.  b.  dis  arxenie,   und  bemerkt,  dass  dazu  auch  Silv.  1857 
er  leite  h1  der  selben  rrist  blank  und  wtxiu  kleider  an  gehöre.    Ich  glaube,  der  fall 
ist  anders  aufzufassen.     Die  beiden  durch  und  verbundenen  adjektive  sind  dem  sinne 
nach  eine  komposition,  in  welcher  das  beiden  gemeinsame,  hier  die  endung,  nur  ein- 
mal ausgedrückt  wird.    Substantivische  kompositionsformen  dieser  art  haben  wir  heut- 
zutage zahlreich  (zeit-  und  Streitfragen),  aber  auch  die  adjektivischen  fehlen  uns  nicht. 
In  der  poesie  sind  sie  natürlich  seltener  als  in  der  Umgangssprache.    In  dem  gedichte 
„An  Rosetten"    sagt  Christian  Günther:    „ich  untersteh  mich   dir,   galant  und  treues 
kind,  ein  schlecht  geseztes  lied  verwegen  darzubieten;  s.  Erdmann,  Orundz.  d.  d.  Syn- 
tax §57.     Pniower  vergleicht  Anz.  13,  2  mit  recht  das  Goethesche  froh-  und  trüber 
xeit  (dem  sich  klein-  und  grossen  weit,  alt-  2ind  neuen  %eit  aus  den  Antworten  bei 
einem  geselschaftlichen  fragespiel  zur  seite  stellen)  und  führt  aus  der  Exodus  ver- 
schiedene beispiele  an:  2760  iunch  unde  altiu,  1370  breit  unde  lengiu,  2093  alt  unde 
iungiu.     Aus  Schachinger,  Die  kongruenz  im  mhd.  s.  114  setze  ich  hierher:  Walther 
15,  32  est  al  eiti,   sieht  und  ebener  danne  ein  zein;   Parz.  57,  18  u-iz  imd  swarxer 
rarwe  er  schein;   Trist.  14,  32  arme  und  rtehe  hceten  in  lieb  und  werden.     Derlei 
bildungen  darf  man  in  der  altern  spräche  bei  glättung  der  verse  gewiss  öfters  zu  hülfe 
nehmen,   wie  mir  z.  b.  die  von  Pniower  a.  a.  o.  mitgeteilte  einschiebung  von  grox.  in 
der  Exodus  2431  f.  nü  muox  er  gesehen  xeiehen  grox  unde  inäriii,  die  Diemer  vor- 
geschlagen hat,   höchst  einleuchtend   erscheint.   —   453  halte   ich   Josephs  ergänzung 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXIV.  9 


130  KOGHENDÖRFFER 

disen  für  in,  wie  Haupt  ergänzte  (wan  eine  forme  rander  an  in  beiden,  sirer  si 
sack),  für  falsch.  Der  hiiiweis  auf  487,  wo  dise  beide  steht,  kann  nur  lehren,  dass 
es  453  in  heissen  muss.  Denn  während  487,  nachdem  Dieterich  und  Engelliard  bo- 
schrieben  sind,  das  demonstrativuin  am  platze  ist,  eignet  sich  an  unsrer  stelle  nur 
das  Personalpronomen.  Der  dativ  in  beiden  entspricht  dem  nominativ  si  beide  450, 
dem  genitiv  ir  beider  406.  Auch  graphisch  empfiehlt  sich  in  mehr  als  disen.  — 
1128  muss  ich  Haupts  emendation  tvan  daxsi  getvaltie  mhi  nü  beide  tverden  ?nüexen 
gegen  die  bemerkung  Josephs  (der  daz  aber  si  g.  m.  schreibt),  dass  sie  ganz  unver- 
ständlich erscheine,  in  schütz  nehmen.  Allerdings  ist  nicht,  wie  Joseph  wol  gemeint 
hat,  wan  da%  zusammenzufassen  und  der  damit  eingeleitete  satz  vom  vorherigen  ab- 
hängig zu  denken;  ■ivan  gehört  vielmehr  zu  11.30  dax,  sol  den  cdelen  süexen  sm 
verxiyen,  nämlich  dax  si  beide  getvaltie  nun  werden  müe^-.en.  Ich  möchte  zur  er- 
läuterung  Nib.  2310  anführen  ich  cnkan  iu  niht  bescheiden  leax  sider  da  gescJiach: 
wan  riter  trnde  vrowen  tveinen  man  da  sach.  Der  lezte  satz  würde,  wenn  man  das 
object  durch  einen  nebcnsatz  ausdrücken  wolte,  unbeschadet  des  sinnes  lauten  können 
ivan  dax  riter  tmde  t^rowen  weinten  man  da  sach  und  damit  ein  analogon  Inlden  zu 
dein  unsrigen.  —  Bös  verderbt  ist  im  alten  drucke  die  bcschreibung  von  Engelhards 
rüstung  2534  ff.  Haupts  text  ist  zwar  aus  dem  gröbsten  herausgearbeitet,  ohne  jedooli 
völlig  zu  befriedigen.  Wenn  ich  hier  meine  lesung  mitteile,  so  muss  ich  im  voraus 
bemerken,  dass  sie  keineswegs  das  ursprüngliche  zu  treffen  prätendiert,  sie  macht 
auch  nicht  den  anspriich  besonders  hübsch  zu  sein,  sondern  versucht  nur  klarer  zu 
veranschaulichen,  was  Konrad  nach  meiner  meinung  hat  ausdrücken  wollen.  Ich 
denke  mir,  dass  Engelhards  rüstung  in  derselben  art  gewesen  ist  wie  die  des  königs 
von  Tenemark,  Turn.  336  ff.:  reht  als  die  nushen  xiechen  rvas  ex  mit  golde  wol  durch- 
nät  .  ex-  was  ein  rtlich  pliät,  der  xiveier  hande  vartcc  erschein  .  sich  konde  an  im 
wol  under  ein  rot  unde  grüene  mischen,  tmd  was  dar  üf  enx.ivischen  xerncrjet  tvol 
xatn  unde  ivilt.  Engelliards  waffenrock  war  demnach  blau  und  rot  geteilt;  auf  dem 
blauen  stück  waren  vögel,  auf  dem  roten  vierfüssige  tiere  von  gold  aufgenäht.  Ich 
lese  also: 

si  waren  beide  wol  xernät 
2535  mit  maneger  hande  bilde. 

beide  %,ani  und  wilde 

stuont  dar  an  ein  tcunder 

von  tiurem  golde  drunder. 

strtfehte  wärens  etewä: 
2540  in  einem  velde  läsürblä, 

dax  oiich  von  siden  was  geweben, 

stuonden  als  si  sollen  leben 

diu  vogelUn  an  maneger  stat. 

durchliuhtie  als  ein  rosen  blat 
2545  dax  velt  in  rotem  schme  bran, 

da  von  golde  ivären  an 

nü  diu  -wilden  tier  genät. 

Die  samluug  der  reime  2537  f.  ist  zwar  bei  Konrad  selten ,  doch  nicht  ausge- 
sclilossen.  Vgl.  z.  b.  2750  von  golde  eins  lewen  täpen  fuorte  ein  ritter  kiiene  in 
sinem  schilte  grüene.  —  2560  hat  .loscpli  di?f  selbe  decke  in  den  text  gesezt  nach 
einer  Vermutung  Haupts   in   den   aumerkungen.     Aber  die  Überlieferung  des  druckes, 


ÜBKR    KONKAl)    V.   WÜRZRURG    ENGELHARD^    ED.   JOSEPH.  131 

der  Haupt  gefolgt  war,  der  selben  decke  vil  (oder  wol)  geslal/t  ivas  über  stueu  schilt 
gezogen,   d.  h.   von  demselben  zeuge  war  aucli  der  Überzug  des  Schildes,   ist  unan- 
stössig  und  besser  als  der  uominativ.     Joseph  hätte  den  verschlag  W.  Grimms  der 
stnchcn   decke  (Athis  s.  49  [393]  anm.)   erwähnen  können ,   worauf  Zs.  f.  d.  a.  28,  250 
liingewicsen  ist.    —    25(35   ist   Haupts   änderung  an   für  umbe   niclit  gut.     niht  wan. 
einen  borten  guot  fiiorte  er  umben   hehn   sm  ist  beizubehalten,  denn  der  borte  ist 
um  den  heim  gesclilungen.    Vgl.  En.  1729  einen  huot,  ein  borte  ivas  al  umbe  dran. 
Die  beschwerung  der  vorlezten  silbe  hat  nach  den  auseinaudcrsetzungen  s.  229  nichts 
störendes.  —  2502  f.  er  luHe  dar  von  lidse  gefüeret  stner  frouwen  kus  vorstehe  ich 
nicht.     Es  hat  docli  wol  nicht,   worauf  man   aus  der  falschen  interpunlvtion  der  fol- 
genden zeile,   hinter  der  ein  kolon  zu  stehen  hat,  schliessen  köute,  eine  symbolische 
beziehuug  zwischen  dem  kuss  und  der  Zweiteilung  des  Schildes  angenommen  werden 
sollen?   Für  er  ist  in  zu  schreiben.    Benival  turniert  eben  auch  um  fraucnminne.  — 
2G28  %£m  wähle  kerte  er  wider  m  und  tet  sich  aber  under  liest  Haupt  mit  dem  alten 
drucke,     tet  sich  under  ist  an  sich  gut  und  findet  sich  auch  bei  Walther  58,  28  dar, 
(kleine  vogelUn)   tet  sich  under.     Aber  gerade  dieses  beispiel  lässt  mich  die  anwen- 
dung   des    ausdruckes  im  Engelhard  bezweifeln,    da  eine  gewisse  ängstlichkeit,    ein 
schutzsuchen  darin   liegt,   wovon  bei  Engelhards  absonderung  keine  rede   sein  kann. 
Ich  schlage  sunder  für  under  vor,   wodurch  auch  die  tautologie  in  den  beiden  zeilen 
vei-mieden  wird,   und  erinnere  an  Parz.  700,  26  mit  tvenec  Unten  er  simder  trat.  — 
2G87  f.  möchte  ich  unter  näherem  anschluss  an  den  druck  lesen  drüf  lac  ein  eover- 
tiure,  diu  bran  von  golde  in  fiure.    In  dieser  wendung  sind  Ursache  und  Wirkung 
vereinigt,  die  in  den  in  der  anmerkung  angezogenen  beispielen  2  —  4  getrent  vorkom- 
men. —  An  der  Überlieferung  von  2716  f.  dirre  den  und  jener  discn  begundc  rennen 
ahehant,   die  Haupt  unbeanstandet  gelassen,  hat  Bartsch  Beiträge   zur  r^uellenkunde 
161   anstoss  genommen  mit  der  frage:    „Wie  kann  davon   der  acc.   abhängig  sein?" 
Joseph  hätte  sich  nicht  von  Bartsch  verfühi-en  lassen  sollen.     Dass  rennen  mit  acc. 
statt  mit  Präposition  verbunden  ist,   berührt  nicht  seltsamer  als  die  gleiche  konstruk- 
tion  von  sprengen,  das  in  allen  bedeutungsübergäugen  mit  jenem  kongruent  ist.    Die- 
selbe konstruktion  von  sprengen  aber  begegnet  Serv.  1016  daz  got  wil  Verheugen  den 
hei  den,  daz  si  sprengen  bediu  Hute  unde  lant.    Dass  wir  in  der  rektion  des  verbums, 
namentlich  in  der  wechselseitigen  Verwendung  von  transitiven  und  intransitiven,  nicht 
mehr  die  beweglichkeit  des  mhd.   haben,   ist  bekant.     Wir  können  heutzutage  aucli 
nicht  mehr  das   verbum   /reinen  aktiv  brauchen,  wie   es  im  mhd.  so  überaus  häufig 
geschieht  und  auch  Engelh.  5820  vorkomt.  —  3089  hat  der  druck  das  man  das  Thuch 
nic/it  erkos.     Haupts  konjektur  dar  obe  für  das  Thuch  und  Wackernagels  besserung 
des  Hauptschen  textes  des  daches,  wofür  sich  Joseph  entschieden  hat,  waren  unnötig, 
da  des  tuoches  guten  sinn  gibt.  —   Zu  3650  bemerkt  Joseph  sehr  richtig:    „Bartsch 
geht  von  einer  modernen  empfindung  aus,   wenn  er  verlogen  wegen  der  widerholung 
in  vers  3653  durch  vermeldet  ersetzen  will.    Die  mhd.  dichter  scheuen  durchaus  nicht 
sachgemässe  widerholi;ngen",  es  entgeht  ihm  dabei,  dass  auch  Haupt  diese  empfindung 
gehabt  liat,   wenn   er  3766   das  verlogen  seines  textes  in  vermeldet  ändert,    „da  ver- 
logen  nach  gelogen   3764   ungeschickt  ist".     Joseph  hat  auch  gewiss  nicht  dieserhalb 
vermeldet  aufgenommen,   sondern  weil  es  hier  in  den  Zusammenhang  besser  past.  — 
Für  obene:   ze   lobene  4697  f.   kann   noch  angezogen   werden  Parton.  13552  gesteines 
genuoc,   des  mich  bevilt,  was  drflf  geströuwet  obene  ■  ein  bilde  n-ol  xe  lobene.     Mit 
noch  näherem   ausclilusse  an   den  druck  könte  man  vielleicht  4696  f.  lesen  der  decke 
was   (/euch    qetdn  dax  rjcinirhtc  enobcne,    indem  man  dann  irdpenklcit  als  covertiure 

9* 


132  SPRENGER,    ÜBER    HELMBRECHT,    ÜBERS.    VON    FULDA. 

auffasst  (uud  hinter  frech  komma  sezt).  Aus  Konracl  liaLe  ich  allerdings  für  diese 
bedeutung  keinen  beleg,  aber  Ulrich  von  Lichtenstein  161,  23  schreibt  dar  lix  man 
tnir  drl  decke  sncit  üf  minni  ors  xe  icüppenkleit. 

Einige  druckfehler  mögen  hier  noch  verbessert  werden.  181  /.  hu/ier.  Nach 
608  La.  ist  einzuschieben:  609  reinlich.  2655  1.  icas.  4557  La.  1.  bot]  für  gaj)]. 
5660  1.  Übe.  Nach  5977  La.  ist  einzuschieben:  5978  dax  fehlt.  S.  225  z.  1  v.  o.  ist 
441  zu  streichen.  (Vielleicht  ist  1469  gemeint.)  S.  280  z.  6  v.  o.  1.  kursit,  die  von 
goldc  strehctcn  —  der  statt  des. 

Ich  scheide  von  der  neuen  aufläge  des  Engelhard  mit  dem  gefühle,  dass  die 
herausgäbe  der  kleineren  gedichte  Konrads,  die  hoffentlich  nicht  zu  lange  auf  sich 
warten  lässt,  in  die  richtige  band  gegeben  ist. 

KIEL.  KARL    KOCHENDÜRFFER. 


Meier  Ilelm  brecht  von  Wem  her  dem  gärtncr.  Eine  deutsche  novelle  aus  dem 
XIIL Jahrhundert.  Übersezt  von  Liidwig'  Fulda.  Halle,  Otto  Hendel.  0,25  m. 
Über  die  berechtigung  von  Übersetzungen  aus  dem  mittelhochdeutschen  ist  viel 
gestritten  worden.  Allerdings  wäre  es  wünschenswert,  dass  die  gebildeten  unseres 
Volkes  unsere  ältere  litteratur  in  m'sprünglicher  gestalt  kennen  lernten.  Leider  stehen 
wir  aber  der  Verwirklichung  dieses  Wunsches  jezt  um  so  ferner,  nachdem  der  Unter- 
richt im  mittelhochdeutschen,  wenigstens  auf  den  preussischen  gymnasien  und  i'eal- 
schuleu,  aufgehoben  ist;  im  späteren  leben  werden  die  wenigsten  zeit  und  lust  haben 
poetischen  genuss  durch  Sprachstudien  zu  erkaufen. 

Der  Übersetzer,  welcher  sich  über  seine  fassung  der  aufgäbe  in  der  vorrede 
ausspiicht,  hat  mit  recht  den  weg  freier  Übertragung  gewählt,  indem  er  auch  hi  der 
erneuerung  der  alten  vierhebigen  reimpaare  eine  Variation  angewant  hat,  durch  welche 
sie  unserem  obre  weniger  einförmig  erscheinen.  In  der  einleitimg,  welche  die  frage 
über  die  heimat  des  gedichtes  und  die  person  des  dichters  behandelt,  schliesst  sich 
der  Verfasser  den  forschungen  von  Keinz  an.  Er  hat  die  umgegend  des  jezt  ober- 
österreichischen dorfes  "Wanghaiisen  selbst  durchstreift  und  noch  einige  notizen  gesam- 
melt, welche  die  annähme  von  Keinz  bestätigen.  Bekantlich  war  Pfeiffer  der  ansieht, 
das  gedieht  sei  österreicliisch,  hatte  also  die  Ortsangaben  der  handsclirift  a,  da  das 
altbairische  Innviertel  erst  iti  unserem  Jahrhundert  an  Österreich  übergegangen  ist,  ver- 
worfen. Er  hatte  diese  ansieht  besonders  auf  die  verse  445  f.  gestüzt,  wu  der  vater 
dem  söhne  die  annehmlichkeiten  der  heimatlichen  lebensweise  aufzählt: 

dat%'  Osterrtclie  clamirre, 

ist  ex  jener  ist  ex  cHrre., 

der  tumbe  und  der  wtse 

hänt  tx.  da  für  Herren  sptse. 
Fidda  gibt  diesen  versen  zuerst  die  einzig  richtige  erklärung,  dass  der  vater 
dai-auf  hinweise,  dass  clamirre,  das  heimatliche  bauerngericht,  im  benachbarten  Öster- 
reich algemein  für  ein  herrenessen  angesehen  werde.  Nicht  besser  konte  in  der  tat 
der  vater  die  Vorzüge  der  heimatlichen  kost  hervorhoben!  —  Die  person  des  dichters 
betreffend  tritt  F.  ebenfalls  einer  vermutimg  von  Keinz  bei,  dass  derselbe  ein  pater 
gärtncr  des  Idosters  Ranshofen  gewesen  sei.  Dem  hatte  bekantlich  C.  Schröder  wider- 
sproclien,  der  in  bczug  auf  die  verse  849  f.  sagte,  dass  ein  mönch,  der  bauern  in  der 
kücheugärtiierei  untenichtete,  wohl  nicht  über  schlechte  aufnähme  habe  klagen  dürfen. 
Hierzu  bemerkt  F.,  dass  die  verse  nur  dazu  dienen  soUcn,  um  die  glänzende  aufualime 


E.   ICETTNKU,    IJBEH    R.i.DKE,    KriSCllE    FOKMEL    Dl   NIBL.  133 

Helinlirechth  itu  vatorbausc  recht  licrvorzuhcbcn.  Ich  vergleiche  dazu  noch  die  ähn- 
liche stelle  bei  Kourad  von  Fiissesbrunnen  2232  ff.,  einem  dichter,  der  jedenfalls  nicht 
zu  den  fahrenden  geiiört. 

Nun  noch  einige  bemerkungen  zu  einzelnen  stellen.  V.  1388  hat  F.  die  sichere 
konjektur  von  Jaenicke  (banne  statt  arme)  nicht  angenommen.  Die  stelle  ist  dadurch 
unklar  geworden  und  dürfte  in  einer  neuen  aufläge  zu  bessern  sein.  Falsch  erklärt 
F.  V.  591  in  enhalf  et  nicht  sin  lere.  Pannier  übersezte  richtig:  „Dem  Vater  half 
die  Lehre  nicht".  Das  soll  doch  wol  heissen:  „Er  hatte  mit  seiner  ermahnung  keinen 
erfolg".  Nun  bezieht  aber  F.  in  auf  Helmbrecht,  srn  auf  den  vater,  was  dem  mhd. 
spraehgcbraiu'h  entgegen  ist.  Gegen  den  heutigen  S[)rachgcbrauch  Verstössen  die 
vcrse  1331  ff. : 

Gefüllt  hab'  ich  den  einen  (Sack) 

Mit  unverschnittncn  Leinen, 

Von  denen,  wer  sie  auch  begehrt, 

Die  Elle  fünfzehn  Kreuzer  wert. 

Das  leinen  =  leinenzeug  kann  nui'  im  Singular  gebraucht  werden.  Auch  diese 
stelle  ist  leicht  zu  iüidern.  Ein  blosser  druckfehler  ist  wol  148  aw  seinem  (st.  an 
seinen)  leib.  Nicht  richtig  ist  es  ferner,  wenn  in  der  anm.  zu  1191  zu  dem  namen 
Miischcn/iclch  behauptet  wird,  niüschen,  welches  sonst  zermahnen  bedeute,  heisse 
hier  offenbar'  „bei  seite  bringen''.  Es  ist  vielmelir  an  das  zerdi-ücken,  zerschlagen  der 
(silbernen)  kelche  zu  denken,  was  geschieht  um  sie  unkentlich  zu  machen  und  ein- 
zuschmelzen. Die  verse  1651  — 1668  hält  Fulda  mit  Pfeiffer  für  eingeschol)en.  Ich 
kann  dem  nicht  beipflichten.  Denn  erstens  kann  ein  reim  wie  ringest:  minnest  bei 
einem  bairischen  dichter  dieser  zeit  nicht  auffallen.  Zweitens  wird  1632  gesagt,  dass 
Gotelind  bei  einem  zäune  gefunden  wird.  Sie  ist  also  wol  genötigt  die  räuber  zur 
richtstätte  zu  begleiten,  und  dem  widerspricht  es  nicht,  wenn  Helmbrecht  an  der 
wegscheide  von  ihr  abschied  nimt.  AVas  die  belastung  der  diebe  mit  rindshäuten  be- 
trifft, so  haben  wir  uns  wol  diu  diuhe,  das  gestohlene  gut  darin  verj)ackt  zu  denken. 

Ich  schliesse  mit  dem  wünsche,  dass  das  bei  ausserordentlich  geringem  preise 
schön  ausgestattete  liändchen  dem  wimsche  des  herausgebers  gemäss  dazu  dienen 
möge,  recht  viele  „von  der  ewigen  Jugend  der  dichtung  "Wernhers  zu  überzeugen".^ 

NOETIIELM.  ROBERT   SPRENOER. 


G.  Radke,  Die  epische  formel  im  Nibelungenliede.  Kieler  dissertation ,  zu- 
gleich Programm  des  gymuasiums  zu  Fraustadt.     1890.     62  s.     4". 

Die  abhandlung  zerfällt  in  zwei  teile :  der  erste  s.  3  —  20  enthält  erörtorungen 
ülier  das  vveseu  und  den  zweck  der  epischen  form  ein,  über  die  eigentümlichkeiten  im 
gebrauch  der  einzelnen  gattungen  innerhalb  des  Nibelungenliedes  und  der  ihm  näher 
stehenden  vorangehenden  und  folgenden  epen,  sowie  über  che  hierbei  hervortretenden 
Verschiedenheiten  zwischen  den  einzelnen  teilen  des  Nibelungenliedes;  der  zweite  teil 
s.  21  —  62  besteht  aus  umfangreichen  beispielsamlungen,  die  auch  auf  andere  epen, 
besonders  auf  die  Gudnm,  die  im  DHE.  enthaltenen  und  die  Spielmannsepen  sich 
ersti'ecken. 

Der  Verfasser  unterlässt  es  das  wesen  der  epischen  formel  genauer  zu  bestim- 
men.    Daher  komt  es,   dass  er  einerseits  zufällige  oder  auch  algemein  gebräuchliche 

1)  Über  die  mittlerweile  erschieneue  neue  übersetzuiiir  des  Meier  Helmbrecht  durch  G.  Bot ticher 
berichten  wir  kurz  unter  den  „neaen  erscheinungen " .  Red. 


134  E.   KETTNER,    ÜBER    RADICE,    EPISCHE    FORMEL    IM    N'IBL. 

Wortverbindungen  und  phrasen  der  gewöhnlichen  spräche,  auch  ausdrücke  mit  rein 
sachlich  bedingter  gleichartigkeit  in  seiner  samlung  anführt,  anderseits  umfangreichere, 
nur  den  Nibelungen  eigentümliche  übereinstimmimgen  zu  den  algemein  epischen  for- 
mein rechnet.  In  ihrem  gebrauche  sucht  er  beabsichtigte,  berechnete  poetische  Wir- 
kungen, wodm'ch  er  sich  öfter  zu  ziemlich  gegenstandslosen  ästhetischen  raisonucments 
verleiten  lässt;  vorzugsweise  aber  erklärt  er  sie  aus  der  „ehi-fiu'cht  vor  dem  alther- 
gebrachten", so  dass  nach  seiner  meinuug  ihr  häufiges  vorkommen  ein  vorzug  einer 
dichtung  wai'  und  den  beifall  des  pubükums  finden  muste.  Er  vergisst  hierbei,  dass 
gerade  in  den  rohesten  volksepen  die  formelhaftigkeit  am  weitesten  geht,  und  dass 
die  gestaltung  unseres  Nibelungenliedes  in  eine  zeit  fällt,  wo  die  aufkommende 
höfische  epik,  die  nach  möglichst  individuellem  ausdrack  strelit,  ungeteilten  bei- 
fall fand.  In  dem  bemühen,  unterschiede  zwischen  den  echten  und  unechten  Stro- 
phen Lachmanns  zu  konstruieren,  hat  er  den  eigentümlichen  inhalt  der  einzelnen 
teile  und  die  ausdehuung  der  verschiedenen  lieder  zu  wenig  berücksichtigt,  wodurch 
seine  Statistik  für  die  kritischen  fragen  ziemlich  wertlos  wird.  So  führt  er  öfter  ohne 
weitere  bemerkung  das  XX.  lied  mit  seinen  beinah  300  Strophen  als  durch  ein  häu- 
figeres vorkommen  gewisser  bildungen  ausgezeichnet  an ,  das  nm*  Schilderungen  üusser- 
licher  Vorgänge  enthaltende  XII.  lied  dagegen  als  eigentümlich  wegen  des  mangels  ge- 
wisser typen  für  die  einfühnmg  der  rede.   - 

Wenn  R.  auch  die  stärkeren  spraclüichen  überemstimmungen ,  wie  sie  sich 
namentlich  in  den  darstellungen  höfischen  lebens  finden,  als  algemeine  e])ische  formein 
ansieht  (vgl.  dagegen  in  dieser  ztschr.  bd.  XVII  s.  410  fg.),  so  bedenkt  or  dabei  nicht, 
dass  es  völlig  gleichgiltig  ist,  ob  sich  die  parallelen  in  einzelne  gleichartige,  auch  in 
anderen  open  vorkommende  formelu  zerlegen  lassen,  wie  222,  3.  4  und  1590,  3.  4; 
dass  ferner  z.  b.  für  die  Verbindung  hiehten,  |  man  schuof  in  guot  gemach  127,  3, 
knehtc,  \  si  heteu  guot  gemach  1600,  3  nichts  erklärt  ist  dui'ch  den  nachweis  von 
einem  anderweitigen  vorkommen  der  phrasen  hete  guoten  gemach,  hicx  in  schaffen 
guot  gemach,  oder  für  die  merkwürdige  ähulichkeit  der  ganzen  Strophen  1600  und 
1742  diu'ch  die  anführung  von  ein  paar  Wendungen  mit  nam  er  W  der  hant,  und 
gienc.  Im  gegensatz  zu  dieser  seiner  anschauung  bemerkt  er  ganz  richtig:  „ohne 
zweifei  haben  die  Schilderungen  höfischen  lebens  im  Nibelungenliede  etwas  eigen- 
artiges; sie  unterscheiden  sich  sogar  von  den  ihnen  am  nächsten  kommenden  dar- 
stellmigen  der  Kudrun  nicht  unwesentlich."  Diese  beobachtung  hätte  ihn  davor  be- 
wahren sollen,  diese  so  gleichartigen,  aber  nie  völlig  gleichen  Schilderungen  aus  einem 
überlieferten  Schematismus  zu  erklären.  Der  wäre  dann  eben  nur  den  dichtem  des 
Nib.  bekant  gewesen,  nicht  aber  denen  der  anderen  volksepen.  Es  zeigen  ja  nur  die 
Schilderungen  der  Gudrun  mit  denen  des  Nib.  eine  nähere  verwantschaft,  und  gerade 
der  dichter  oder  bearbeiter  der  Gudrun  hat  ganz  besonders  für  diesen  gegenständ  das 
Nib.  als  sein  muster  benuzt  (vgl.  in  dieser  ztschr.  bd.  XXIII  s.  145  fg.).  Übrigens 
wird  auch  dui-ch  dieses  abhängigkeitsverhältniss,  wozu  noch  das  des  Biterolf  komt, 
der  wert  der  aus  diesen  epcn  herangezogenen  parallelen  zweifelhaft. 

Der  erste  teil  der  beispielsamlungen  enthält  eine  Zusammenstellung  der 
formein  nach  grammatisch  -  stilistischen  gesichtspunkten  (zu  §  2  — 8),  der  zweite  teil 
nach  dem  inhalt  (zu  §  9  — 14).  Im  ersten  teil  ist  manches  unwichtige  matorial  zusam- 
mengetragen, im  zweiten  hätte  durch  weglassuug  von  ganz  natürlichen  oder  zu 
schwachen  analogien  räum  gewonnen  werden  können  für  wichtigeres,  welches  über- 
gangen ist.  Für  manche  abschnitte,  besonders  für  §§  13.  14  (kam[)fesschildcruugen 
und  darstellung  höfischen  lebens)  wäre  eine  genauere  einteilung  und  übersichtlichere 


BOLTK,    ÜBER    UERLINKR    NEUDRUCKE    I,  3  135 

auoriluuug  zu  wuubrheij.  Immerhin  uiitliält  die  samlmif^  ein  reiches  niaterial  vuu 
formelu  uud  parallelen,  so  dass  dieser  hauiitteil  der  abhandlung,  wenn  er  aueli  noch 
der  Sichtung  bedarf,  füi'  die  boiuieilung  des  epischen  stilcs  seinen  wert  hat. 

MÜULUAUSEN   IN    THÜRINGEN.  EMIL   KETTN'ER. 


Nicolaus  Fcuckers  AVolkliugeudo  pauckc  (iü50 — 75)  uud  drei  Singspiele  Chri- 
stian Reuters  (1703  und  1710).  Herausgegebon  vou  Georg  Eiliiigcr.  Berlin, 
gebrüder  Paetel  1888.  XXH^,  71  s.  8°.  3  m.  [=  Berliner  neudruckc,  1.  serie, 
band  3]. 

Schnell  ist  dem  bd.  22  s.  381  besprochenen  volksliederalmauach  Nicolais  eine 
auswahl  von  Berliner  gelegenheitsgedichten  aus  der  zeit  des  grossen  kurfürsten  uud 
köuig  Friedrich  I.  von  der  hand  desselben  kundigen  herausgebers  gefolgt.  Die  beiden 
dichter,  auf  die  seine  wähl  gefallen  ist,  sind  keine  Berliner  von  gehurt,  sondern  aus 
Schlesien  und  Sachsen  zugewandert  und  schon  ihrer  lebensstellung  nach  verschieden: 
Peucker  ein  wohlbestalter  stadtrichter,  der  sein  publikum  meist  in  den  bürgerlichen 
faniilien  findet,  Reuter  ein  gewesener  studiosus  der  theologie  und  rechtsgelehi-samkeit, 
der  an  dem  jungen  königshofe  sein  glück  zu  machen  hofft.  Peuckers  andenken  hat 
die  1702,  28  jähre  nach  seinem  tode,  veranstaltete  samluug  seiner  gelegenheitspoesien 
lebendig  erhalten;  Reuter  ist  erst  neuerdings  durch  Zarnckcs  mühevolle  forschuugen 
als  Verfasser  des  in  Leipzig  entstandenen  satiiischen  romans  Schelmufsky  uud  einiger 
ebeufals  satirischer  lustspiele  bekant  geworden. 

Dies  jüngst  erwachte  litterarhistorische  Interesse  für  den  taleutvollen  Leipziger 
Studenten  ist  aber  auch  der  einzige  grund,  durch  den  man  den  abdruck  seiner  drei 
für  Berliner  hoffestlichkeiteu  abgefassten  Singspiele:  1)  Die  frolockende  Spree,  zum 
18.  Januar  1703,  2)  Mars  und  Irene,  zum  12.  Juli  1703,  3)  Das  frolockende  Charlot- 
teuburg,  zum  12.  juli  1710,  rechtfertigen  kann.  Denn  Reuter  hält  hier  keineswegs, 
was  seine  früheren  dichtungen  versprachen;  seine  Singspiele  sind  ganz  flache  und  farb- 
lose gelegenheitsreimereien  in  leidlich  flüssigen  versen  ohne  irgendwie  neue  gedauken. 

Viel  anziehender  wirken  die  aus  den  jähren  1646  — 1673^  stammenden  100  ge- 
Icgenheitsgedichte  Peuckers,  aus  denen  Elhnger  zwölf  ausgewählt  hat,  auf  den  leser. 
Niclit  als  ob  der  Zeitgenosse  des  grossen  kurfürsten  mehr  dichtertalent  besessen  hätte. 
Aber  er  hat  die  gahe,  einen  fliessenden  vers  zu  bauen,  und  ist  um  einen  treifeudeu 
ausdruck  selten  verlegen;  er  besizt  volkstümlichen  humor  und  verwertet  imd  vermehrt 
die  mittel,  die  eine  langgeübte  techuik  der  gelegeuheitsdichtung  an  die  hand  gegeben 
hatte.  In  der  samlung  von  1702  sind  die  leichencarmina  und  gebui'tstagsgratulationen 
nur  diu'ch  wenige  exemplare  vertreten,  den  hauptinhalt  bilden  hochzeitsgedichte.  Doch 
der  naheliegenden  gefalir  der  widerholung  und  einförmigkeit  weiss  Peucker  meist  glück- 
lich zu  entgehen.  Meist  knüpft  er  an  den  namen  der  braut  und  des  bräutigam  zarte 
oder  derbe  Wortspiele  an,  er  verherrlicht  ihre  heimat,  die  Jahreszeit,  er  wirft  einen 
blick  auf  den  eben  beendeten  dreissigjährigeu  laieg  oder  das  bauernleben,  deutet  die 
blumen  des  brautkranzes  oder  den  gesang  der  vögel,  gibt  den  gasten  ein  rätsei  auf 
(ein  im  17.  und  18.  Jahrhundert  weitverbreiteter  brauch),  verspottet  die  modische 
Schüferpoesie  in  einem  nd.  Hede  oder  geht  auf  den  an  die  Andreasnacht  geknüpften 
Volksglauben  ein. 

1)  Der  titel  sagt  ungenau;  1650  — 1675. 


136  BOLTE 

Der  herausgeber  würdigt  in  seiner  vortreflichen  einleitung  ausfüluiich  Peuckers 
Stellung  in  der  litteraturgescliichte  und  sein  Verhältnis  zu  Joli.  Frauck,  H.  Held, 
"W.  Scherffer  und  zum  Volkslied.  Auch  ein  vergleich  mit  Greflinger,  dessen  gelegeu- 
heitsgedichte  "Walther  im  Anzeiger  f.  d.  altert.  10,  73  (vgl.  13,  103)  eingehend  be- 
sprochen hat,  wäre  nutzbringend  gewesen;  über  die  gattung  der  hochzeitsgedichto  er- 
warten wii'  von  M.  v.  Waldberg  eine  arbeit.  Auf  die  von  Peucker  verwanten  sang- 
weisen, die  für  ihn  und  die  Berliner  geselschaft  seiner  zeit  charakteristisch  sind,  hat 
EUinger  schon  s.  XVII  hingewiesen;  es  wird  sich  jedoch  verlohnen,  ein  volständiges 
Verzeichnis  davon  zu  geben. 

Die  geistlichen  melodieen  finden  wir  sämtlich  in  der  1648  zuerst  erschienenen 
und  seitdem  häufig  gedruckten  Praxis  pietatis  melica  des  Berliner  Organisten  Johannes 
Crüger.     Ich  benutze  die  12.  ausgäbe,  Berlin  1666.    -4°. 

Ach  icie  elend  ist  unser  xeit  s.  176  und  426  der  Originalausgabe  (1702). 
Text  von  Joh.  Gigas  ("Wackernagel  4,  nr.  260).  —  Crüger  nr.  577  nach  der  melodie: 
Es  ist  das  heil  uns  kommen   her.    —    Eine   parodie  in   einem  fl.   blatte   v.  j.    1677 
(Berlin  Ye  1881):  Ach  wie  elend  ist  unser  zeit  allhier  in  diesem  dorffe. 

Allein  gott  in  der  höh  sey  ehr  s.  335. 
Text  von  Nie.  Decius.  —  Crüger  nr.  282. 

Als  Jesus  Christus  gottes  söhn  S.  319. 
Text  von  M.  "Weiss.  —  Crüger  nr.  274. 

Nun  last  uns  Oott  dem  herren  s.  277. 
Text  von  L.  Helmbold.  —  Crüger  nr.  486. 

Nun  lob,  mein  seel,  den  herren  s.  453. 
Text  von  Joh.  Poliander.  —  Crüger  nr.  302. 

Schwerer  auszumitteln  sind  die  weltlichen  weisen,  welche  Peucker  anführt. 

Ach,  du  hertAchen  schöne,  in  wie  langer  xeit  s.  74. 

Chyni  de  begunt  to  grinen  s.  444. 

Coridon  der  ging  betrübet  s.  428. 
Text  von  Opitz,  Deutsche  poemata  1625  s.  176  (über  die  nachahmungen  vgl.  M.  v. 
"Waldberg,    Die  deutsche   renaissancelyrik    1888    s.  115  f.   219).    —    Komponiert  von 
C.  Kittel,  Arien  und  cantaten  1638  nr.  3. 

Daphnis  ging  vor  wenig  tagen  s.  49.  324. 
J.  Eist,  (xalathee  1642  Bl.  Bjb  mit  melodie.  Abdruck  bei  C.  F.  Becker,  Lieder  und 
weisen  vergangener  Jahrhunderte  1,  26  (1849).  Serapeum  1870,  149  nr.  35.  Veuus- 
gärtlein  1659  s.  299.  Gantz  neuer  Hans  guck  in  die  weit,  Nürnberg,  Felsecker  (um 
1690)  nr.  4.  —  Die  melodie  ward  auch  für  kirchenlicder  benutzt:  Brandt  og  Heiweg, 
Den  danske  psalmedigtning  1,  327  nr.  408  (1846).  J.  Neucrantz,  Davids  psalterspiel 
1650  s.  11. 

Der  edle  schäfer  Coridon  s.  3. 
J.  H.  Schein,  Musica  boscareccia  1,  11  (1621).     Serapeum  1870,  149  nr.  8. 

Doris  ging  in  ihren  garten  9.  406. 
Venusgärtlein  1659  s.  3.     Serapeum  1870,  150  nr.  134. 

Du  bist  meines  herxens  tconne  s.  456. 

Es  fing  ein  schäfer  an  xu  Magen  s.  136.  346.  528. 
H.  Albert,  Arien  5,  17  (1642).    Vgl.  G.  Neumark,  Poetisch  musikalisches  lustwiiUlclien 
(1652)  s.  74. 

Falscher  schäfer,  ist  das  recht  s.  42.  70.  238.  341.  362. 


flSEi;    ÜKKLINKIi     NKUIiKrrKK    I ,  :'..  137 

Cr.  Voigtläudor,    Allfiluind   odon    und   liodor   (Ißl'i)    iir.  (ia.     Auch    im    Berliiior   mscr. 
germ.  quart  720,  nr.  38.     Soraponm  1870,  152  ur.  10. 

Hertxlich  thut  »lich  erfreuen  s.  275. 
r.olimc.  Altdeutsches  liedcrbuch  (1877)  ur.  142. 

///;•  sehivnrtxeii  aufjcii,   Ihr  s.   122. 
Opitz    1G25   s.  200.    —    Oft   nachgealnnt;    vgl.    .M.   v.   WaldlM-rg  s.  218   ( Fiiick.dthaus, 
Sciioch,   Schirmer).     Sorapeum    1870,    151.     Ifaiis    gmk    in    die   weit    nr.  08.     Adam 
Krieger,  Arien  (1657)  5,  3.   —  Konipuniert   von  Greg.  Iviliel,  .\ricn  (lOK!)  nr.   I    und 
.1.  M.  K'ubert,  Arieu   I,  10  (1647). 

Lxn'dnr  liiil  einst  die  seliaf  s.  45. 
Vcnusgäi'tli'in   1651)   s.  166.     Fl.    lilatt   der    Ijerliner   hihliothek    (Ye    1779).      Serapeum 
1870,   162  nr.  102.     Hans  guck  in  die  weit  nr.  29. 

Litstiy,   ich  liabe  die  licönle  beko/iniien  s.  400. 
Reraiieum  1^70,   162  nr.  43.     Hans  guck  in  dir  weit  nr.  25. 

X/oi  schleif,  niei)i  liebes  kindclcin  s.  17.  23. 
Böhme,  Altdeutsches  liederbuch  ur.  403.     Dänisch  bei  Brandt  ng  ILdwi'g,  Den  danske 
Psalmedigtning  1,  200  ur.  363  (1846). 

0  Lesbiu,  du  hirtciilust  s.  108.  130. 
A.Hammerschmied,   "Weltliche  öden    1,    10  (1612).     Text   von    Homburg,   Sclümplf- 
uud  crustliaö'te  Clio  2.  auü.  1642  bl.  Q  2  b. 

0  tcaincnhawu ,  o  tanucnbeium ,  du  bist  s.  415. 
Böhme,  Ad.  liederbuch  nr.  491. 

Wann  wird  denn  unser  aufltruch  seijn  s.  484. 
Birlingers  Alemannia  12.  77  nach  einem  11.  blatt  von   1635.     Eine  geistliclie  unidich- 
tung  (um  1G50)  auf  einem  tl.  blatt  iu  Berlin  Yd  7854,  8  und  einem  andern  Yd  7011,  53,  1. 

Wehe,  wiiulchoi,  u:ehe  s.  420. 
Böhme,  Ad.  liederbuch  nr.  507. 

Wil  sie  nicht,  so  nicuj  sics  lassen  s.  524. 
r.   Flemings   Gedichte  s.  435   imd   763   ed.    Lapiienliorg   (1863).    —    Komponiert   vim 
A.   Hammerschmied,    AVeltl.   öden    1,    16   (1612).    —    Nachgeahmt    von    Fiukelthaus, 
Lustige  lieder  1645  nr.  28,  komponiert  von  Dedekind,   Aelbianische  Museulust  (1657) 
bl.  G2b. 

Zeuch,  fahle,   \euch  s.  418. 
Böhme,   Ad.   liederbuch  ur.  510.     Alonatshefte    für    musikgeschichte    17,   92.      Bolte, 
Korr.  blatt  d.  Vereins  f.  niederdeutsche  sprachf.   10  (3)  30. 

Die  von  Ellinger  getroffene  aus  wähl  von  12  gcdichten  vergegenwärtigt  vortref- 
lich  den  charakter  der  reui;kerschen  dichtung.  Hier  und  da  wären  freilich  erklärende 
anmerkuugeu  erwünscht,  namentlich  bei  dem  s.  0  abgedruckten  wiegenliode  für  den 
kiu'prinzen  Karl  Emil  v.  j.  1655,  wo  übiigens  Nicolai  (Berlinische  l)lätter  1707,  3, 
65  —  96)  und  Louis  Schneider  (Schriften  d.  Vereins  f.  d.  gcsch.  der  stadt  Berlin  11, 
126.  1874)  gute  bemerkungen  zu  dem  hier  entworfenen  bilde  der  residenzstadt  geboten 
hätten.  Da  Peuckers  gcdichte  überhaupt  für  die  lokalgeschichte  besondern  wert  be- 
sitzen, so  hätte  der  herausgeber  denjenigen  seiner  leser,  die  sich  für  die  geschichte 
r)erlins  unter  dem  grossen  kurfürsten  interessieren,  die  biographischen  nachrichten 
über  Berliner  familien  in  einem  aliihabetischen  verzeichins  aller  gedichto  leichter  zu- 
gänglich machen  können. 

Zum  Schlüsse  mögen  noch  einige  biogra])hisuhe  und  bibliographische  nachtrüge 
folgen.     Das  goburtsjahr  Peuckers  1619,  das  s.V  nicht  angegeben  wird,  teilt  G.  G.  Kü- 


138  BOLTE,    tSKR    RKRLIN'ER    NEUDKüCliJi;    I,  3 

ster,  Altes  uucl  neues  Berlin  4,  470  mit:  „rcuckcr  f  a.  1674,  aetatis  55".^  Die  von 
E.  Friedländer  herausgegebene  matrikel  der  Universität  Frankfurt  a.  0. 1,  752a  verrät 
uns,  dass  „Nicolaus  Peucerus  Jaurauus  Süesius"  im  herLst  1642  immatrikuliert  wurde.^ 
Dass  er  1644  noch  in  Frankfurt  weilte,  ergibt  sieb,  aus  einem  an  den  abreisenden 
studiengenossen  Martin  Friedrich  Seidel  aus  Berlin  gerichteten  gedichte:  „Drewcstu 
schon  wegzuziehen"-'.  Wann  er  nach  Berlin  kam,  scheint  ungewiss;  woher  Ellingers 
angäbe  s.  VI:  1641  oder  1642  stanit,  vermag  ich  nicht  zu  sagen;  nacli  dem  eben 
bemerkten  ist  sie  mindestens  fraglich.  Im  jähre  1654  wurde  er  zum  stadtrichter  in 
Colin  ernant;  vgl.  das  im  Bär  1,  78  (1875)  abgedruckte  gedieht. 

Von  einzeldrucken  Peuckorscher  gedichte  bosizt  die  Königliche  bibliothek  zu 
Berlin  vier  nummern: 

1)  Paucke.   Berlin,  Christoff  Runge  1650.   4  bl.    4°  (=  Samlung  von  1702  nr.  1). 

2)  Lämmerknecht.  Ebd.  1652.  4  bl.  4°  (zur  hochzeit  von  Joh.  lleinzelman  und 
Sophie  Zieritz.  =  1702  s.  339). 

3)  Arm  und  Eeich.  Guben,  G.  Schnitze.  1664.  2  bl.  4°  (auf  den  tod  von  Hed- 
wig Marie  von  Haake,  geb.  Schlabberndorff):  „Stirbet  heut  ein  Lazarus." 

4)  Der  Fuchs  kreucht  zu  Loche.  Kölln,  G.  Schnitze  1674.  2  bl.  4"  (zur  hoch- 
zeit von  Paul  Fuchs  und  Luise  Friedeborn):  „Dem  churfürst  Friedrich  Wilhelm  trawt." 

Ausserdem  verdanke  ich  der  gute  des-herrn  schulvorstehers  F.  Budczies  noch  die 
mitteilung  mehrerer  gedichte  P.'s,  die  sich  in  den  leichenpredigten  der  bibliothek  des 
gyranasiums  zum  Grauen  kloster  finden:  1)  auf  den  tod  der  Jungfrau  Eva  Cath.  Brun- 
nemaun  (1651),  —  2)  auf  den  des  amtskammerrats  Reichard  Dieter  (1655),  —  3)  auf 
den  des  oberzeugmeisters  Elias  Francke  (1660);  vgl.  die  grabschrift  bei  Küster  4,  483, 
—  4)  die  lateinisch  -  deutsche  grabschrift  des  advokaten  Krause  (1656). 

BERLIN.  JOHANNES    BOLTE. 


MISCELLEN. 

Ein  l>rief  Schillers. 

Weimar  17.  Jenn.  1802. 

Ich  habe  an  Opitz  geschrieben,  dass  er  Dir  auf  Dein  Ansuchen  Abschriften 
von  der  M[aria]  St[uart]  und  der  J[uugfrau]  v[ou]  0[rk'ans]  verabfolgen  laßen  könne. 
Du  hast  Dich  also  delihalb  unmittelbar  an  ihn  zu  wenden.  Ich  will  Dir,  außer  die- 
sem, eine  Abschrift  von  meiner  neuesten  Arbeit,  der  Turaudot,  die  ich  nach  Gozzi 
neu  bearbeitet  habe,  zusenden,  sobald  ich  eine  Abschrift  davon  habe.  Dafür  aber 
erbitte  ich  mir,  als  einen  gegendienst,  daß  Du  für  den  jungen  ELölzlin,  der  sich 
beim  Theater  zu  Mannheim  aufhält,  etwas  thun  mögest.  Seine  armen  Aeltern  haben 
mir  bei  meinem  Aufenthalt  in  Mannheim  Freundschaft  [b]  erwiesen,  sie  sind  jezt  in 
Übeln  Umständen,  die  arme  Mutter  hat  sich  an  mich  gewendet,  und  ich  wünschte 
herzlich  gern  etwas  zu  ihrer  Erleichterung  beizutragen.  Laß  uusre  Freundschaft,  die 
jezt  wieder  neu  auflebte  und  wie  ich  sicherlich  hoffe  ununterbrochen  fortdauern  wird, 

1)  Audi  3,  398  nomit  Küster  1674  als  todes.jahr;  somit  ist  wol  die  3,  463  gonauto  zalü  1675  ein 
druckfeliler. 

2)  Ebenda  1,  749b  (sommer  1642)  findet  sich  „Heinricus  Ileldt  üuranus  Silesius." 

3)  Propomptica ,  quibus  M.  F.  Soidolio  Berolinonsi  ex  inclyta  patriae  acaderaia  in  exteras  aca- 
doiuias  atquo  rogionos  studia  sua  transl'orenti  bono  ominabantur  fautoros ,  convictores  atque  amici  1644. 
4^  (im  Berliner  Mscr.  boruss.  fol.  200).  Atich  Heinrich  Hold  imd  Joh.  Francus ,  mit  denen  Seidel  eine 
poetische  geuossenscliaft  gestiftet  hatte,  sind  hier  durch  ein  deutsche.s  und  lateiuisclies  gedieht  vertreten. 


SUSCKLLE.V  139 

duicli  die  guteu  Wünsche  einer  Familie,  die  uns  beiden  ilu'e  Vcrljcswerung  dankt, 
eingeweiht  und  versiegelt  werden. 

Die  Turandot,  die  Du  wahrscheinlich  aus  Gozzi  schon  kennst,  ist  ein  Stück, 
welches  auf  jeder  Bühne  und  hesouders  bei  einem  frühlichen  sinnlichen  Publikum, 
Glück  machen  wird.  Auch  ist  in  dem  Stück,  da  es  in  China  spielt  und  bloß  fabel- 
hafte Verhältnisse  behandelt,  nichts  woran  auch  das  reizbarste  Publikum  Anstoß  neh- 
men könnte,  [c]  Sie  wii'd  bald  in  Dresden  gespielt  worden,  dieß  ist  in  Absicht  auf 
Oeusur  etc.  alles  gesagt. 

Es  thut  mir  sehr  leid,  daß  Du  Dich  über  I[fflaud]  zu  beklagen  hast.  Freilich 
mögen  die  Verhältnisse,  die  ihn  treiben  und  drängen,  seine  Stimmung  verändert 
haben.  Er  hat  als  Director  d[es]  Th[eators]  ein  böses  Schiff  zu  regieren,  er  ist  als 
Schauspieler  und  als  Dichter  im  Kampf  mit  dem  Partlieigeist  und  dem  Zeitgeschmack, 
er  will  erworben  und  reich  werden,  und  es  federt  schon  den  ganzen  Mann,  sich 
im  Besitze  zu  erhalten.  Das  kann  ihn  däucht  mir  bei  einem  nachsichtigen  Freund 
entschuldigen,  wenn  er  sich  nicht  immer  gleich  bleibt;  aber  eine  Jugendfreundschaft 
wie  die  eurige  ist  unzerstörbar  und  ich  zweifle  nicht,  ihr  werdet  einander  wieder 
finden. 

[d]  Charlotte  Kalb  hat  Lust  wieder  von  Erlangen  weg  und  nach  "Weimar  zu 
ziehen.  Ich  weiß  nun  zwar  nicht,  ob  sie  sich  hier  wieder  gefallen  wird;  aber  ich 
freue  mich  doch  sie  wieder  zu  sehen  und  wünsche  zu  Ihrem  Wohlbefinden  etwas 
beitragen  zu  können. 

Deinen  Vorschlag  wegen  einer  Reise  nach  Mannheim  wünschte  ich  ausführen 
zu  können,  aber  in  dem  nächsten  Frühjahr  kann  es  noch  nicht  geschehen,  eher  im 
künftigen  Jahr  wo  ich  eine  Reise  nach  Schwaben  und  der  Schweitz  damit  verbinden 
möchte. 

Lebe  recht  wohl,  empfiehl  mich  Deiner  Frau  und  erhalte  mir  Deine  Liebe. 

SCHILLER. 

Den  oben  abgedruckten  brief  verdanke  ich  herru  Rudolf  Valdek,  schriftsteiler 
in  Wien.  Er  ist  an  Heinrich  Beck  in  Mannheim  gerichtet  und  wurde  von  diesem 
am  8.  felniiar  1802  beantwortet;  s.  Speidel  und  Wittmann,  Schillcrbilder  (Berlin  und 
Stuttgart,  Spemann  o.  J.)  s.  171  fgg.  minor. 


NEUE   ERSCHEINUNGEN 


Bötticher,  G.  mid  Kiuzcl,  K.,  Denkmäler  der  älteren  deutschen  litteratur 
für  den  litteraturgeschichtlichen  Unterricht  au  höheren  leh ranstalten.  IL:  Die 
höfische  dichtung  des  mittelalters.  2:  der  arme  Heinrich  und  Meier 
Helm  brecht.  HaUe  a/S.,  buchhandlung  des  Waisenhauses,  1891.  124  s.  0,90  m. 
Dieses  bändchen  ist  ebenso  wie  die  anderen  bereits  erschienenen  der  samlung 
vortrcflich  geeignet,  dem  auf  dem  titel  angegebenen  zwecke  zu  dienen.  Eine 
knappe ,  aber  scharf  charakterisierende  einleitung  orientiert  über  Hartmann  von  Aue ; 
besonders  dankenswci-t  ist,  dass  charakteristische  proben  aus  mehreren  seiner  werke, 
sowie  die  bekante  äusserung  Gottfrieds  von  Strassburg  über  ihn  im  mhd.  original 
beigegeben  sind;  ebenso  eine  (vielleicht  zu  sehr  zusammengedrängte)  Inhaltsangabe 
des  „Iwein"  und  „Erec".  Den  „armen  Heinrich"  hat  der  herausgeber  mit  dem 
sichtlichen    bestreben  übersezt,    bei  einer  im   wesentlichen  treuen    widergabe   des 


140  NEUE    ERSCHEINUNGEN" 

Sinnes  doch  zwanglos  Üicsseude  nhd.  verse  zu  gehen;  manche  feinheit  des  Originals 
muste  freilich  dabei  geojifert  werden.  Sehr  gut  gehuigen  ist  die  Übertragung  des 
„Meier  Heinibrecht".  Die  den  beiden  werken  beigegebenen  anmerkungen  geben 
klare  sachliche  erläuterungen  und  regen  zum  nachdenken  an.  o.  e. 

Brate,  E.  och  S.  Bug'ge,  Ruuverser.  Undersökniug  af  Svoriges  mctriska  runiuskrif- 
ter.     Stockholm  1891.     442  s.     8. 

Burkhardt ,  C.  A.  H.,  Das  repertoire  des  Weimarischen  theaters  unter 
Goethes  leitung  1791  —  1817.  (Theatergeschichtliche  forschungen,  herausgeg. 
von  B.  Litzmann.    I.)     Hamburg,  Leop.  Voss,  1891.     XL  u.  152  s.     3,50  m. 

Die  einlcitung  schildert  die  inneren  ixnd  äusseren  Verhältnisse  des  Weiniarischen 
theaters  und  gibt  die  quellen  au,  die  dem  herausgebor  vorlagen.  Es  folgt:  A.  Chro- 
nologisches Verzeichnis  sämtlicher  nachweisbaren  aufführungon  (mit  einschluss 
der  vom  Weimarer  theater  in  Erfurt,  Halle,  Lauchstädt,  Leipzig,  Rudolstadt  ge- 
gebenen gastvorstellungen).  B.  Alphabetisches  Verzeichnis  der  di'amen  (mit 
einschluss  der  opern),  ballette,  musikaufführungen ,  prologe  und  epiloge.  Die  auf 
den  theaterzotteln  oft  fehlenden  verfassernamen  sind  vielfach  ergänzt. 

Drescher,  Karl,  Studien  zu  Hans  Sachs  I.  Hans  Sachs  und  die  heldensage.  Berl. 
1891.     (Acta  Germanica  H,  3.)     VEI,  105  s.     8. 

Goldbeck -Löwe,  A. ,  Zur  geschichte  der  freien  verse  in  der  deutschen  cüchtung  von 
Klopstock  bis  auf  Goethe.   (Kieler  diss.)   München,  A.  Buchholz,  1891.   82  s.    2  m. 

Hartmauu  von  Aue,  Iwein  herausgegeben  von  Emil  Henrici.  Erster  teil:  text. 
(Germanistische  handbibliothek  Vni.)  Halle  a/S.,  buchhandlung  des  Waisenhauses, 
1891.     388  s.     8  m. 

Der  text  ist  nach  vergloichung  aller  handschriften  in  neuer  recension  gegeben. 
Am  raude  ist  in  genauen  zahlencitaten  auf  die  entsprechenden  verse  aus  Christian 
von  Troyes  verwiesen;  unter  dem  texte  steht  der  volständige  kritische  apparat,  so- 
wie m  besonderer  abteilung  die  abweichungen  des  Lachmannschen  textes.  Wir  be- 
halten uns  vor,  nach  erscheinen  des  zweiten  bandes  (einleitung  und  erläuterungen) 
die  kritischen  und  exegetischen  fortschritte  dieser  ausgäbe  eingehend  zu  besprechen. 
Auf  der  Müncheuer  philologenversamlung  hat  Henrici  über  seine  kritischen  grund- 
sätze  vertrag  gehalten. 

Ilerrinanowski,  dr.  Paul,  Die  deutsche  götterlehre  und  ihre  Verwertung  in  kunst 
und  dichtung.     Berl.  1891.     2  bände.     IV,  284  und  VI,  278  s.     8. 

Heusler,  Andreas,  Zur  geschichte  der  altdeutschen  verskunst.  [Germanistische  ab- 
handlungen  herausgeg.  von  K.  Weinliold.  VIII.]  Breslau,  ^Y.  Koebner,  1891. 
VIII  u.  IUI  s.     5,40  m. 

Hirzel,  L.,  AVieland  und  Martin  und  Regula  Künzli.  üngedruckte  briefc  und  widcr- 
aufgefundone  aktenstücke.     Leipzig,  G.  Hirzel,  1891.     VI  u.  240  s.     5  m. 

Die  Veröffentlichung  von  16  briefen,  welche  Wioland  zwischen  1750  und  1759 
von  Zürich  aus  an  Martin  Künzli  (Ichrer  an  der  Stadtschule  in  A\'interthur)  und 
dessen  Schwester  Regina  (geboren  1718)  richtete,  wird  eingeleitet  durch  eingehende 
mitteilungen  über  den  lebensgang  und  die  schriftstcllerisclie  Wirksamkeit  Küuzli's, 
sowie  über  das  geistige  leben  des  damals  um  Bodmer  sich  scharenden  kreises. 
Auf  die  Stellung  dieser  männer  zu  den  litterarischen  bewegungen  in  Leipzig  und 
Berlin,  sowie  auf  Wielands  leben  unter  ihnen  fält  manches  neue  licht.  Im  an- 
hange veröffentlicht  Hirzel  unter  anderem  einen  nicht  uninteressanten  brief  Gleims 
an  Wieland  vom  10.  märz  1755,  sowie  einen  von  Klopstock  noch  am  12.  decbr.  1752 


NEUE    ERSnrEINUNOEN  141 

aus  Kopeiiliagcii   an  Bodmcr  genchtetoii   brief  (weshalb  diesen  mit  auslassungenV), 
über  den  Künzli  höchst  philisterhaft  aburteilte  (s.  145). 

Iljclmqvist,  Thcortor,  Natui-skildringarna  i  dou  uorröna  diktningen.  Stockh.  1891. 
IV,  -218  s.     gl-.  8. 

Jahresbericht  über  die  ersclicinuugcn  auf  dem  gebiete  der  germanischen  philologie 
hrg.  von  der  geselscliaft  für  deutsche  philologio  in  Berlin.  12.  Jahrgang.  1890. 
1.  abt.  Lpz.  1891.  128  s.  8.  —  Dies  trefliche  bibliographische  lülfsmittel,  das 
den  facligelehrtcn  längst  unentbehrlich  geworden  ist,  sei  auch  weitereu  kreisen, 
namentlich  den  licrren  direkteren  höherer  schulen,  warm  empfohlen. 

Jelliii;?haus,  H. ,  Armiuius  und  Siegfried.  Kiel  und  Leipzig.  1891.  38s.  8.  Im. — 
Der  herr  Verfasser,  der  sich  durch  seine  arbeiten  auf  dem  gebiete  der  nieder- 
deutschen Sprache  und  litteratur  wolverdient  gemacht  hat,  betritt  hier  mit  weniger 
glück  den  boden  der  deutschen  heldensage,  indem  er  den  hofnungslosen  versuch 
unternimt,  die  hypotbesen  von  GuSbr.  Vigfüsson  und  Scbierenberg  (!)  zu  stützen. 
Die  Nibelungensage  in  eine  politische  allegorie  aufzulösen,  ist  nicht  minder  ver- 
fehlt, als  in  ihr  eine  darstellung  chemischer  processe  zu  erblicken. 

Kettiier,  E. ,  Untersuchungen  über  Alphaiis  tod.  Gymn.-progr.  Mühlhausen  i.  Thüring. 
1891.     52  s. 

1.  Algemeine  Vorstellungen  und  anschauungen  des  dichters.  2.  Epische  tocluiik. 
3.  Stil.     4.  Stellung  des  Alphart  iunerlialb  der  volksepik. 

Leitzmauii,  Albert,  Uutersucliuugen  über  Berthold  von  Holle.  Habilitationsschrift. 
Jena  1891.     48  s. 

Seegers,  H. ,  Neue  beitrüge  zur  textkritüv  von  Ilartmanns  Gregorius.  Kieler  diss.  1891. 
Leipzig,  G.  Fock.     47  s.     I,ö0  m. 

1.  Die  lateinische  dichtung  Arnolds  von  Lübeck  und  ihr  Verhältnis  zum  deut- 
schen original.  2.  Die  von  Schmeller  edierte  lateinische  Gregordichtung  zfda.  2,  486  fgg. 
3.  Über  die  einleitung  zu  Hartmanns  Gregorius.  —  Die  lesarten  der  Konstauzer 
handschrift  sind  durchweg  berücksichtigt. 

Vglsuiiga  saga.  Nach  Bugges  text  mit  einleitung  und  glossar  herausg.  von  Wilh. 
Ramsch.     Berlin  1891.     XVni,  21G  s.     8.     3,G0  m. 

Weiuhold,  K.,  Mittelhochdeutsches  lesebuch.  Mit  einem  metrischen  aiihang 
und  einem  glossar.  4.  aiiflage.  Wien,  W.  Braumüller,  1891.  IV  u.  28G  s.  4  m. 
Der  abriss  der  grammatik  ist  fortgeblieben,  weil  durch  Weinholds  kleine  mhd. 
grammatik  (2.  aufl.  1889)  ersezt;  das  bixch  ist  dennoch  gegen  die  3.  aufläge  um 
10  Seiten  stärker  geworden  durch  einige  neu  aufgenommene  lesestücke  (Parz. 
224,1  —  248,8;  Neithart  ed.  Haupt  .57,  24  — 58,  24;  stücke  aus  der  Limburger 
Chronik  als  proben  eines  md.  dialektes),  sowie  durch  erweiternde  Umarbeitung  der 
eiuleitungeu ,  der  anmerkungen  und  des  glossars.  Das  buch  ist  zur  einfülirung  in 
mhd.  lektüre  auch  für  Studenten  sehr  geeignet,  namentlich  wegen  der  manuigfaltig- 
keit  seines  Inhaltes. 

Zeliine,  A. ,  Über  bedeutung  und  gebrauch  der  hülfsverba.  I:  soln  und  müe^en  bei 
Wolfram  von  Eschenbach.     Halle,  diss.  1890.     55  s.     Leipzig,  G.  Fock.     1,50  m. 

Zinzow,  Adolf,  Die  erst  sächsisch  -  fränkische ,  dann  normannische  Mimiannsage  nach 
Inhalt,  deutung  und  ui'sprung.  Progr.  des  Bismarck - gymn.  zu  Pyritz.  1891. 
20  s.     4.. 


142  NACHRICHTEN 

NACHRICHTEN. 

ARTHUR  REEVES  f. 
In  der  nacht  vom  27.  auf  den  28.  februar  1.  j.  gieng  mir  aus  Richmond,  Indiana, 
Vereinigte.staaten  von  N.-A.,  ein  telegranim  zu  mit  der  kurzen  meidung:  „ Aithur  Keeves 
kQled  railroad  accident",  und  heute  erhalte  ich  durch  die  gute  des  lierrn  professors 
Ed.  P.  Evans,  viceconsuls  der  vereinigten  Staaten  dahier,  eine  nunimer  des  Boston 
Weekly  Transcript's  vom  27.  februar,  welche  berichtet,  dass  am  25.  abends  auf  der 
fahrt  von  Chicago  nach  Cincinnati  ein  eisenbahnunfall  eingetreten  sei,  bei  welchem 
der  genante  mit  mehreren  anderen  pei'souen  verunglückte.  Im  vorigen  jähre  hat 
A.  Reeves  unter  dem  titel  „The  Unding  of  Wineland  the  good"  (London,  Heniy  Frowde) 
eine  vortrefliche  ausgäbe  der  auf  die  entdeckung  Vinlands  bezüglichen  (juellen  mit 
facsimile's  der  haudschriften ,  Übersetzung,  sowie  sehr  beachtenswerten  vorberichten 
und  anmerkungen  herausgegeben,  ein  werk,  welches  im  anschlusse  an  G.  Storm's 
grundlegende  Untersuchungen  (Aarboger  for  nordisk  oldkyudighed  og  historie,  1887) 
der  zumal  in  Amerika  noch  hei'schenden  Verwirrung  der  ansichten  über  die  Vinlands- 
fahrten  der  alten  Nordleute  ein  ende  zu  machen  geeignet  ist.  Zulezt  war  er  mit  einer 
englischen  Übersetzung  der  Laxdsela  beschäftigt  gewesen,  von  der  ich  dahingestelt 
lassen  muss,  ob  sie  bereits  zum  abschlusse  gediehen  ist.  In  der  schule  des  um  die 
altnordischen  Studien  hochverdienten  professors  W.  Fiske  herangebildet,  schien  der 
ebenso  liebenswürdige  als  arbeitsame  junge  mann  noch  eine  lange  reihe  tüchtiger  lei- 
stungen  auf  diesem  gebiete  zu  versprechen;  das  unerbitlichc  Schicksal  hat  diese  hof- 
nungen  abgeschnitten  und  nur  dem  wünsche  rauni  gelassen,  dass  dem  zu  früh  ge- 
schiedenen die  erde  leicht  und  bei  seineu  fachgenossen  ein  ehrendes  andenken  gosicliert 
sein  möge! 

MÜNCHEN,    DEN    18.  RlCrZ    1891.  K.    MAURER. 

Am  2.  feliruar  d.  j.  verschied  zu  Boppard  a/Rh.  an  den  folgen  einer  gehirnge- 
schwulst  der  langjährige  bibliothekar  an  der  Breslaucr  universitäts  -  bibhothek  prof.  dr. 
Hermann  Oosterley.  Geboren  zu  Göttingen  am  14.  juui  1833  als  söhn  des  spätem 
bürgermeisters  und  neffe  des  im  frühjahr  1891  ebeufals  verstorbenen  hannoverschen 
hofmalers,  zog  ihn  seit  friihester  Jugend  die  musik  so  mächtig  au,  dass  er  in  kind- 
licher einbildungskraft  ein  „zweiter  Beethoven"  zu  werden  ersehnte  und  sich  nach- 
mals an  der  Universität  Kiel  für  musik  und  deren  geschichte  habilitierte.  Nach  einer 
mehrjährigen  Wirksamkeit  (1858  —  62),  der  es  an  anerkennung  nicht  fehlte  —  eine 
glänzende  empfehlung  für  die  stelle  eines  kgl.  hofkapolmeisters  war  die  folge  —  trat 
er  indessen  zum  bibliotheksberuf  über.  Im  Oktober  1862  hilfsarbeiter  an  der  damals 
bedeutendsten  bibliothek  Norddeutschlands,  der  Göttinger,  rückte  er  1866  zum  seci-etär 
daselbst  vor,  kam  als  custos  1872  nach  Breslau  und  hat  hier  (seit  1876  mit  dem 
titel  bibliothekar,  seit  1882  auch  mit  dem  professortitel)  bis  wenige  monate  vor  seinem 
abscheiden  gewirkt. 

Oestorley's  litterarische  tätigkeit  war  umfassend  und  vielseitig.  Seine  doctor- 
dissertation  (1855)  war  ein  „Ahriss  der  geschichte  der  philosophischen  beweise  für 
das  sein  gottes".  Dann  veröffentlichte  er  schritten  über  theorie  der  musik  und  über 
liturgik,  sowie  eine  reihe  philologischer  und  historischer  werke.  Hier  interessieren: 
Die  dichtkunst  und  ihre  gattungen.  Mit  einer  vorrede  ron  Karl  Goedeke  (1870); 
Niederdtsch.  dichhmg  im  m.-a.  Als  XII.  buch  der  dtsch.  diehtung  im  m.-a.  ron 
K.Qoedeke  bearbeitet  (1871).  Zahlreiche  ausgaben  älterer  texte  und  scliriftsteller  ver- 
anstaltete er  und    stattete    sie    mit    zum    teil    sehr    umfangreichen    einleitungen    und 


XACHRirilTEN  143 

anhängen  aus.  In  der  bibliothek  des  iStiittgaiter  litt,  veroins  gab  er  heraus:  Panli's 
Schimpf  H.  Ernst  (1800);  H.W.  Kirehhof's  Wemlemmd  I—V  {ISmilO);  Steinhöwel's 
Aesop  (1873);  Sinioii  Dach  (1870).  Eine  kloinoro  ausgäbe  des  leztgenanten  erschien 
fast  gleichzeitig  als  lul.  IX  der  Goodeke-Tittniann'schcn  Dichter  des  IT.jhdfs. 

A^^n  andein  ausgaben  seien  genant:  Shakespeare' s  Jest  Book  (London  1800); 
Ro)hhIu.'<.  Die  paiaphrasoi  des  Phaednis  it.  die  aesopische  fahel  im  vi.-a.  (1870); 
Qesta  Romanorum  (1872);  Bibliothek  orientalischer  märchen  utul  erxählimgcn  I. 
Baital  Pachisi  (1873);  Johannes  de  Atta  Silva  Dolopathos  sire  de  rege  et  VIT  sa- 
picntilnis  (1873).  Leztgcnanter  text,  die  vorläge  zu  dem  altfranz.  Dolopathos  des 
Herbert  V.  Metz,  war  von  den  romanistcn,  namentlich  Adolf  Mussafia,  jalire  lang  ver- 
geblich gesucht  worden.  Oostorley  hatte  ihn  in  der  Athonacums  -  bibliothek  zu  Luxem- 
burg wieder  aufgespüi-t.  Freilich  liat  die  flüclitigkeit  der  ausgäbe  gerade  dieses  textes 
das  verdienst  des  horausgebors  stark  verdunkelt. 

Auch  neueren  autoren  hat  er  seine  aufmcrksanikeit  zugewaut:  er  ist  niitarl>eiter 
au  der  Goodeke'schen  grossen  kritisclieu  »Sc/^ ///er -ausgäbe  gewesen  und  hat  Seume's 
Spa-.icryang  nach  Sgrakns  neu  veröffentlicht.  Eine  grosse  zahl  Zeitungsartikel,  auf- 
sätze  u.  dgl.  mag  hier  nur  vorübergehend  erwähnt  werden. 

"Was  Oesterley  auszeichnete,  war  eine  bewundernswerte  spankraft  und  Intelli- 
genz, die  ihn  befähigte  die  verschiedenartigsten  materieu  zu  umfassen  und  schnell  zu 
durchdringen,  sowie  eine  frische  und  klare  ai;ffassung,  wie  sie  polyhistorisch  oder 
bibliothekarisch  veranlagten  naturen  nicht  eben  eigen  zu  sein  pflegt.  Was  ihm  abgieng 
oder  doch  in  folge  äusserer  lebcusumstände  niclit  zu.r  geltung  kam,  war  sinvolles 
verweilen  auch  bei  dem  kleinen  und  einzelnen.  Damit  hängt  es  zusammen,  dass 
einem  teile  seiner  arbeiten  der  Vorwurf  ungenügender  ausreifung  niclit  ganz  erspart 
werden  kann,  wäbrend  sonst  der  umfang  und  die  Vielfältigkeit  seines  wirkens  in  hohem 
grade  acbtung  verdient. 

(Nach  freundlichen  mitteilungen  von  dr.  Emil  Seclmann  in  Breslau.) 


Am  3.  februar  starb  zu  Kopenhagen  der  ehemalige  rector  der  kathedralschule 
zu  Aarhus,  di".  G.  E.  Y.  Lund,  Verfasser  einer  altnordischen  syntax  (oldnordisk  ord- 
föjningslfere)  und  eines  Wörterbuches  zu  den  altdänischen  gesetzen,  70  jähre  alt. 

Am  20.  april  verschied  im  04.  lebensjahi'e  zu  Kiel  prof.  dr.  Gottfried  Hein- 
rich Handelmann,  direkter  des  Schleswig -Holsteinischen  museums  vaterländischer 
altertümer,  Verfasser  einer  reihe  von  schritten  über  altertumskunde  und  Sittengeschichte. 

Am  25.  mai  verschied  zu  Bonn  der  ausserordentliche  professor  dr.  Karl 
Gustaf  Andresen  (geb.  1.  juin  1813  zu  Ütersen).  Die  Zeitschrift  für  deutsche  phi- 
lologie,  die  in  dem  dahingeschiedenen  einen  langjährigen,  treuen  mitarbeiter  betrauert, 
wird  ihm  ein  dankbares  augedenken  bewahren. 


Der  ord.  professor  dr.  M.  v.  Lexer  in  Würzburg  folgt  einem  rafe  nach  Mün- 
chen. An  der  Universität  Jena  hat  sich  dr.  Albert  Leitzmann  für  germainsche 
Philologie  habilitiert;  ebenso  in  Bern  dr.  S.  Singer,  in  Halle  dr.  John  Meier,  in 
Berlin  dr.  Max  Herrmann. 

Die  „Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche  und  litteratur"  werden 
unter  fernerer  mitwirkung  ihrer  begründer  vom  16.  bände  ab  von  prof.  dr.  E.  Sie- 
vers in  Halle  a/S.  herausgegeben  werden. 


144  XACHRICHTEX 

Im  Verlage  von  M.  Nicmeyev  in  Hallo  a/S.  wird  unter  dem  titel  Saga- 
bibliothek eine  samlung  der  wichtigsten  altnordischen  prosadcnkmäler  mit  deut- 
schen, erklärenden  anmerkmigeu  erscheinen.  Die  redaction  haben  dr.  Gustaf  Ceder- 
schiöld  in  Lund,  prof.  dr.  Hugo  Gering  in  Kiel  und  dr.  Eugen  Mogk  in  Leipzig 
überiionmien.  Zunächst  wei'deu  herausgegeben  werden:  Droplaugarsona  saga  (G.  Mor- 
genstern); Egils  saga  (Finnur  Jünssou);  Eyrbyggja  (H.  Gering);  Flores  saga  ok  Blan- 
Mflür  (E.  Kölbing);  Gunnlaugs  saga  (E.  Mogk);  Hallfredar  saga  (Th.  Wisen);  Halfs 
saga  (Er.  Kautfmann);  Häkonar  saga  (G.  Storni);  Isleudiuga  bok  (W.  Golther);  Joms- 
vikinga  saga  (C.  af  Petersens);  Mägus  saga  (G.  Cederschiöld) ;  Ragnars  saga  lodbrokar 
(R.  C.  Beer);  Sverris  saga  (G.  Storni);  Vglsunga  saga  (B.  Sijmons);  Qrvar-Odds  saga 
(R.  C.  Beer).  Als  notwendige  hilfsmittel  werden  der  saga-bibliothek  hinzugefügt 
werden:  ein  kurzgefasstes  altnordisches  Wörterbuch  und  ein  handbuch  der 
nordischen  alter  tum  er.  Die  bearbeitung  des  ersteren  Werkes  hat  Palmi  Päls- 
son  in  Reykjavik  übernommen. 


Beneke'sche  preisaufgabe  für  das  jähr  1894.  Gewünscht  wird  eine 
geschichte  der  deutschen  kaiserlichen  kanzleisprache  von  ihren  anfan- 
gen bis  auf  Maximilian,  die  in  angemessenen,  zeitlich  begi'enzteu  abschnitten  das 
constante  und  das  schwankende  in  den  laut-  und  flexionsverhältnissen ,  sowie  mög- 
lichst auch  in  wortI)ildung  und  Wortwahl  zur  anschauung  bringt  und  mundartlich  er- 
läutert. Eine  beschränkung  auf  das  lautliche  MÜrde  nicht  genügen;  benutzuug  unge- 
druckten materials  wird  nicht  verlangt.  Äussere  Verhältnisse,  wie  der  wechselnde  sitz 
der  kanzlei,  heiniat  und  litterarische  beziohuugen  der  kaiser  und  kanzleivorstäude,  die 
herkunft  der  Schreiber,  der  einfluss  wichtiger  reichstage,  etwaige  rücksicht  auf  die 
mundart  der  adressaten  sind  eingehend  zu  beriicksichtigen  und  darzulegen.  Auch  das 
Verhältnis  der  kaiserlichen  kanzleisprache  zu  den  anfangen  einer  oberdeutschen  xoivrj 
im  14.  und  1.5.  Jahrhundert  darf  nicht  ausser  acht  bleiben:  namentlich  wird  zu  unter- 
suchen sein ,  ob  die  spräche  der  Nürnberger  kanzlei  auf  die  der  kaiserlichen  eingewirkt 
habe,  oder  umgekehrt.  Erwünscht  ist  es  endlich,  dass  an  der  spräche  der  Urkunden 
und  der  ältesten  drucke  einiger  ausserbairischen  litterariscben  centren  Süddeutschlands 
die  bedeutung  der  kaiserlichen  kanzlei  für  die  milderung  der  mundaiilichen  gcgensätze 
im  1.5.  Jahrhundert  geprüft  werde:  neben  Nürnberg  käme  etwa  Augsburg,  für  das  vor- 
arbeiten vorliegen,  und  Strassburg  in  betracht. 

Bewerbungsschriften  in  deutscher  spräche  sind  bis  zum  31.  augnst  189H  mit 
einem  spruche  auf  dem  titelblatte  an  die  philosophische  facultät  zu  Göttingen  einzu- 
senden mit  einem  versiegelten  briefe,  welcher  auf  der  aussenseite  den  Spruch  der  ab- 
handlung,  innen  namen,  stand  und  Wohnort  des  Verfassers  anzeigt.  In  anderer  weise 
darf  der  name  des  Verfassers  nicht  angegeben  sein.  Auf  dem  titelblatte  der  arbeit 
muss  forner  die  adresse  bezeichnet  sein,  an  welche  die  arbeit  zurückzusenden  ist, 
falls  sie  nicht  preiswürdig  befunden  wird. 

Der  erste  ju-eis  beträgt  1700  m.,  der  zweite  GBO  m.  Die  zuerkennung  erfolgt  am 
1 1  niärz  1894.    Die  gekrönten  arbeiten  bleiben  unbeschränktes  eigoutum  der  Verfasser. 


Halle  a.  S. ,   Buciuh uckerei  des  Waisenhauses. 


BEITiiÄGE  ZUR  DEUTSCHEN  MYTliULOGTE. 

1.     Der   todesiiott    alul.    liciiiio    Wotaii  =  3loreurius. 

Die  niytli()!()i;-ischo  foischung-  hat  bis  auf  unsere  tage  der  gescliichto 
des  kaltes  geriug-e  beachtung  geselieukt.  S(Mtdem  aber  die  hohc^  Wich- 
tigkeit dieser  geselHeiitHcheu  grundhige  gewürdigt  wird,  ist  i'eiclier 
erfolg  der  lohn.  In  Weinholds  abhandlung  „über  den  niytlius 
vom  Wanenkrieg"  ^  erscheineu  unklare  Verhältnisse  durch  die  övt- 
liclie  und  zeitliehe  scheiduug  der  kulte  geläutert.  Auf  solchem  wege 
nur  kiinnen  wir  dahin  gelangen,  die  niannigfaclKni  Widersprüche  zu 
lösen,  die  in  den  deutscheu  göttergestalten  unseres  mittelalters  her- 
schen.  Weiuhuld  hat  die  ausbreitung  des  Wödanglaubeus  verfolgt 
uud  den  zusammeustoss  des  Anseukultes  mit  dem  Wanenkidte  als 
kämpf  der  chthonischen  mächte  gegen  die  götter  des  lichtes  erwiesen. 
Dieser  kiieg  hat  zu  einem  religionsfriedeu,  uämüch  zur  aufnähme  der 
Waneu  unter  die  Anseu  geführt.  Einerseits  wird  die  erscheiuung  der 
götter  im  lichte  dieser  auffassung  einheitlicher  und  klarer,  denn  sie 
erlaubt  uns,  viele  verAvirrende  züge  auszuscheiden 2;  anderseits  aber 
werden  wir  dem  seeleuglauben  luid  totenkult  der  Germanen,  dessen 
reste  sich  in-  sage,  sitte  und  brauch  bis  heute  bewahrt  haben,  in  höhe- 
rem masse  als  bisher  gerecht,  wenn  wir  in  dem  ursprünglichen,  dem 
himmelsgotte  *Tiirax  gegenüberstehenden  "^'Woilrmax  eine  macht  der 
erde,  den  gott  des  todes  und  der  finsternis,  erkennen.  ZAveifel  an  die- 
ser auffassung  könte  erregen,  dass  bisher  in  keiner  bezeichnung  des 
höchsten  gottes,  weder  in  dem  hauptnamen  ^Woäcütcc  (vgl.  lat.  rotes, 
altir.  f/ifJi)  noch  in  seinen  vielen  beinamen  eine  tatsächliche  anknüpfung 
an  den  todesgott  erwiesen  ist,  denn  in  Requalivalian ,  Y(jf/r,  Ygg- 
jüngr  und  IMhlindi  ist  doch  höchstens  eine  indirekte  beziehung  zu 
sehen.     Diesen  zweifei  zu  beseitigen,  ist  die  aufgäbe  meiner  abhandlung. 

1)  Sitz.uugsberiehto  der  köuigl.  prcuss.  fikadeniie.  PhildS. -histor.  klassu  XXIX 
(1890),  Gll  fgg. 

2)  "Weiuhold  scheint  mir  durebaus  nicht  zu  veruciiien,  dass  gottev  oder  dämo- 
nen  der  finsternis  den  göttei'n  des  lii'lites  im  Waneukult  gegenülier  gestanden  liahcn; 
es  soll  wol  nur  gesagt  sein,  dass   hier  die  lezteren  die  hcrschende  stelle  hattoii. 

ZF,TTSrni!TFT    F.      PKITTSIIIK    PIULOI.O'ilK.        r.H.     XXI\'.  10 


146  SIEBS 

1)  Wenn  Tacitus  in  der  Germania  (c.  9)  berichtet,  dass  die  Ger- 
manen als  ihren  höchsten  gott  den  Mercurius  verehren,  so  meint  er 
damit  den  kult  des  Istwaz  =  Wöäanaz  bei  den  westlichen  Deutschen. 
Die  gieichsetziing  Hermes  =  Mercurius  =  Wodan  ist  nie  bestritten 
worden,  und  sie  ist  nicht  nur  stichhaltig  für  die  zeit,  da  Wodan  als 
der  gott  alles  geistigen  leben s  gilt,  sondern  auch  in  dem  Verhältnisse 
beider  götter  zu  den  toten  liegt  eine  ähnlichkeit:  Wodan  nimt  die  — 
freilich  nach  jüngerer  auffassung  von  den  Walküren  zu  ihm  gelei- 
teten —  toten  auf,  und  auch  dem  Hermes  ilwyo/tof.i7r6g  w^erden  die 
Seelen  der  verstorbenen  übergeben.  Durchaus  sichergestelt  wird  — 
schon  für  sehr  frühe  zelten  —  die  Identität  Merkurs  mit  dem  deut- 
schen todesgotte  durch  eine  Inschrift,  die  im  frühjahr  1872  zu  Rohr 
bei  Blankenheim  im  oberen  Ahrtale  gefunden  ward.  Ein  altar,  von 
dem  nur  der  obere  teil  erhalten  ist,  trägt  die  werte: 

MERCVRI 
CHANNINI 

Freudenberg  (Bonner  Jahrbb.  des  Vereins  von  altertfrd.  im  Rheinide 
53,  172  fgg.),  der  die  inschrift  zuerst  erklärt  liat,  sah  in  Mermiri  einen 
votivgenitiv ;  in  dem  Schlussbuchstaben  der  zweiten  zeile  weite  er  den 
rest  eines  E  und  in  dem  somit  sich  ergebenden  Channine  den  ersten 
teil  des  namens  der  Canninefates  erkennen.  Mit  gutem  rechte  —  klar 
erweist  das  der  name  di^^  Kemiem,erlandes  —  hat  Much  (Ztschr.  f.  d.  a. 
XXXV,  208)  erklärt,  dass  jener  name  nie  und  nimmer  mit  C/i  hätte  anlau- 
ten können,  da  wir  mit  germanischem  /lzu  rechnen  haben:  es  sei  des- 
halb Mercurio  Channini  zu  lesen  und  in  dem  zweiten  werte  der  germ. 
dativ  eines  beinamens  Hmi7io  (er  vergleicht  griech.  yMvveiv)  zu  erkennen. 
Freudenberg  (a.  a.  o.)  berichtet,  dass  für  ein  dativ -o  in  der  ersten  zeile 
kein  räum  sei ;  in  solchem  falle  müssen  wir  —  die  möglichkeit  gibt  Freu- 
denberg zu  —  in  dem  C  der  zweiten  zeile  ein  0  erkennen  und  Mercurio 
Hannini  lesen.  Es  fragt  sich  nun,  wie  dieser  name  zu  erklären  ist. 
JSTach  dem  gesetze  der  westgermanischen  konsonantendehnung  erweist  das 
nn,  dass  (C)  hannini  aus  *(C)hanjini  entstanden  ist.  Zu  diesem  dativ 
haben  wir  einen  nom.  sing.  germ.  Vianje  *ha7iJ6'^  (ich  lasse  das  strit- 
tige, für  unsere  zwecke  gleichgiltige  C  des  anlautes  weg)  anzusetzen, 
und  diese  formen  sind  lautgesetzliche  Vorläufer  eines  altsächs.  althochd. 
*hcnno  (got.  *Imnja}^  angelsächs.  altfries.  *henna.  Ich  behaupte  nun, 
dass  mit  diesem  w^orte  der  todesgott  bezeichnet  ist.  Wie  zahlreich 
überhaupt  die  votivsteino  sind,  die  —  erklärlicherweise  —  gerade  den 
todesgottheiten  errichtet  wurden,    das  werde   ich  demnächst  in  anderen 


BEITRÄGK    ZUR    DEUTSCHEN    MYTHOLOGIE.    I  147 

arbeiten  dartun.  An  dieser  stelle  soll  zuerst  die  etymologische  deu- 
tung,  sodann  die  geschiebte  des  Hoino  gegeben  werden. 

Wir  kennen  eine  indogerni.  wurzel  kcn,  welche  in  der  hochstufe 
1x011,  in  der  tiefstufe  hi  lautet  und  „stechen,  schlagen,  vernichten, 
töten"  bedeutet:  altpers.  vi-Qan  heisst  töten,  avest.  <}dna  Vernichtung; 
griech.  y.alvio  aorist  tvMvov  /Mvelv  töten,  xorrj  (Hesychius)  mord.  Die 
entsprechende  germ.  wurzel  muss  in  der  mittelstufe  hen,  hochstufe  Juin, 
tiefstnfe  hnn  lauten;  je  nachdem  wir  nun  ein  nomen  agentis  mit  Suf- 
fix -an-  oder  -jan-  von  der  mittel-  oder  hochstufe  bilden,  erhalten 
wir  alid.  "^'lieno  *hinno  oder  '^hano  *hc7i/io  in  der  bedeutiing  „vernich- 
ter, tod",  personificiert  „gott  der  Vernichtung,  todesgott".  Im  mittel- 
und  neuhochdeutschen  haben  wir  Henne  bzw.  Hinne  Han(n)e  zu 
erwarten;  auch  finden  wir  die  tiefstufe  mit  hime,  hunne  vertreten. 

2)  Nunmehr  muss  es  unsere  aufgäbe  sein,  die  geschichte  des  deut- 
schen todesgottes  Henne  zu  verfolgen.  Die  Germanen  verehrten  ihre 
götter  in  heiligen  hainen.  Ein  solches  heiligtum  hatten  die  Friesen  dem 
Henna  und  zwar  dem  kämpf-  und  todesgotte,  dem  Baduhenna 
(gen.  Baduhennae)^  geweiht.  Tacitus  (Amial.  lY,  73)  erzählt:  „w?ox 
compertum  a  transfugis,  nongentos  Romanorum'^  apud  lucum,  quem 
Baduhennae  vocant,  pugna  in  posterum  extracta  confectos''^ .  Die  frü- 
heren erklärungen  dieses  wortes  als  Badiüine  usw.  glaube  ich  hiermit 
widerlegt  zu  haben.  Zu  den  ausführungen  Jaekels  (Ztschr.  f.  d.  phil. 
XXII,  257)  bemerke  ich,  dass  sie  mir  ebensowenig  wie  die  erörterun- 
gen  über  die  Alaesiageti  und  Hlüdana  stichhaltig  erscheinen,  weil  sie 
auf  einer  sprachlich  unzureichenden  grundlage  erbaut  sind;  damit  fal- 
len auch  die  weiteren  kombinationen  zusammen.  Z.  b.  sagt  Jaekel  von 
Baduhenna:  „der  name  gehört,  wie  sein  zweiter  bestandteil  -henna  zeigt, 
der  form  nach  zu  den  namen  der  auf  römisch -germanischen  inschriften 
aus  dem  Rheinlande  so  häufig  genanten  matronen  wie  Albiahenae  usw. 
und  zu  namen  wie  Nehal-  ennia  und  zu  dem  auf  unserem  votivaltar  ^q- 
WMiiQw Fbnmil- ene'''' .  Niemals  aber  erscheinen  meines  wissens  matro- 
nennamen  mit  7in  des  suffixes,  niemals  solche  auf  -eniae  neben  -enac; 
dennoch  werden  die  -henna,  -ennia .^  -ene  und  -Äew«c  -  formen  kur- 
zerhand ohne  jeden  grund  identificiert,  damit  sich  —  „beweisen" 
lässt,  „dass  das  h  und  die  Verdoppelung  des  n  im  namen  Baduhenna 
unorganisch,  nur  vom  römischen  munde  eingeschoben  ist"  usw.  Will 
man    sich    die  werte    behufs   einer  erklärung    in   solcher  w^eise  mund- 

1)  Solten  diese  —  ich  äussere  das  nur  als  eine  gewagte  Vermutung  —  dem  Badu- 
henna geopfert  sein?  Weder  conßcerc  noch  die  grosse  zahl  der  getöteten  erregt  bedenken, 
vgl.  Weiuhold,  Sitzgsber.  d.  kgl.  preuss.  akad.  phil.-hist.  cl.  XXIX  (1891),  s.  564fgg. 

10* 


148  SIEBS 

gerecht  machen,  so  gibt  man  den  ansprach  auf,  über  die  reichlich 
vorhandene  seit  Jahrzehnten  aufgespeicherte  hypothesenlitteratur  hinaus- 
zul\ommen. 

3)  Darauf,  dass  bisweilen  He7ine  (ahd.  Henno  vgl.  Graff,  ahd. 
Sprachschatz  IV,  960)  als  mannesname  erscheint,  will  ich  kein  gewicht 
legen,  weil  hier  auch  andere  etymologische  zusammenhänge  denkbar 
sind.  Ebenso  sind  die  mannigfach  auftretenden  oi^tsnamen  viie  Henn- 
hofcn,  Hennau,  Henndorf,  Henneherg  (vgl.  Förstemann,  Ortsn.^  730 
fgg.)  nicht  als  sicheres  material  zu  gebrauchen.  Freilich  fordern  ja 
namen  wie  Wodensherg,  Gudensberg,  Wodetisholte  u.  a.  (Grimm,  Myth.* 
127  fgg.)  zum  vergleiche  heraus,  vor  allem  wenn  sagenumwobene  stat- 
ten wie  der  Henneberg  und  der  Heigraben  in  volkstümlicher  Überlie- 
ferung neben  einander  genant  werden  (vgl.  Panzer,  Beitr.  z.  d.  myth.  1, 114). 

4)  Begreiflichei-weise  braucht  Henno  nicht  immer  in  der  ursprüng- 
lich ihm  eigenen  Wirksamkeit  des  todesgottes  aufzutreten,  sondern  in 
späterer  zeit  ist  er  völlig  gleichbedeutend  mit  Wodan.  Er  ist,  nach- 
dem der  uralte  *Ti?vaz  aus  seiner  stelle  verdrängt  ist,  der  himmels- 
gott,  der  gott  des  neuerwachenden  lichtes,  des  tages,  des  frühlings; 
sein  äuge  ist  die  sonne.  Dem  neu  erwachenden  lichte  ruft  man  ent- 
gegen: ^^Heimil  wache! '■''  He7inil  aber  ist  diminutive  koseform  zu 
Henno  und  dem  sinne  nach  zu  beurteilen  wie  die  nordfries.  anrede 
des  Wodan  mit  Wedke,  Wedki  {Yg\.  Müllenhoff,  Schleswig-holsteinisch - 
lauenburgische  sagen  167).  In  den  märkischen  sagen  wird  berichtet, 
(Kuhn  s.  330):  „Ein  alter  förster  aus  Seeben  bei  Salzwedel  erzählte 
auch,  dass  man  an  diesen  orten  früher  die  gewohnheit  gehabt  habe, 
an  einem  bestimten  tage  des  Jahres  einen  bäum  aus  dem  gemeinde- 
walde  zu  holen,  den  im  dorfe  aufzurichten,  darum  zu  tanzen  und  zu 
rufen:  Hcnnil,  Hennil,  wache!"  Ich  vermute,  dass  das  am  läng- 
sten tage  geschah  in  dem  sinne,  Hennil  solle  stets  so  früh  und  so 
lange  wachen,  wie  an  jenem.  Oder  war  es  etwa  ein  ruf  zur  winter- 
sonnwendzeit?  Dafür  möchte  die  vergleichung  der  gebrauche  zur 
zeit  der  zwölften  {tvo'pelröd,  im  Saterlande,  wovon  ich  demnächst  be- 
richten werde)  mit  einer  erzählung  des  Ditmar  von  Merseburg 
sprechen  (zum  jähre  1017).  Sie  lautet:  ^/mdivi  de  quodam  baeulo,  in 
cuius  smnmitaie  nianus  erat,  ununi  in  se  fei'renm  teneyis  circulum, 
quod  cum  pastore  illius  villae  Silivellun  (Selben),  in  quo  is  fuerat, 
'per  omnes  domos  has  singulariter  ductus,  in  primo  infroiiu  a  porti- 
tore  suo  sie  salutaretur,  ^^vigila  Hennil,  vigila!^'-  sie  enim  rustica 
vocabatur  lingua,  et  epulantcs  ibi  delicate  de  eiusdem  se  tueri  custodia 
stnlti   autumubani^'- .      Die    Zusammenstellung    dieser   rusticä   linguä 


BKITHÄGK    ZT'R    DF.UTRCHKX    MYTHOLOGIE.    T  149 

gosproclieiu'ü  wurte  mit  doin  ungarischen  hiijiKil  und  (Miicni  slowakisch- 
bölimiscluMi  liirtongotto,  wie  Jakol)  (iriiniu  (Mytli.  s.  O^H)  sie  gegeben 
hat,  erscheint  niif  nnnitiglich;  ich  glaube,  dass  durch  in(!ine  deiitung 
alle  Zweifel  gidtist  sind.    (I)ei'  i'ut  eiinneit  an  <his  i'ilinische  Mars  rlfjiht I) 

5)  In  niittelhechdiMitsehen  (hnikniährn  finden  wir  eine  höchst 
auttallige  in  tcn'jektien:  ,J  <'i  licinic '.  "^  die  -lakub  (iriniin  (Deutsche 
grainm.  III,  .'507)  als  ganz  unerkliirbar  be/eichnet.  Altd.  wiihler  IJT, 
208  heisst  es:  diu  rlin'i  sprach  ,Ja  J/cin/r.'^^  Das  ist  abei-  niclits 
anderes  als  „türwahr,  l)ei  Wödan!"  So  mag  auch  vielleicht  iu  der 
Weiterbildung  ,,yV/  l/c/n/n/hirc/  '•'■  eine  altheidnisclie  erinnerung  an 
einen  totenberg  (VaüioJI)  liegen.  Die  werte  er.scheinen  in  der  Franen- 
zueht,  „Yen  Sibot''  (von  der  Hagen,  Gesamtabentener  I,  52.  30).  „,yV'", 
i^pnicli  si ,  .Jluniciihcrl:!^'  und  späterhin  (50,  74)  als  antwort  darauf: 
„/rc/  isl  m)  inirir  llemicubfrk?''''  Als  eine  blosse  entstellung  infolge 
mangelnden  Ycrständnisses  ist  das  hanauische  .^sjnih  lioninici!''''  anzu- 
sehen. Man  kühlte  geneigt  sein,  diese  fUiclu^  direkt  an  ein  Avort 
hcniio  =  tod  anzuknüpfen:  flucht  man  doch  auch  ])oi  uns  „tod  und 
teufel!''  Dass  Avir  sie  aber  bis  auf  den  deutschen  gott  zurückzuführen 
haben,  lehrt  uns  die  in  Niederhessen  gebräuchliche  interjektiou  ^^gott 
IIou/.c' '■^  Ptister  im  Nachtrag  zu  Vilmars  Idiotikon  (Marburg  1886) 
s.  100)  äussert  sich  darüber  folgendermasson.  ,,Gott  Ilcinx',  wofür  in 
Oberhessen  allerdings  auch  cl  du  Ilcnnc!  gehört  Avird;  nicht  jedoch, 
dieser  mundart  angemessen,  ei  du  hl  wird  heute  in  mannigfachster 
abstufung  der  gemütsbewegungen  gebraucht:  von  ängstlichem  klagen, 
scheuem  Ycrwundern  bis  zu  trotzigem  bedauern.  Die  Spaltung  von 
lunnic  und  In  ist  wichtig.  Das  mi'k'hte  nun  immerhin  seine  bewandnis 
haben  und  Hesse  etwa  in  allen  graden  doch  an  gekürztes:  fulir  hin, 
fulirc  CS  (hil/iii!  noch  denken.  Nun  stellet  sich  aber  jenem  gott  Ilennc 
ebeuAVül  ein  gotl  Henucberg  zur  seile,  von  dem  man  zunächst  nicht 
Aveiss,  ol)  es  drei  oder  ZAvei  Avörter  seien.  Was  Aväre  gott  llcunchrrg?''^ 
Ob  in  dem  l/l  die  oben  besprochene  mittelstufe  '^hoi  -\-  -jau-  sufhx 
zu  erkennen  ist,  bezAveifle  ich. 

6)  „Am  weg  von  A¥esterhausen  nach  Thale",  so  erzählen 
Kuhn  und  ScliAvartz  (Nordd.  sagen  s.  167.  481)),  „hegt  gleich  hintei'm 
dorf  an  einem  mit  saudsteinklippen  überdeckten  berg  die  Hinnemut- 
terstubo,  eine  höhle  in  stein.  Darin  sizt  die  Hinnemutter,  ein  Avil- 
des  Aveib;  aber  Avie  sie  hineingekommen,  Aveiss  kein  inensch.  Einige 
sagen  zwar,  sie  sei  nicht  mehi-  daiün;  aher  die  kindei'  Avissen  das  bes- 
ser, denn  wenn  sie  nicht  artig  sind,  so  sagt  man:  ,Avai't,  dii'  Hinne- 
mutter  Avird  gleich    kommen    und    dich  holen!'    und    sie   mögen    noch 


150  SIEBS 

so  unartig  sein,  das  hilft  gewiss".  Die  Hinnemutter  ist  natürlich 
Fru  Hinne,  und  diese  verhält  sich  zu  Henne  gerade  so  wie  Fru 
Gode  oder  Frau  Gaude,  Fru  Wode  zu  Wode  (Grrimm,  Myth.  209. 
771  fgg.).  Die  Hinnenniutterhöhle  ist  also  nichts  anderes  als  der  Wo- 
densbery,  d.  h.  der  borg,  in  dem  Wodan  hauset.  Wie  bei  dem  erwähn- 
ten Hermil  und  Wcdke,  so  finden  wir  auch  hier  die  koseform  belegt, 
nämlich  Hinniche.  „In  Tilleda  am  Kyffhäuser  (vgl.  Kuhn  und  Schwartz 
a.  a.  0.  s.  395)  sowie  in  der  ganzen  umgegend  lässt  man,  nachdem 
aller  roggen  abgemäht  ist,  eine  garbe  unabgemäht  stehen.  Die  ähren 
derselben  werden  darauf  ungeknickt  mit  bunten  bändern  unterwärts 
gebunden,  so  dass  das  ganze  die  gestalt  einer  puppe  mit  einem  köpfe 
bekomt,    und  nachdem    diese  fertig  ist,    springen    alle    der  reihe  nach 

darüber  fort;    das  nent  man    ^^üher  schäinichen  springe n,'"'-   In 

Hohlstedt  sagt  man  ^^iiber  schinnichen  springen'-^  [übersch  hinnichen 
sp ringen '■'■  \  vgl.  das  altenburgische  „e^V?e  scheune  bauen'-'-).  In  Butt- 
städt  hatte  man  bei  der  flachsernte"  ähnliche  gebrauche  —  also  in  allem 
und  jedem  die  Identität  des  Henno  und  Wodan.  —  Die  vokalverschie- 
denheit  zwischen  hainichen  und  hinnichen  hat,  Avie  Avir  unten  sehen 
werden,  manche  analogicn. 

7)  Auf  Wodan  weisen  vermutlich  züge  einer  mocklenbui-- 
gischen  sage  hin  (vgl.  Bartsch,  Mecklenb.  sagen  I,  305).  Sie  handelt 
von  Otto  von  Plön,  der  bei  Sülstorf  hauste  und  als  raubritter  gehasst 
und  gefürchtet  war.  „Aber  der  bösewicht  entgeht  seiner  strafe  nicht. 
Der  hirte  von  Eieps,  Häne,  verriet  es  den  von  Schwerin  kommen- 
den feinden,  dass  der  ritter  auf  seiner  bürg  sei  und  versprach  ihnen, 
sie  in  die  bürg  einzuführen;  als  lohn  bedingt  er  sich  aus  „brot  bis  in 
den  tüd!"  Und  glücklich  war  der  zug;  die  bürg  wird  erobert,  Otto 
erschlagen,  die  beiden  söhne  werden  mit  fortgeführt.  Auch  dem  Ver- 
räter wird  wort  gehalten:  noch  auf  dem  zuge  wird  er  erhängt  und 
höhnend  ihm  zugernfen,  nun  habe  er  ja  brot  gehabt  bis  in  den  tod. 
Auf  dem  Riepser  felde  stand  eine  alte  eiche,  daran  ward  er  gehangen, 
und  das  land  heisst  noch  der  Hänenbrook".  Der  hirte  als  Wegwei- 
ser (Härbardsljöd  str.  50.  Skirnisf^r  str.  11),  das  betteln  um  brod,  das 
erhängen  (Odhin  an  der  weltesche)  —  das  alles  sind  Wodans  in  so  vie- 
len sagen  widerkehrende  züge;  und  da  zu  ihm  gar  noch  der  name 
Häne  stimt,  ist  mir  die  Identität  wahrscheinlich. 

8)  An  die  wilde  jagd  klingt  eine  sage  an,  die  Panzer  (Beitr. 
z.  d.  myth.  I,  178,  vgl.  Mone's  Anzeiger  VII,  52)  überliefert.  „In  dem 
Schönstelwald  zwischen  Aufstetten  und  Strüth  geht  ein  gespenst  in 
kalbsgestalt  um,    welches  man  das  Hennekalb  nennt.     Einem  Jäger, 


BEITUÄGE    ZUR    DEUTSCHEN    MYTHOLOGIE.    I  151 

der  nachts  (Uircli  diesen  wald  gieiig-,  sprang-  es  auf  den  rücken  und 
zwang  ihn,  es  bis  gegen  morgen  herumzutragen.  Au  dem  ort,  wo  es 
alsdann  von  ihm  gewichen,  Hess  der  Jäger  einen  stein  setzen,  worauf 
er  mit  dem  kalb  auf  dem  rücken  abgebildet,  und  der  heute  noch  dort 
zu  sehen  ist".  Solche  sagen  sind  mir  sonst  nicht  von  Wodan  bckant, 
wol  aber  ähnliches  vom  teufol.  Der  ritt  weist  im  vorliegenden  falle 
auf  den  aus  Ilcniio-Woda)!  hervorgegangenen  teufol  hin;  die  kalbs- 
gestalt,  die  beim  teufel  nichts  auffälliges  hat  (vgl  Kuhn  und  Schwartz 
s.  204),  scheint  aus  nichtgöttlichen  elemeuten  des  lezteren  hinzugekom- 
men zu  sein.  Der  name  Hennekalb  ist  für  die  beziehung  der  sage 
auf  Wodan  beweisend. —  Zweifelhaft  aber  ist  mir  eine  aus  der  Obor- 
pfalz  von  Schönwerth  (Sitten  u.  sagen  a.  d.  Oberpf.  Augsb.  1857.  I,  272) 
berichtete  sage:  Erdhennl  sei  ein  todesbote,  der  unter  dem  stuben- 
boden  wohne.  Wir  haben  hier  eine  der  zahllosen  sagen,  in  denen  bahn 
und  henno  eine  bisiier  unerklärte,  wichtige  rolle  spielen.  Ich  bin  über- 
zeugt, dass  viele  auf  eine  alte  kontamination  des  gottes-  und  tiernamens 
zurückführen,  die  natürlich  im  einzelnen  falle  stets  hypothese  bleiben  wird. 

9)  Dass  die  altheidnischen  götter  unter  dem  einflusse  des  christ- 
lichen kultes  zu  unholden  werden,  ist  eine  bekante  tatsache.  Man 
denke  nur  an  das  fränkische  taufgelöbnis.  Dass  Wodan,  der  höchste 
der  heidnischen  götter,  mit  der  gestalt  des  teuf  eis  verschmilzt,  lehren 
uns  manche  züge  und  auch  beinamen  des  teufeis  (z.  b.  hellejager,  Od- 
diiicr  vgl.  Grimm,  Myth.  851).  So  darf  es  uns  nicht  wundern,  wenn 
auch  Henne  als  name  des  teufel s  erscheint.  In  Agricola's  Sprich- 
wörtern (1560)  322''  heisst  es:  „er  sihet  eben,  als  hob  er  hohäpfel  ges- 
sen  —  -wie  Henn  der  teufeV'-.  Der  teufel  auch  scheint  gemeint  zu 
sein,  Avenn  ein  vers  lautet:  ^^Hansl,  Hans,  Hennamist,  Dcar  de 
alten  Wciba  frisxP'-  (vgl.  Frommann,  Mundarten  III,  316).  In  diesem 
falle  hat  möglicherweise  eine  kontamination  des  na)is  Mist,  der  bei 
Brant  und  Muruer  genant  wird,  mit  dem  Henne  statgefunden.  In  Bruder 
Hansens  Marienliedern  3708  (Lexer,  Mhd.  hdwörterb.  1222)  lesen  wir: 
„50  nioes  der  langeswanste  heyn  sin  saget  slaen  ztvischen  sin  beijn''''. 

10)  Wir  sind  heute  gewohnt,  unter  Hein  den  tod  zu  verstehen. 
Niemals  aber  hätte,  wie  im  oben  erwähnten  verse,  der  tod  „laugge- 
schwänzt" genant  werden  können:  hier  kann  iieyn  natürlich  nur  den 
teufel  bedeuten.  Da  nun  in  der  älteren  spräche  heyn  und  henn, 
wie  wir  gesehen  haben,  für  den  aus  dem  uralten  todesgotte  unter 
durchgang  durch  Wodan  entwickelten  teufel  gebraucht  werden;  und  da 
ferner,  Avie  Avir  erweisen  werden,  henn  und  henne  (vielfach  auch  als 
kein  hci)ie  auftretend)    bis  auf  unsere  tage  den  tod  bedeuten:    so  wer- 


152  SIEBS 

den  wir  nunmehr  auch  „freund  Hein"  gewiss  nicht  mehr  als  eine 
im  jähre  1774  gemachte  erfindung  des  Matthias  Claudius  oder  gar 
als  einen  auf  einen  Hamburger  arzt  gemachten  namenswitz  ansehen 
wollen.  —  Die  form  hein  neben  kenn  und  hann  findet  sich  in  dem 
mecklenburgischen  werte  für  „storch".  Bartsch  (Mecklenb.  sagen  H,  168) 
bemerkt,  der  heisse  in  derPriegnitz  und  einem  Ideinen  teile  von  Mecklen- 
burg Hainotte  oder  Hannotter,  und  in  Stuck  und  Strass  bei  Eldena 
heissen  die  aprilschauer  Hannottcrsclnire.  Danneil  ("Wörterb.  der  altmär- 
kisch-platd.  mdart.  Salzwedel  1859  s.  74)  nent  Hannotter  und  Hcinoiter 
für  storch.  Der  name  ist  sehr  unsicher.  Steht  -otte,  -otter  für  adcbar, 
oder  ist  es,  wie  Ottey-ivehr  (Grimm,  Myth.  nachti*.  193)  vermuten  Jässt, 
nur  das  erste  kompositionsglied  des  wertes  äclehar?  Und  könte,  wenn 
ersteres  der  fall  ist,  in  dem  Hein-,  Hann-  eine  erinnerung  an  die 
sage  liegen,  dass  die  storche  verAviesene  menschen  seien,  dass  tote  in 
Storchgestalt  umgehen?  (vgl.  Kuhn  und  Schwartz  400;  Kuhn,  Westfäl. 
sagen  II,  69);  oder  ist  er  gar  der' dem  Henno  heilige  vogel? 

11)  Die  bezeichnung  des  todes  durch  Henne  hat  sich  in  man- 
chen gebieten  unseres  Vaterlandes  bis  auf  den  heutigen  tag  erhalten. 
„In  Augsburg  spielt  der  Hennadon e  eine  grosse  rolle  (Birlinger, 
seh wäb. - augsburg.  wörterb,,  München  1864,  s.  227).  Zum  Heniia- 
done  heisst  auf  den  gottesacker:  ^^dean  trägt  ma7i  xiim  Hennadone^'- . 
^^Znm  Hcnnadone  kommen'-^:  sterben,  wie  in  München  zum  St.  Steffej 
kommen,  d.  h.  zum  St.  Stefan  oder  zu  St.  Christof,  zu  dessen  bilde, 
das  an  gottesackern ,  leichenhäusern  angebracht  war  als  mittel  gegen 
den  gäben  tod.  Der  Hennadone  mag  eine  persönlichkeit  gewesen  sein, 
die  sich  dort  aufhielt.  In  A.  gab  es  eine  Stadtpersönlichkeit  dieses 
namens.  Scheiffele  (Gedd.  in  schwäb.  mdart,  Heilbronn  1863)  „TFa« 
alle  Welt  's  Laxiera  haut  und  bald  xnni  Hennadone  gauP''.  'm  He?i- 
nadone  's  fueter  liefrat'-'-.  Birlinger  hat  das  misverstanden.  In  He?in(a) 
ist  der  begriff  des  todes  enthalten;  vielleicht  haben  wir  Henn-adone 
zu  trennen  und  im  zweiten  teile  St.  Antonius  zu  erkennen;  oder  ist 
Hennadone  für  Hennadode  =  gevatter  Tod  {dote  pate)  gesagt?  Mög- 
lich ist  auch,  dass  Henna  nicht  mehr  verstanden  und  durch  ein  wei- 
teres wort  {dode  tod)  erklärt  ward. 

12)  Im  Codex  Heidelbergensis  341  bl.  370"  wird  folgendes 
er/ählt.  Einem  ritter  wird  durch  urteil  des  kaisers  statt  seiner  längst 
gestorbenen  mutter  ein  altes  Aveib,  das  ihn  für  ihren  söhn  ansieht, 
als  mutter  zugesprochen.  Als  ihm  alle  entgegnungen  nichts  nützen, 
sagt  er:  „woZ  her,  lieldu  muoter  min! 

ir  sult  mir  wiUekomen  stn. 


BEITI^'VGE    ZUK    DEUTSCIIEX    MYTHOLOGIE.    I  153 

doch  cnrriesch  ich  solher  »ucre  nie, 

(ki%  also  lange  ein  vroiiicc  ic 

hincnpr/ten  si  gcfrescn 

und  aLsn,s  niance  jnr  genesen. 

si  sol  uns  dcnnocJi  sagen  me 

wie  ex,  in  jener  werlde  sie'-'-. 
Wackcrnagcl  (Ztsclir.  f.  d.  a.  VI,  192)  deutete  das  l/incnprihii  als  ///// 
en  Priten  „fern  von  hi(H'  in  Britannien"  und  be/üi^-  sieh  auf  Prokop 
(de  b(>ll()  (iotli.  n'.  20).  naeli  dessen  ani^-abo  die  seelen  (]er  vei"storl)pncn 
von  dt'r  ncrdküste  Galliens  narli  einer  insel  bei  lirillia  überi^-cfahren 
^vürdeu.  Aber  es  ist  dueh  undenkbar,  dass  diese  vorstelluni;-  plüt/lieli 
im  18.  jaiirhundert  in  solchem  zusammenhange  und  in  solcher  form 
auftauchen  solte.  Ein  ritter  des  13.  Jahrhunderts  solte  in  solchem 
ernste  der  Situation  dem  glauben  worto  leihen,  dass  die  toten  in  Eng- 
land weilten!  Und  formell:  wie  kann  das  goiesoi  jenem  wirklichen 
todo  ontgegengestelt  werden?  Der  ritter  will  auch  gar  nicht  sagen,  dass 
die  mutter  ti»t  gewesen  sei,  sondern  „ /c/^  hörte  noch  nienidls,  dn.ss 
einer  fron  lörper  so  lange  ro)t  der  seele  liätte  verlassen  sei)i  köniien'-^. 
Es  ist  auch  uohl  nicht  ohne  bedeutung,  dass  es  heisst  ,^ei)/  vrouu-e'-'- \ 
denn  dandt  wird  auf  den  algemein  verbreiteten  aberglauben  von  den 
Maren  oder  Wiilridershot  bezug  genommen ,  bei  denen  die  seele  eine 
Zeitlang  den  körper  wie  tiit  zurücklässt  und  die  gestalt  eines  anderen 
Wesens  annimt.  A^on  diesem  aberglauben  an  die  Hinnenb ritten  han- 
delt Schmeller  (Bair.  wortei'b.  I,  372.  llLs.  II,  103S),  ohne  den  namen 
jichtig  zu  verstehen.  In  bruder  Berchtolts  predigten  (Codex  germ. 
Monac.  1119  bl.  30"'')  heisst  es:  ,,....  die  da  glanbcnt  an  periehien 
mit  der  eisinin  ra/scn,  (rn.  l/erodiadis  und  an  dgatui  die  haid/u'sehen. 
göttin  (an  pilhis,  an.  die  peg  nacht  rarent.  an  die  he a pretigen .  an. 
ehroten,  an  alpen .  an  elben  und  an  u:a\  srjgleielu'r  cltranchait  und 
ungelmdjcns  ist)'-'-:.  Cod.  germ.  -ITö  bl.  2*'  „cy;?  die  ruiciit raren.,  an  die 
pilu-eiscn ,  an  die  hg imepritten,  an  dg  traten,  an  dg  scliretlen,  an 
dg  unhulden,  an  u-cru-olf,  an  den  alp  oder  u-a-.  solichs  ujtgelauhens 
/6-^";  Cod.  germ.  269  bl.  ^  hat  statt  dessen  ^^hennpredigoi^'-;  Cod. 
germ.  4594  bl.  15  .^Ju'nuirtigcii'-^;  Cod.  germ.  4591  bl.  121''  „an 
die  J/an tiper  (dieses  Avort  ausgestrichen)  jyrcdigen.  Das  prittoi, 
britten.  predigoi  erklärt  Grimm  als  „entrückt,  verzückt",  vgl.  ahd. 
irprottan  zu  brettan.  „Es  ist  der  zustand  jener  ekstase,  wenn  der  leib 
in  starrem  schlafe  liegt",  der  zustand,  wie  er  auf  das  genaueste  beim 
gestaltAvechsel  Odins  in  der  Ynglingasaga  cap.  7  beschrieben  wird.  In 
dem  ^Jiinnc'-'-   wolte  Schmeller  „von  hinnen"  erkennen,  doch  wider- 


154  SIEBS 

sprechen  dem  die  genanten  e-,  n-  und  ?/- formen  (vgl.  auch  „/y<  liün- 
nebrüdefi  gelegen'"''  in  Lachmanns  Niederrhein,  gedd.  s.  9).  Wir  haben 
in  hinne,  hen,  hynne  den  begriff  des  todes  zu  sehen:  hinnepritten 
sind  die  durch  den  tod  entrückten  seelen,  welche  andere  gestalt 
angenommen  haben  und  Avie  Maren,  Alben  oder  Wälridersken  einher- 
fahren —  gegenstände  des  zu  bekämpfenden  Unglaubens.  Der  aus- 
druck  ^JiinnehrittencV'-  (vgl.  Grimm,  Wörterb.  IV,  2.  1457)  Avard  spä- 
terhin nicht  mehr  verstanden  und  durch  y^kinbrüten^'-  ersezt. 

13)  Das  wort  kenne,  hene  in  der  bedeutung  „tod"  linden  wir 
im  deutschen  mehrfach,  auch  ohne  dass  eine  Personifikation  ersiclitlich 
ist.  Der  Avechsel  ZAvischen  heniie  und  hinne  fährt  zum  teil  auf  alte 
nebeuformen  zurück,  zum  teil  erklärt  er  sich  durch  mundartliche  laut- 
verhältnisse,  wie  auch  kenne  und  hinne  =  gallina  vorkomt.  Die 
öfters  belegte  form  heln-  mag,  wenn  sie  im  neuhochd.  erscheint,  auf 
älteres  z,  das  in  offener  silbe  dehnung  erfahren  hatte,  zurückAveisen 
(vgl.  auch  Hinenberg  bei  Frischbier  I,  290);  in  den  meisten  fällen  aber 
ist  das  ei  als  mundartliche  Weiterbildung  eines  älteren  e  oder  durch 
volksctymologische  anlehnung  des  nicht  mehr  verstandenen  kenne  an 
vorhandene  begriffe  zu  deuten.  Ein  in  sächsischen  und  friesischen 
landen  verbreitetes  Avort  ist  Jienneklcd  totenkleid.  Es  lautet  im  mit- 
telniederd.  kenen-  oder  kenneldet  (Schiller- Lübben,  Mnd.  Avörterb.  II, 
239),  und  sein  erster  bestandteil  kehrt  im  platdeutschen  text  der  Em- 
sigoer  rechtsquellen  Avider  (Richthofen,  Fries,  rechtsquellen  206,  12): 
„  Van  testametiten.  Waer  eyn  man  oftc  wyf  calt  up  oer  kenbedde 
in  koer  kranclikeyt,  ende  man  den  preester  kaelt'"  usw.  Es  bedeutet 
hier  ,, totenbett".  Ich  Aveise  das  gleiche  Avort  auch  dem  fries.  texte 
zu,  dessen  Schreiber  es  nicht  vorstanden  und  klcnbcd  daraus  gemacht 
hatte:  ^^Hiversd  en  mon  iefta  en  wlf  uppa  tket  Jienbed  fall  and  ikene 
papa  kalatk'-'-  usav.  (ebenda).  Strodtmann  (Idioticon  Osnabrugense)  bie- 
tet für  totenkleid  keinenldeed  und  kemdelieed.  Auch  erscheint  kennekosf 
„todeskost,  abendmahl".  —  Das  Avort  kenne  in  der  bedeutung  „mör- 
der"  scheint  ferner  in  dem  namen  desHeJinarsknugJt  auf  Amrum  enthalten 
zu  sein.  Bei  Johansen  (die  nordfries.  spräche,  IueI1862,  s.  231  fgg.)  Avird 
die  sage  von  der  ermordung  des  königs  Abel  erzälüt,  und  da  heisst  es: 
„Wessel  Hummer,  auch  Henner  der  Friese  genant,  als  landsmann  ein 
PelAvornier,  seines  handAverks  ein  rademacher,  hatte  sich  hinter  der 
brücke  verborgen ,  vertrat  dem  könige  den  Aveg  und  spaltete  ihm  den  köpf 

mit  der  axt Als  fischer  und  küstenfahrer  fing  er  nun  an,  sein  brod 

zu  crAverboii;  bald  s.ah  man  sein  fahrzeug  im  Avatt,  bald  ihn  selbst  auf 
Hennerslioog,  er  war  unstät  und  friedlos,  ob  ihn  gleich  niemand  jagte" 


BKITRÄGE    ZUR    DKtJTSCHEN    MYTHOLOGIE.    I  155 

USW.     Hemier  (aus  Jictine   unter  anfüguug  des  -er  der  nomina  agentis 
gebildet)  ist  nur  der  beiname  jenes  niannes  und  bedeutet  ,, niörder". 

14)  Neben  diesen  formen  nun  finden  wir  auch  die  form  der 
tiefstufe  germ.  liiui  mehrfach  belegt,  z.  b.  liimneiikkl  (Drenthe),  hu7i- 
ncclcdc  (Nordfriesland,  s.  Outzen's  w()rterb.).  Wie  Avir  es  von  der  tief- 
stiife  zu  erwarten  haben,  bedeutete  alid.  *hHHO  nicht  sowol  tod  im 
aktiven  sinne  wie  das  nomen  agentis  '^Jieinto,  sondern  „der  tote". 
Daher  bezeiclniet  Jmniicl)cdde  nichts  anderes  als  „totenbett,  grab- 
stätte".  Dass  späterhin  die  tiefstufe  der  germ.  ^|hen  mit  der  gleich- 
lautenden tiefstufo  der  germ.  fheun  gleichgestelt  und  unser  Itun-  als 
zu  linn  klun  gehörig  empfunden  ward,  ist  begreiflich:  daher  die  aus- 
drücke hünenbett,  heuneubett,  heunenkleid  (Stürenburg,  Ostfrs. 
wörterb.),  die  zu  so  vielen  misverständnissen  anlass  gegeben  haben. 

15)  HiDie  bedeutet  in  älterer  spräche  „der  tote".  In  einem 
Braunschweiger  testamente  von  1398  heisst  es:  „OA:  ghcve  ek  to 
S.  Martoie  Y2  i^ici^'k  to  den  huiieii''".  Ich  glaube,  das  meint:  „den 
armen  seelen".  Übrigens  wird  auch  die  tiefstufenform  Hüne  als  name 
des  personificierten  todes  gebraucht.  Kuhn  (Mark,  sagen  XII)  sagt: 
„Erwähnenswert  ist  noch,  dass  in  einer  altmärkischen  schulweihepre- 
digt  (s.  Pohlmanu  und  Stöpel,  Geschichte  von  Tangermünde  s.  293) 
den  hartherzigen  gedroht  wird,  sie  würden  doch  zulezt  alles  Hans 
Hünen  überlassen  müssen.  Offenbar  ist  das  ein  name  des  todes,  der 
als  hüne,  riese  wie  der  lange  mann  in  der  mordgasse  zu  Hof  (Grimm, 
D.  sagen  nr.  167)  erscheint;  ist  daraus  vielleicht  der  bei  Claudius  zu- 
erst auftretende  fremid  Hein  (zunächst  also  hochdeutsch  Hanne,  Heim) 
entstanden?"     Lezteres  habe  ich  bereits  unter  10)  klargestelt. 

16)  Aus  der  soeben  genanten  bezeichnung  Hans  Hüne  sowie  aus 
dem  Hans,  Hansl,  Hennamist  {vgl.  unter  9)  ist  ersichtlich,  dass  ge- 
bräuchliche namen  wie  Hans,  Heinrich  u.  a.  auch  abstrakten  begriffen 
beigelegt  werden.  Ebenso  ist  ja  bekant,  dass  sie  leicht  in  appellativa 
übergehen,  z.  b.  Jan  und  alle  nmnn,  Hinz  und  Kunz.  Unter  die- 
sem gesichtspunkte  ist  es  gewagt,  in  werten,  die  allerdings  auf  den 
namen  Henna,  Hano  zurückzuführen  scheinen,  bei  denen  jedoch  die 
beziehung  zu  Johann,  Hans,  Hei^irich  nicht  ausgeschlossen  ist,  eine 
erinnerung  an  Wodan  zu  sehen.  Der  volständigkeit  halber  führe  ich 
eine  grössere  zahl  solcher  benennungen  an,  überlasse  aber  den  lesern 
<lie  beurteilung  völlig.  In  Bremen  redet  man  von  Hannke  in  der 
nood;  das  Bremer  wörterb.  I,  591  sagt:  .^.^Hannke  ist  ein  Avort,  das 
viel  im  gebrauch,  dessen  bedeutung  aber  unbekant  ist.  Hannke  in 
der  nood  ein  nothelfer,  einer  dessen  hülfe  man  sich  nur  aus  not  bedie- 


156  SIEBS 

not,  weil  man  keinen  besseren  hat".  Ähnlich  ist  das  hambiirg-ische 
(Richey,  Idiot.  Hamburg,  s.  93)  ^^He7ineke  vor  allen  holen'"''  zu  beur- 
teilen d.  h.  ein  mensch,  der  aus  vorwitz  hinter  allem  her  ist,  vgl- 
holsteinisch  ^^Hintz  vor  alle  hÖgc^\  unser  ^,Hans  in  allen  gassen^''. 
Es  wird  vom  ^^starken  Heji^ieV"  erzählt  sowol  als  vom  starken  Hans 
(Grimm,  Myth.  nachtr.  223);  im  niederländ.  findet  sich  ,, Henneken 
Alleman'-''  neben  „Jr«?  Allemann^'-.  Das  leztere  würde  ich  hier  gar  nicht 
erwähnt  haben,  wenn  nicht  auch  ndl.  Jan  hen  vorläge,  eine  komposi- 
tion,  die  doch  hen  als  nicht  mit  Hans  zusammenhängend  erweist.  Mir 
ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  Henno  in  christlicher  zeit  zu  einem 
schimpf-  und  spotnamen  herabgesunken  ist.  In  mittelniederd. 
spräche  bedeutet  kenne  einen  narren.  Kaysersberg  sagt  in  der  pre- 
digt über  das  narrenschüf:  ^^Der,  ivelcher  gott  straft,  der  heisst  Henn 
von  Narre)ihcrg'-^ .  Ebenso  ist  nach  Oudemans,  Bijdrage  tot  een  middel- 
en  oudnederlandsch  Woordenboek  (Arnhem  1872.  III,  29)  im  ndl. 
Hanne  =  \di^Q  vent,  hoorndrager,'Jan  hen;  ebenda  s.  92:  heiine  he7i- 
nen  scholdnaam,  Jan  hen,  onnoezele  bloed.  Und  die  gleiche  erschei- 
nung  bieten  lebende  mundarten.  In  den  tirolischen  nachtragen  zu 
Schmellers  Bayr.  wörterb.  wird  henn  als  Schimpfname  augeführt  (From- 
mann, Mdarten  VI,  149),  furchthcnyi,  clerfrorne  henn;  herineler  ist 
foigling.  Höfer  (Österr.  wörterb.  II,  27)  bemerkt:  he)ipärl  (söhn  der 
Henne;  ^jf//'Z  =  barn  ist  aber  wol  kaum  glaublich),  hjenperl  ein  Schimpf- 
wort, wodurch  ein  feiger  und  verzagter  mensch  verstanden  wird.  Vil- 
niar  kent  (Idiot.  164)  in  Hessen:  henn  ein  alberner  mensch,  schmä- 
hende, sehr  übliche  oberhessische  bezeichnung;  dazu  Pfister  (Nachtrag 
s.  100):  „heute  gilt  kenne  in  Oberhessen  als  bezeichnung  eines  tropfes". 
Er  zweifelt,  ob  das  wort  =  gallina,  oder  ob  es  aus  Hans  oder  Hein- 
rich abzuleiten  sei.  Ich  habe  diese  dinge  —  das  betone  ich  noch- 
mals —  nur  der  volständigkeit  halber  angeführt:  ich  halte  hier 
zum  teil  eine  beziehung  zu  dem  namen  des  deutschen  gottes  für 
möglich,  aber  für  unerweisbar. 

Auffällig  mag  erscheinen,  dass  ich  das  englische  und  nordische 
nicht  erwähnt  habe.  In  dem  wertschätze  dieser  sprachen  und  in  der 
höheren  mythologie  habe  ich  keine  anknüpfnng  an  Henno  gefunden; 
ältere  orts-  und  personennamen  habe  ich  grundsätzlich  aus  dem  spiel 
gelassen,  um  der  hypothese  nicht  zu  viel  räum  zu  geben;  die  eng- 
lischen und  neunordischen  ortssagen  mögen  manches  bieten,  doch  sind 
sie  mir  leider  nicht  zugänglich. 

Ich  glaube  aber  durch  das  gebotene  hinlänglich  erwiesen  zu  haben, 
dass    die    Deutschen    zu    Tacitus'    zeit    den    todesgott    germ. 


T'APrKNirKIM,    OANGA    UNDIR    .lAKDARMRN  157 

(C) TTanj('("^  =-  Mci-cui'l  iis  vorohrtoii;  dnss  dieser  nnmo  aus 
iiussoroii  und  auch  ;ius  inneren  i^ründen  grösseren  nnsprucli 
darauf  hat,  \'ür  den  /u  jener  zeit  gebräuchlichen  nanieii  des 
giittes  zu  gelten,  ;i  1  s  der  erst  sj)ät  erscheinende  naiiK;  ]Vn(l(/- 
i///\;  dass  sich  die  erinnerung  an  d(Mi  luuiioii  des  gott(!s  im 
Volke  I)is  auf  unsere  tag-e  bewahrt  hat. 

GinorFSWALD,    MAI    1S!»1.  TIIKODOK'    S[EI!S. 


ZUM  CtANGA  ttndtr  jarbarmen. 

In  seiner  g<*haltv(>llen  uiul  anregenden  abhcandluug'  über  den  lap- 
|)eid);iinn  (kludetra'ct)  in  1x1.  I  der  Üania,  tidskrift  for  fulkemal  og  fol- 
keminder  ( K'ejx'idiagen  1S90)  gelangt  Kristoffer  Nyrop  auch  zur 
besprechung  des  altiioi'dischen  ganges  unter  den  rasen  streiten.  Er 
schliesst  sich  der  von  inir  (Die  altdiinischen  sehutzgilden  s.  21  fg-g.) 
gegebenen  deutung  desselben  insofern  an,  als  auch  er  darin  die  sym- 
bolische darstellung  eines  geburtsaktes  erblickt,  l)ei  welchem  die  erde 
als  mutter,  der  unter  (]Qn  rasenbogen  gegaugene  als  im  nuitterleibe 
befindlich  erscheint.  Im  übrigen  aber  weicht  Nyrops  ansieht  erheblich 
von    der  meinigen  ab. 

Walirend  ich  den  gang  under  den  raseustreifen  in  engste  bczie- 
hung  zu  der  eingehung  der  blutsbrüderschaft  (dem  sverjask  i  fosfhnf- 
(?/■(/!(/(/)  setzen  und  ihn  im  einklang  mit  der  blutsvermischung  und  dem 
verbrüderungseide  als  symbolischen  ausdruclc  der  unter  den  künftigen 
f6stbr(f(lr  zu  schaffenden  verwantschaft  verstehen  zu  müssen  glaubte 
und  glaube,  erblickt  Nyrop  in  der  symbolischen  widergeburt  „wesent- 
lich" „eine  geistige  (oder  leibliche)  reinigungsceremonie".  „Dies  ver- 
trägt sich  ja",  meint  er  (a.  a.  o.  s.  25),  „vortroflich  mit  der  anwendung 
des  brauchs  bei  eingehung  einer  blutsbrüderschaft;  erst  reinigten  sich 
die  betreffenden  von  allen  Sünden  des  früheren  lebens,  darnach  misch- 
ten sie  ihr  blut,  wurden  blutsbrüder,  und  endlich  legten  sie  den  feier- 
lichen eid  ab".  Also  nicht  um  auch  äusserlich  als  im  leibe  einer 
mutter  befindliche  brüder  zu  erscheinen,  sondern  um  durch  eine  wider- 
geburt gereinigt  ein  neues  leben  zu  beginnen,  unterziehen  sich  die 
künftigen  l)lutsbrüder  der  symbolischen  darstellung  des  geburtsaktes.  Es 
erhelt,  dass  bei  dieser  auffassung  der  gang  unter  den  rasenstreifen 
nicht  in  einer  inneren  bezieh ung  zur  eingehung  der  blutsbrüdei-schaft 
steht.  Denn  wenn  auch  der  lezteren  die  reinigung  der  beteiligten 
durch  widergeburt  vorangehen  könte,  so  würde  doch  eine  solche  rei- 
nigung   auch    in    vielen    anderen    fällen    als    geboten    oder    erwünscht 


158  PAPPENHEIM 

erschienen  sein.  In  der  tat  begegnet  ja  auch  bekantlich  das  ganga 
undir  jaräarme7i  noch  in  zwiefacher  anwendung  im  altnordischen  leben, 
einmal  in  der  Verwendung  behufs  gewinnung  eines  gottesurteils  (Laxdeela 
c.  18;  s.  meine  Schutzgilden  s.  23  fgg.),  sodann  als  eine  demütigende 
art  der  busseleistung  (Vatnsdtxila  c.  33;  s.  Schutzgilden  s.  25  fg.)i.  In 
beiden  fällen  erblickt  Nyrop  in  dem  ganga  u.  j.  eine  reinigung  durch 
widergeburt,  deren  eigentliche  bedeutung  jedoch  bereits  zu  der  zeit, 
wo  die  betreffenden  Vorgänge  spielten,  in  Vergessenheit  geraten  war. 
Nyrop  versucht  also  widerum  wie  Jakob  Grimm  und  Konrad  Maurer 
eine  einheitliche  erklär ung  des  ganges  unter  den  rasenstreifen  in  sei- 
nen verschiedenen  anwendungsfällen ,  während  wir  unsererseits  eine 
nachträgliche  Übertragung  des  brauches  von  dem  sverjask  i  fösthroeära- 
lag  auf  die  anderen  fälle  annehmen  musten,  eine  Übertragung,  bei 
welcher  der  eigentliche  gedanke  jenes  symbolischen  aktes  nicht  zur 
Verwendung  gelangen  konte. 

Die  ursprüngliche  bedeutung  des  brauches  glaubt  Nyrop  (s.  26) 
aus  der  Yatusda^la  entnehmen  zu  können.  „Hier  wird  ja  hervorgeho- 
ben, dass  der  brauch  geübt  wurde,  wenn  man  eine  missetat  begangen 
hatte,  und  hierunter  kann  wol  nur  verstanden  werden,  dass  man  ein 
neuer  mensch  werden  soll,  dadurch  dass  man  sich  von  seiner  Übeltat 
reinigen  und  dieselbe  sühnen  soll".  Allein  Nyrop  selbst  muss  anerken- 
nen, dass  aus  dem  berichte  der  Yatnsdsela  derartiges  nicht  mehr  her- 
auszulesen ist.  Er  betont,  die  ursprüngliche  bedeutung  des  brauches 
sei  hier  ganz  vergessen,  indem  derselbe  als  eine  demütigende  handlung 
aufgefasst  werde,  „da  man  sich  ja  bücken  muss,  um  unter  die  erd- 
streifen zu  gehen"'-.  Unter  diesen  umständen  kann  unseres  erachtens 
nur  versucht  werden,  die  erzählung  der  Vatnsdeela  mit  den  berichten 
über  die  sonstige  anwendung  des  ganga  u.  j.  zu  vereinigen,  aber  nicht, 
aus  ihr  die  eigentliche  erklärung  des  lezteren  zu  gewinnen. 

Ganz  ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Verwendung  des  ganga  n.  j. 
im  dienste  des  gottesurteils,  von  welcher  die  Laxdfela  berichtet.  Auch 
hier  orkent  Nyrop  an,  dass  zur  zeit  der  niederschreibung  der  sage 
der  brauch  „ganz  veraltet  und  ziemlich  verwischt"  war.  „Ursprüng- 
lich   ist    das    Verhältnis    wol    das   gewesen,    dass,    wenn    einem  manne 

1)  Über  das  (/mn/a  undir  jaränrmen  iu  der  Njala  s.  Schutzgilden  s.  .35  note  1. 
Die  behauptung  von  G.  Daist  (Der  gerichtliche  Zweikampf  nach  seinem  Ursprung 
und  im  Rolandslied  s.  7  note  2  des  sep.-abdr.),  der  dem  Skapti  füroddsson  von  Skarp- 
iijedin  geniaclite  Vorwurf  sei  von  mir  mis verstanden,  ist  zu  wenig  substanziiert,  um 
eine  Widerlegung  möglich  oder  nötig  zu  machen. 

2)  S.  dazu  Schutzgilden  s.  34  fg. 


OAXGA    UNDIR    .TARDARMEN  159 

niclit  auf  sein  wort  gog-laubt  wurde,  er  seine  aussage  mittelst  einer 
feierlichen  Versicherung  bekräftigen  solte,  aber  bevor  diese  abgegeben 
wurde,  muste  er  „unter  den  rasenbogen  gehen"!  d.  h.  von  seinen  Sün- 
den gereinigt  werden;  denn  natürlich  muss  die  Versicherung  eines  sün- 
denfreien menschen  zuverlässiger  als  diejenige  sein,  welche  von  einem 
sündigen  menschen  abgegeben  wird".  Für  die  zeit  der  Laxda^la 
bemerkt  Kyrop,  dass  nicht  dieser  gedanke  massgebend  war,  sondern 
der,  dass  man  „in  dem  Zusammenbruch  des  erdstreifens  eine  äusse- 
rung  der  misbilligung  seitens  der  götter  erblickte"^.  Demnach  kann 
jene  ausser ung  über  die  vermutlich  ursprüngliche  auffassung  ebenfals 
nicht  aus  der  LaxdcTla  selbst  begründet  werden.  Sie  stelt  vielmehr 
nur  einen  versuch  dar,  den  bericht  der  lezteren  mit  einer  anderweitig 
gewonnenen  ansieht  über  die  bedeutung  des  (janga  undir  jaräarmen 
zu  vereinigen. 

Obwol  demnach  Nyrop  den  gang  unter  den  rasenstreifen  in  sei- 
nen verschiedenen  anwendungsfällen  auf  einen  und  denselben  grund- 
gedanken  zurückführen  v^dll,  bleibt  doch  auch  für  ihn  die  eingehung 
der  blutsbrüderschaft  der  einzige  fall,  in  welchem  jener  gedanke  noch 
direkt  quellenmässig  erkenbar  sein  soll.  Aber  vergeblich  sehen  wir 
uns  in  dem  hier  keineswegs  spärlichen  material  nach  irgend  welchen 
spuren  um,  w^elche  auf  die  auffassung  des  gcmga  iL.  j.  als  einer  rei- 
nigungsceremonie  hindeuteten.  Nyrop  hat,  Avie  schon  angeführt,  eine 
solche  als  vortreüich  verträglich  mit  der  eingehung  einer  blutsbrüder- 
schaft bezeichnet.  Allein  mit  welcher  wichtigen,  zumal  mit  welcher 
für  die  persönliche  Stellung  der  beteiligten  personen  wichtigen,  feier- 
lichen rechtshandlung  wäre  der  gedanke  einer  vorgäugigen  reinigungs- 
ceremonie  nicht  veiiräglich?  Warum  hätte  er  sich  gleichwol  nur  eben 
l)ei  der  eingehung  der  blutsbrüderschaft,  nicht  auch  z.  b.  bei  adoption 
und  legitimation ,  bei  eheschliessung  und  freilassung^  in  jener  eigen- 
artigen gestalt  anerkennung  zu  verschaffen  gewusst?  Dies  scheint  doch 
mit  entschiedenheit  darauf  hinzudeuten,  dass  wir  es  hier  nicht  mit 
einem  der  blutsbrüderscliaft  entnommenen  und  deshalb  ursprünglich 
auf  sie  beschränkten  gedanken  und  seiner  symbolischen  darstellung  zu 
tun  haben  ^. 

1)  S.  Schutzgilden  ,33  fg. 

2)  Diese  käme  hier  um  so  mein-  in  betracht,  als  sich  bekautlich  im  altgerma- 
nischen  rechte  die  auffassung  der  volfreiLassung  als  einer  widorgoburt  tatsächlich 
nachweisen  lässt.     Vgl.  Pappenheini,  Lauuegild  und  Oarethinx  s.  44  fg. 

8)  Das  einzige  den  quellen  entnommene  positive  avgument  Nyrops  für  seine 
ansieht  wird  alsbald  zu  würdigen  sein. 


160  PAPPENHEIM,    GANCtA   Vi^mn   JARDARMEN 

Wie  Nyrop  selbst  hervorhebt  \  muss  die  von  ihm  angenommene 
reinigungsceremonie  als  der  abschliessung  der  blutsbrüderschaft  voran- 
gehend gedacht  werden.  Denn  mit  dieser  lezteren  soll  ja  für  die  von 
ihren  sünden  gereinigten  ein  neues  leben  beginnen.  Dazu  stimt  aber 
der  formalismus  des  sverjask  i  föstbrmäralag  durchaus  nicht.  Aus  den 
quellen  ergibt  sich,  dass  die  blutsvermischung  und  die  eidesleistung 
unter  dem  rasenbogen  von  den  in  die  grübe  getretenen  vorgenommen 
wird.  In  dem  augenblick,  wo  beide  statfinden,  ist  demnach  der  akt 
der  widergeburt  noch  nicht  vollendet.  Denn  hierzu  gehört  —  und 
dies  kann  naturgemäss  auch  in  der  symbolischen  darstellung  nicht 
entbehrt  werden  — ,  dass  ein  austreten  des  betreffenden  aus  dem  mut- 
terleibe statgefunden  habe  2.  Dieses  erfolgt  in  unserm  falle  durch  das 
heraustreten  der  zu  brüdern  gewordenen  aus  der  grübe;  so  lange  sie 
in  derselben  sind,  erscheinen  sie  als  im  mutterleibe  befindlich.  Dem- 
nach ergibt  sich,  wenn  Nyrops  auffassung  der  widergeburt  als  einer 
reinigungsceremonie  angenommen'  wird ,  dass  die  leztere ,  die  doch  an- 
geblich der  eingehung  der  blutsbrüderschaft  vorangehen  soll,  in  Wahr- 
heit erst  auf  dieselbe  folgt.  Durch  die  beruf ung  auf  die  Schilderung 
des  sverjask  i  fostbroeäralag ,  wie  sie  die  I'orsteins  saga  Vikingssonar 
enthält,  scheint  uns  Nyrop  seine  Stellung  nicht  gefestigt  zu  haben.  Er 
meint  (s.  25)'',  dort  werde  erst  die  blutceremonie  und  darnach  der  gang 
unter  den  erdstreifen  erwähnt  und  erblickt  in  dieser  anordnung  eine 
hindeutung  darauf,  „dass  der  brauch  als  eine  reinigungsceremonie  auf- 
gefasst  werden  muss,  der  man  sich  unterwirft,  bevor  der  eid  geleistet 
wird".  Aber  einmal  ist  der  bericht  jener  sage,  wie  schon  anderweitig^ 
hervorgehoben,  nicht  zuverlässig,  dann  aber  sagt  er  ausdrücklich,  dass 
auch  hier  der  eid  von  den  noch  in  der  grübe  stehenden,  d.  h.  also 
noch  nicht  widergeborenen  geleistet  wurde  ^.  Endlich  ist  nicht  zu 
erkennen,  wie  es  für  und  nicht  vielmehr  gegen  Nyrops  auffassung 
sprechen  solte,  wenn  die  durch  blutsvermischung  und  eidesleistung 
erfolgende  scliaffung  der  bruderschaft  zu  einem  teile  nicht  nur  vor  dem 
abschluss,  sondern  sogar  vor  dem  beginn  der  ihre  Vorbereitung  bilden- 
den „reinigungsceremonie"  statfände. 

Lässt  sich  demnach  der  uns  überlieferte  ritus  des  sverjask  i  föst- 

1)  S.  oben  s.  157. 

2)  Das  bestätigen  die  sämtlichen  von  Nyrop  selbst  beigebrachten  beispicle  wirk- 
lich(}r  Verwendung  der  syinbolisehen  widergeburt  im  dienste  ceremonieller  reinigung. 

?>)  Dies  das  oben  s.  159  note  3  erwähnte  argument. 

4)  Schutzgilden  s.  81. 

5)  Verba:  qciniii  iiudir  jaräfirmm  nk  snrv  pnr  ciäa  (rorst.  s.  Vikgssnr. 
c.  21). 


.lElTTKI.KS,    ZUM    srin.'CII    VON    DKN    ZKIl^f    AI.TKliSSTTJFKN  161 

hnnh-dldji  mit  der  erklänini;'  dos  (jniiga  /nulir  jaräanncn  als  einer  zu 
V(ti;i;iiiii;iycr  cei-eniunicllor  reiniguui;-  bestiinten  wi(lorii,-eburt  nicht  in  ein- 
klang-  s(>tzen,  so  g'estaltot  sicli  alles  auf  das  eintaehste,  wenn  man  in 
dem  i;ani;-  unter  den  rasenstreif'en  leilii^licli  di(!  darstelhnii;  dos 
zur  künstlichen  Schaffung-  von  hrüdcrn  dienenden  gehurts- 
aktes  erblickt.  Der  gesamte  formalismus  des  srcrjdsk  l  fo^tbnvdnihHj 
erscheint  dann  in  seinen  drei  bestandtoih'n  als  von  demselben  gcdan- 
kcn  boherscht.  Di«^  blutsvermischung  dient  der  künstlichen  hcrstollung 
der  l)lutsgemeinscliaft,  die  eideslcistung  bietet  die  feierliche  und  ver- 
bindende form  für  die  erklärung  <W'^  auf  Schaffung  eines  brüderlichen 
Verhältnisses  gerichteten  willens.  iJeide  finden  statt,  während  die  kiiid- 
tigen  Schwurbrüder  als  gemeinsam  im  mutterleibe  weilend  dargestclt 
werden.  Als  fremde  schreiten  sie  unter  den  rasenstreifen;  aber  nicht 
früher  verlassen  sie  die  grübe,  als  bis  jene  übrigen  handlungen  vor- 
genonunen  worden  sind  und  sie  nun  als  brüder  wider  geboren  werden 
können.  So  erklärt  es  sich  nicht  nur,  sondern  erscheint  es  als  not- 
wendig, dass  das  (j(nt(ja  uiuUr  jdrildiiiioi  die  übrigen  teile  des  ganzen 
formalismus  in  sich  einschliesst,  wiihrend  es  nach  Nyrops  auffassung 
denselben  voranzugehen  hätte. 

KIEL.  MAX    PAl'PENHEIM. 


ZUM  SPEUCH  VON  DEN  ZEHN  ALTEESSTÜFEN  DES 

MENSCHEN. 
I. 

In  der  in  bd.  XXHI,  385  fgg.  dieser  Zeitschrift  enthaltenen  nach- 
gelassenen al)handlung  Z achers  über  die  sprichwörtliche  und  bildliche 
bezeichnung  der  zehn  altersstufen  des  menschen  hat  der  lierausgeber, 
herr  E.  Matthias,  eine  fassung  des  bezüglichen  Spruches  unerwähnt 
gelassen,  die  von  mir  in  der  „Grermania"  XX,  30  veröffentlicht  wurde 
und  wegen  ihrer  eigenartigen  form  meines  erachtens  besondere  berück- 
sichtigung  verdient.  Ich  glaul)e  daher  im  Interesse  der  loser  der  Zeit- 
schrift zu  handeln,  wenn  ich  sie  hier  widerhole  vuid  ihr  Verhältnis  zu 
den  von  Zacher  gesanmielten  kurz  bespreche.  Sie  steht  auf  dem  vor- 
setzldatte  des  der  Grazer  Universitätsbibliothek  gehörigen  exemplars  von 
Paniphilus  Gengenbachs  ,,Die  zehen  alter  der  weit".     S.  1.  1534.  8  und 

lautet: 

Die  x,elicn  alter. 

Zehen  jdr  ein  kiitt, 
xwainxig  jar  iviz  und  si/f., 

ZKITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXIV.  H 


162  JEITTELES 

dreissig  jar  ein  erwagsener  man, 
vierzig  jar  luol  gethan, 
funffxig  ja?^  stille  stan, 
sechzig  jar  ein  iveiser  man, 
sihentxig  jar  widter  ahe  lan, 
achtzig  jar  an  khruckhen  gan, 
ncimtxig  jar  der  khinter  spott, 
Clin  hundtert  jar  genadt  dier  gott. 

Wie  man  sieht,  ist  die  form  eine  von  sämtlichen  bei  Zacher -Matthias 
angeführten  Versionen  mehrfach  verschiedene.  Für  die  2.  und  6. —  8. 
altersstufe  werden  originelle,  aber  höchst  bezeichnende  schlagworte  ge- 
wählt: statt  „Jüngling"  ist  iviz  iiiid  sin,  wovor  vielleicht  ^^volV-  zu 
ergänzen,  gebraucht;  statt  „abgan"  oder  „geht  das  alter  an":  ein  wei- 
ser man;  statt  „ein  greis"  —  „aus  der  weis"  oder  „nimmer  weis" 
mit  den  bezüglichen  Varianten:  -tvider  abe  lan  ■ —  an  hrucken  gan. 
Die  für  das  zweite  jahrzehent  bestirnte  formel  klingt  an  die  unter  den 
allegorischen  darstellungen  des  spruchs  in  der  Münchener  handschrift 
(Zacher  a.  a.  o.  404)  begegnende  verderbte  und  unverständliche  textie- 
rung  „er  von  kainer  tvicz  halt''''  an,  obwol  sie  das  gegenteil  davon 
auszusprechen  scheint.  Ebenso  befindet  sich  der  der  8.  altersstufe  ent- 
sprechende ausdruck  „an  krucken  gan"  mit  den  bildlichen  darstellun- 
gen der  lebensalter  in  Übereinstimmung. 

Allerdings  fragt  es  sich,  ob  durch  die  für  die  6.  und  7.  alters- 
stufe gewählten  ausdrücke  die  anschauung  von  dem  auf-  und  absteigen 
der  lebensbahn,  die,  wie  Zacher  gewiss  mit  recht  annimt,  dem  Spruche 
zu  gründe  liegt,  nicht  verrückt  und  die  betreffenden  verse  etwa  unter 
einander  vertauscht  sind.  Doch  ist  das  wol  nur  scheinbar,  denn  auch 
die  vorliegende  form  gibt  einen  guten,  mit  jener  ursprünglichen  auf- 
fassung  übereinstimmenden  sinn:  wenn  man  nämlich  annimt,  dass  mit 
dem  beginn  des  60.  Jahres  der  mensch  gewissermassen  auf  dem  liöhe- 
punkte  der  gewonnenen  lebens Weisheit  angelangt  ist,  während  auf  der 
nächsten  altersstufe  durch  das  auftreten  von  gebrechen  und  Schwach- 
heiten widerum  ein  sinken  von  der  erstiegenen  höhe  bomerkliar  wird. 
Eine  Steigerung  der  im  7.  vers  angedeuteten  abnähme  der  kräfte  wird 
dann  durch  das  für  die  8.  stufe  gebrauchte  bild  „an  krucken  gan"  in 
sinfälliger  weise  ausgedrückt. 

Diese  auffassung  gewint  an  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  die  in 
vielen  Versionen  für  die  jähre  70  —  80  gebrauchte  textgestaltung  mit 
den  ausdrücken  „ein  greis  —  nimmer  weis"  in  betraclit  zieht,  wovon 


ZUM    SPRUCH   VON    DEN    ZEHN    ANTERSSTUFEN  163 

(lor  erste  den  eintritt  des  verfals  der  körperlichen  kräfte  bezeichnet, 
der  andere  nur  so  verstanden  werden  kann,  dass  die  im  60.  jähre 
erreichte  und  bis  zum  70.  jalire  behauptete  lebensweislieit  wider  abnimt. 
Nach  der  vorliegenden  fassung-  des  Spruches  wäre  mithin  für  den  stil- 
stand der  erreichten  volkraft  ein  Zeitraum  von  zwei  Jahrzehnten,  das 
50.  —  70.  lebensjahr,  bemessen. 

Ob  der  spruch  in  der  so  beschaffenen  form  algemeinere  geltung 
hatte,  steht  freilich  dahin.  Auch  mir  scheint  die  ursprüngliche  gestalt 
des  Spruches  ungefähr  die  zu  sein,  die  Zacher  XXIII,  401  nach  mut- 
masslicher annähme  ansezt;  nur  will  mir  nicht  einleuchten,  dass  die 
bloss  einmal  belegte  unlebendige  und  mehrdeutige  formel  aus  der 
weise  das  richtige  treffen  soll.  Die  anschauung,  dass  auf  der  einen 
Seite  Jugend  und  torlieit,  auf  der  andern  alter  und  Weisheit  synony- 
misierend  zusammengefasst  wird,  wohnt  meiner  ansieht  nach  unserem 
Spruche  keineswegs  inne^;  denn  in  den  allegorisclien  darstellungen  und 
bildern  sind  zwar  für  das  knaben-  und  Jünglingsalter  kitz,  kalb  und 
bock,  hingegen  für  die  eigentlichen  mannesjahre  stier,  löwe,  fuchs, 
tiere,  die  doch  nichts  weniger  denn  als  sinbilder  der  torheit  gelten 
können,  und  für  die  beiden  lezten  altersstufen  esel  und  gans,  die  doch 
gewiss  nicht  im  geruche  der  Weisheit  stehen,  typisch  angewendet. 
Wahrscheinlicher  erscheint  mir  die  annähme,  dass  für  das  80.  jähr  die 
formel  nimmer  weis  als  die  am  häufigsten  vorkommende  ursprüng- 
lich gegolten  hat  oder  dass  sie  wenigstens  neben  der  formel  aus  der 
weise  gleichberechtigt  einhergieng.  In  der  im  heutigen  volksmund 
gangbaren  gestaltung  des  noch  allenthalben,  insbesondere  auch  in  Öster- 
reich, ungemein  verbreiteten  Spruches  hat  sie  dann  dem  ausdruck 
seh  nee  weiss  grossenteils  platz  gemacht.  Für  diesen  scheint  ein  älte- 
rer, aus  früheren  Jahrhunderten  stammender  beleg  in  der  tat  nicht 
zu  bestehen.  Aus  diesem  gründe  (kaum  aber  wegen  der  reimbedenken, 
die  Zacher  s.  399  geltend  macht)  verbietet  sich  die  annähme  der 
ursprünglichkeit  dieser  formel;  denn  dass  der  spruch  wirklich  bis  ins 
13.  Jahrhundert  hinaufgerückt  werden  müsse,  dafür  dürften  sichere 
anhaltspunkte  vorerst  wol  schwerlich  gefunden  werden. 

WIEN.  ADALB.    JEITTELES. 

1)  Wfickeriiagel,  dessen  Schrift  „Die  lebensalter "  für  diese  auffassung  von 
Zacher  angezogen  wird,  spricht  an  der  betreffenden  stelle  (s.  1.3)  nur  im  algemeinen 
von  der  in  der  spräche  und  littoratur  geltenden  identität  von  alter  und  Weisheit, 
Jugend  und  unerfahrenheit. 


11^ 


164 


LKWY 


II. 

In  band  XXIII  s.  385  fgg.  dieser  Zeitschrift  steht  eine  lehrreiche 
abhandlung-  „Die  zehn  altersstufen  des  menschen"  aus  dem  nachhisse 
von  Julius  Zacher,  für  deren  veröjffentlichung  dem  herausgeber  E.  Mat- 
thias dank  gebührt. 

Zu  dem  Spruche  finde  ich  dem  Inhalt  wie  der  form  nach  ein 
merkwürdiges  seitenstück  aus  viel  früherer  zeit  in  der  Mischna,  dem 
älteren,  um  200  n.  Chr.  niedergeschriebenen  teile  des  Talmud,  und  zwar 
in  einem  satze  des  Jchuda  ben  Tema,  welcher  in  dem  ethischen  trak- 
tat  Ablioth  (V,  21)  enthalten  ist.  Ich  stelle  denselben  zur  vergleichung 
neben  die  von  J.  Zacher  zeitschr.  XXIII,  401  erschlossene  ursprüng- 
liche fassung  des  deutschen  Spruches, 
fünfjährig:  zur  Bibel. 


zehnjährig:  zur  Mischna. 
dreizehnjährig:   zu  den  geboten.   - 
fünfzehnjährig:  zum  Talmud, 
achtzehnjährig:  zur  hochzeit. 
zwanzigjährig:  zum  streben, 
dreissigj ährig:  zur  kraft, 
vierzigjährig:  zum  verstände, 
fünfzigjährig:  zum  rate, 
sechzigjährig:   zum  alter, 
siebzigjährig:  zum  greisenalter. 
achtzigjährig:  zum  mächtigen  alter, 
neunzigjährig:  zum  bücken, 
hundertjährig:  wie  tot  und  hinüber 
und  aus  der  weit  entschwunden. 


tehen  jär:  ein  ki/nt. 


'xweinxec  jär:  ein  jungelmc. 
dris,ec  jär:  ein  man. 
vierxec  jär:  wol  getan. 
vü?ifzec  jär:  stille  stän. 
sehxec  jär:  abe  (jän. 
sibenzee  jär:  ein  grise. 
ahtxec  jär:  üs,  der  ivise. 
niunxec  jär:  der  kinder  spot. 
hundert  jär:  genädc  got! 


Der  hebräische  spruch  bietet  einige  Zwischenstufen,  welche  in  dem 
deutschen  sich  nicht  finden  und  auch  nicht  finden  können,  weil  sie  auf 
eigentümlichen  altjüdischen  anschauungen  beruhen.  Die  Verschiedenheit 
beim  10.  jähre  kann  danach  nicht  auffallen.  Beim  20.  und  80.  jähre 
zeigt  sich  Übereinstimmung;  ebenso  beim  40.,  da  ivol  getan  bereits 
richtig  erklärt  ist  =  „steht  jezt  in  der  ganzen  fülle  seiner  körperlichen 
und  geistigen  kraft".  Beim  50.  bietet  der  hebräische  spruch  etwas 
neues,  nämlich  die  erfahrung,  welche  zum  raten  befähigt.  Beim  60. 
und  70.  herscht  wider  Übereinstimmung;  ebenso  in  beachtenswerterweise 
beim  80.  jähre,  wo  die  deutung  von  üs,  der  ivise  auf  ein  seltenes  und 
ungewöhnliclies  alter  durch  den  hebräischen  spruch  bestätigt  wird,  der 
geflissentlich  das  in  Psalm  90  v.  10  gebrauchte  wort  anwendet.     Beim 


Zl'M    sri;K('lI    VON'    1>KN    ZKIIN    ALTEHSSTUFKN'  165 

90.  jähre  ist  nur  der  ausdruck  vorschiedoii :  der  g-ebückt  gehende 
alte  erregt  den  spott  der  kinder.  Der  jüdische  gesetzeslehrer  konte 
die  spottenden  kindor  niclit  erwähnen,  (Ui  in  solchem  verhalten  eine 
Verletzung-  des  gesetzes  Levit.  XIX,  32  gefunden  worden  wäre.  Er  konte 
auch  aus  religiösen  gründen  beim  100.  jähre  gott  nicht  anrufen,  ohne 
dass  indessen  sein  urteil  über  diese  alters'stufe  für  abweichend  von  dem 
in  dem  deutschen  spruche  zu  halten  wäre. 

Der  hebräische  spruch  geht  über  die  im  psalm  gegebene  höchste 
lebensdauer  von  80  jähren  hinaus,  ohne  doch  die  in  der  Bibel  erwähn- 
ten noch  höheren  lebensalter  der  patriarchen  zu  berücksichtigen.  Es  ist 
mir  daher  wahrscheinlich,  dass  Jehuda  benTenia  einen  klassischen  spruch 
benuzt  und  durch  einschiebungen  in  jüdischem  sinne  vervolständigt  hat. 
Es  ist  weiterhin  möglich ,  dass  der  deutsche  spruch  selbständig  auf  die- 
selbe quelle  —  welche  aber  nicht  mit  Poet.  lat.  minor,  ed.  Baehrens  IV,  257 
(vgl.  diese  ztschr.  XXIII,  386)  gleichzusetzen  sein  würde  —  zurückgeht. 

Andererseits  möchte  ich  es  nicht  für  ausgeschlossen  halten,  dass 
der  bis  ins  15.  Jahrhundert  zurückzuverfolgende  deutsche  spruch  auf 
irgendeine  weise  —  bekant  sind  ßeuchlins  Talmudstudien,  allerdings 
etwas  später  —  aus  dem  hebräischen  entstanden  ist,  unter  weglassung 
der  ausschliesslich  jüdischen  beziehungen.  Diese  Vermutung  scheint 
mir  durch  eine  andere  unterstüzt  zu  werden. 

K.  Meyer,  Der  aberglaube  des  mittelalters  s.  143  und  230,  erwähnt 
nach  älteren  q^iellen  eines  noch  heute  wenigstens  im  scherze  häufig  aus- 
gesprochenen Satzes,  dass  reisende  personen  vom  geistlichen  stände  ein 
zeichen  baldigen  regens  seien;  den  Ursprung  dieses  satzes  vermag  er 
nicht  zu  erklären.  Nun  ist  in  gewissen  jüdischen  kreisen,  und  zwar 
ebenfals  scherzhaft,  das  wort  gang  und  gäbe:  „Wenn  die  chäsldwi  (d.  h. 
die  frommen)  wandern,  wird  es  bald  regnen";  und  dies  soll  auf  einer 
Verwechselung  mit  der  femininform  chäsldöth  „storche"  beruhen:  wenn 
die  Störche  sich  auf  die  Wanderschaft  machen,  so  ist  die  herbstliche 
regenzeit  nahe.  Man  Avird  diesen  satz  unbedenklich  als  den  ursprüng- 
lichen annehmen  dürfen;  aus  den  „wandernden  frommen  männern " 
sind  die  „reisenden  personen  vom  geistlichen  stände"  geworden. 

Solte  der  deutsche  spruch  von  den  zehn  lebensaltern  wirklich  auf 
den  hebräischen  zurückgehen,  so  könte  vielleicht  in  diesem  beim  90.  jähre 
neben  der  richtigen  lesart  mu;>  „zum  bücken"  die  paläographisch  sehr 
ähnliche  Variante  pin\Db  „zum  spotte"  vorhanden  gewesen  sein,  zu  wel- 
cher „der  kinder  spott"  auch  wörtlich  stimmen  würde. 

MtJLHAUSEN    IM    ELSASS.  HEIKEICH    LEAVY. 


166  STKEICHER 


ZUE  ENTWICKELUNG  DER  MHD.  LYEIK 

Richard  M.  Meyer  hat  Ztschr.  f.  d.  a.  XXIX,  s.  121  fgg.i  ähnlich, 
wie  vor  ihm  Wibnanns  zur  inhaltlichen  vergleichung  mit  "Walther,  so 
vom  formalen  g-esichtspuiikte  und  in  ungefähr  historischer  reihenfolge 
die  ausserordentlich  zahlreichen  parallelstellen  unserer  minnesänger  bis 
auf  Walther  sehr  sorgfältig  zusammengestelt  und  die  ansieht  ausgespro- 
chen, dass  sie  auf  anlehnung  nicht  innerhalb  dieser  poesie  selbst,  son- 
dern an  alte,  algemein  verbreitete  und  zwar  volkstümliche  lieder 
zurückzuführen  und  somit  als  ein  urkundliches  zeugnis  für  das  Vor- 
handensein einer  volkstümlichen  liebesdichtung  vor  dem  minnesange 
anzusehen  seien. 

Sind  sie  das  wirklich?  Und  lässt  sich  über  Vorhandensein  einer 
volkstümlichen  liebesdichtung  vor  dem  minnesange  und  über  ihre 
eigenart  nach  Inhalt  und  darsteilung  vielleicht  aus  den  vorhandenen 
denkmälern  der  mhd.  lyrik  ein  urteil  gewinnen?  Endlich:  welche 
stelle  gebührt  Walther  in  der  entwicklung  der  dichtung?  Mit  diesen 
fragen  beschäftigen  sich  der  reihe  nach  die  abschnitte  dieser  arbeit. 

I.     Bedeutung  der  formeln  in  der  si)r{iclie  des  niinnesangs. 

Auch  in  der  modernen  deutschen  lyrik  lassen  sich  hunderte  über- 
einstimmender stellen  auffinden,  von  denen  nach  abziig  aller  aus  zufall 
oder  infolge  der  algemeinheit  der  betreffenden  sache  und  der  geläufig- 
keit  des  verwendeten  ausdrucks  gleichlautenden,  sowie  der  offenbar 
beabsichtigten  entlehnungen  eine  sehr  grosse  menge  in  der  tat  der  art 
ist,  dass  man  sie  für  bewusste  oder  unbewusste  nachklänge  vorhan- 
dener formeln  zu  halten  berechtigt  ist.  Indes  ist  —  unternimt  man 
einen  versuch  —  das  immerhin  eine  mühsame  arbeit,  und  mehr  als 
immer  etwa  fünf  mehr  oder  minder  gleicher  verse  lassen  sich  in  ziem- 
lich weitem  umkreise  überhaupt  nicht  leicht  finden,    während  bei  den 

1)  E.  Tb.  Walters  ausführlicher  versuch,  die  ansieht  Meyers  zu  widerlegen 
(Genn.  XXXIV,  s.  1  fgg. :  Über  den  urspriuig  des  höfischen  niinnesangs  und  sein  Ver- 
hältnis zur  volksdicJituug)  bat  ihm  eine  scharfe  und,  wie  mir  scheint,  in  bezug  auf 
die  hauptsacho  ungerecbtfertig-te  zurückweisiuig  eingetragen  (Ztschr.  f,  d.  a.  XXXIV, 
s.  146  fgg.:  Volksgesang  und  ritterdichtung).  Das  ist  die  veranlassung  gewesen,  die 
folgenden  bereits  1885  entstandenen  bemerkungeu  über  dieselbe  frage  auch  nach  "Wal- 
ters aufsatz  noch  zu  veröffeutliclien.  Bezüglich  der  wenigen  einzelheiton,  in  denen 
wir  ausser  dem  gemeinsamen  Widerspruche  zusammentreffen,  erkläre  ich,  weder  von 
ihm  noch  aus  Meyers  entgeguung  eine  nachträgUche  entlehuung  gemacht  zu  haben. 


Zri;    K.NTWirKKLUNCi     DKK    MUH.    I.YKTK  107 

miniiosäu^-oni  l)is  je  z\viin/i,i;  in  die  auL;en  fallen.  Meyer  schliesst  alle 
Sprichwörter  und  kleineren  lormeln,  die  nie  einen  ganzen  vers  ausfül- 
len, ans:  und  doch  weist  seine  tabelle  Hausens,  lvui;;i;'es,  Morungens 
uanien  ja  mehr  als  HOnial  auf,  Keinniar  und  Neithard  sind  anderthalb- 
huiuiertnial,  von  Walthei'  soi;ar  übei'  100  verse  (wenn  auch  nicht  alle, 
wie  Meyei'  selber  weiss,  mit  uleiehem  rechte)  genant,  die  er  selbst 
widerholt  oder  mit  andern  gemein  hat.  l)al>ei  begegnen  aber  unter 
den  00  bez.  öO  aus  .Meinloli  und  Dietmar  angeführten  stellen  je  22 
hier  /um  (n'sten  male,  Aviihrend  auf  Hausens,  ilugges  und  Morungens 
omal  ca.  00  in  sunnna  nur  lo,  auf  die  oben  genante  an/ahl  lieinmars 
8,  auf  die  AValthers  5  und  Xeithards  auch  nicht  mehr  neulinge  kom- 
men: ein  Verhältnis,  das  durch  erweitcrung  der  sanduiig  zwar  Verän- 
derungen erfahlen  würde,  im  rahmen  der  gebutencn  Übersicht  aber 
schon  für  die  dauernde  bewahrung  und  algemeine  benutzung  des  ein- 
mal eingebürgerten  bezeichnend  ist.  Und  wenn  nun,  wie  nicht  zu 
vergessen,  die  doch  gewiss  noch  grössere  masse  der  uns  verlorenen 
dichtungen  jener  zeit,  da  niinnesiugen  einen  akt  im  geselschaftliclien 
verkehr,  einen  bestandteil  ritterlicher  woln'ezoa-enheit  ausmachte,  sicher- 
lieh  keine  andere  spräche  führte,  als  die  aufbewahrten,  so  Avird  man 
Meyer  unbedingt  zugeben,  dass  Zufälligkeit  in  einzelnen  fällen  wol  mög- 
lich sei,  jedoch  für  die  ausserordentliche  fülle  der  erscheinung,  Avie 
sie  dem  leser  von  Mt^  sich  von  selbst  aufdrängt  und  von  neuem  ein- 
driniilicher  durch  diese  sandun»-  zu  gemüte  geführt  worden  ist,  keine 
ausreichende  erklärung  bietet. 

Wird  man  aber  die  annähme  unabsichtlicher  oder  unbcAvuster 
anlehnung  und  unvermerkter  oder  unabgewehrter  anziehung,  Avie  sie 
Meyer  vorgeschwebt  hat,  aus  den  gleichen  erwägungen  nicht  ebenfals 
zurückweisen  müssen?  Ich  meine,  ja!  Denn  es  erscheint  undenkbar, 
dass  sich  jene  verse  und  formeln  in  solcher  masse  „eingeschlichen", 
dass  ihr  tonfall  und  wortgefüge  unvermerkt  gewirkt  und  andere  nach 
sich  gezogen  habe,  so  dass  diese  sänger  etwa  erst  durch  einen  kri- 
tischen leser  auf  die  erscheinung  zu  ihrer  Überraschung  hätten  auf- 
merksam gemacht  Averden  können.  Es  geht  auch  nicht  an,  bloss  einen 
von  dem  unsrigen  abweichenden  geschmack  anzunehmen  und  jenen 
dichtem  eine  heutzutage  in  diesem  masse  nicht  erlaubte  harndosigkeit 
gegenüber  fremdem  gute  zuzutrauen  oder  es  als  betjuemlichkeit  gelten 
zu  lassen,  die  jener  kunstübung  bei  ihrer  Verbreitung  fast  notAvendig, 
anfangs  Avenigstens  ganz  natürlich  gCAvesen  wäre.  Vielmehr  Avird  man 
sich  angesiclits  der  ungemeinen  häutigkeit  und  der  dauerhaftigkeit  die- 
ser formeln  nicht  der  einsieht  verschliessen,  dass  hier  keine  unbewuste. 


108  bTREICHER 

sondern   eine  beabsichtigte,    erstrebte  gleichförmigkeit  der  sprach- 
lichen form  vorliegt. 

Wie  steht  es  dann  aber  mit  der  ansieht,  die  erscheinuug  finde 
ihre  erklärung  aus  dem  Zusammenhang  mit  älteren  Volksliedern?  Der 
ritterliche  spielmann  —  und  war's  selbst  ein  mann  von  dem  freien 
blicke  Walthers,  der  dazu  selber  zwei  Jahrzehnte  lang  fast  ein  spiel- 
mannsleben  führte  —  wendete  sich  doch  stolz  von  den  genossen  ab, 
die  getragene  ivät  nahmen,  und  die  vornehme  geringschätz iing  volks- 
tümlichen treibens  hat  in  sein  schönes  maienlied  (51,  13)  ein  störendes 
odi  profanum  gebracht  (51,  25).  Die  gleiche  gesinnung  spricht  aus 
Neidharts  spöttischer  muse,  lehrte  aber  auch  bereits  Veldegges  dame 
ihre  abwendung  von  dem  ehemals  geliebten  mit  den  charakteristischen 
Worten  (57,  30  —  32)  rechtfertigen,  die  seinem  benehmen  als  herbsten 
Vorwurf  den  des  bäurischen  machen.  Und  dem  geselschaftlichen  kreise, 
in  welchem  solche  anschauungen  herschten,  solte  man  von  anfang  bis 
zur  zeit  der  höchsten  blute  seiner  ihm  allein  eigentümlichen  kunst, 
während  doch  vermutlich  die  abschliessung  zunahm,  die  gleiche  Ver- 
trautheit mit  den  weisen  des  volkes,  die  ini  volke  selbst  doch  auch 
noch  hätten  leben  müssen,  und  die  unausgesezte,  bereitwillige  hingäbe 
an  ihre  eindrücke  zutrauen  dürfen?  Eher  würde  dann  mit  der  vol- 
leren entfaltung  der  neuen,  höfischen  kunst  eine  immer  zunehmende 
abkehr  von  nachklängen  der  älteren  dörperllchen  zu  erwarten  sein. 
Auch  erscheint  eine  in  dem  masse  algemeine,  gleichmässige  Verbrei- 
tung derselben  vermeintlichen  Volkslieder  in  fast  ganz  Deutschland,  wie 
sie  Meyers  annähme  zur  Voraussetzung  hat,  für  jene  zeit  unwahr- 
scheinlich, weil  es  ein  so  wie  das  rittertum  in  spräche,  anschauung, 
lebensform  gleichgeartetes  Volkstum  nicht  gab.  Entscheidend  aber  ist 
der  umstand,  dass  ihrem  Inhalte  nach  eine  ganze  reihe  jener  angeb- 
lichen reste  alter,  volkstümlicher  gesänge  sicherlich  weder  alt,  noch 
volkstümlich  sind.  Denn  dass  z.  b.  das  aus  CB.  116"  (Meyer  s.  137)  ange- 
führte Vroive  ich  hin  dir  undertdn  mit  seiner  sippe,  ebensowenig  wie 
die  Wendungen  tvan  oh  ich  hän  gedienet  (MF.  13,  31)  oder  swaz  sie 
gehiutet,  daz  da%  allex,  si  getan  (15,  16)  mit  den  von  Meyer  dazu 
(s.  149  und  151)  gebotenen  verwanten  auf  dem  alt  bebauten  boden 
einer  Volksdichtung,  sondern  dem  neu  bestelten  felde  des  höfischen 
frauendienstes  gewachsen  sind,  kann  wol  keinem  zweifei  unterliegen. 
Und  wem  gehören  sonst  die  im  bewusstsein  redlichen  Verdienstes  um 
lohn  stammelnden  bitten  frowe  lät  mich  des  geniexen  usw.,  die  zu 
CB  116a  (s.  137)  aufgezählt  sind,  als  dem  minnenden  ritter?  Dem 
höfischen  minnesang  allein  die  reflexionen  über  die  erziehliche  wii'kung 


ZUK    KNTWICKELUNG    DEK    MUD.    LVKIK  169 

ungelohnter  minne,  von  der  sie  sagen,  dass  sie  kan  (jcbot  huken 
muot,  du  hast  getiuret  mir  den  vmiot  und  was  dergl.  zu  MF  3,  13 
und  33,  26  auf  s.  134/5  genant  wird.  Und  sollen  die  seit  Hausen 
(42,  9)  unaufhörlichen  liebesbeteurungen  an  die  eine  für  cllkc  wip 
volkstümlichen  Ursprungs  sein?  Alle  diese  und  andere  formein  tragen 
vielmehr  so  ganz  deutlich  den  Stempel  der  erst  mit  dem  jninnesange 
entstandenen  Verhältnisse  der  ritterlichen  geselschaft,  wie  andere  den 
jener  merkwürdigen  unten  noch  näher  zu  beobachtenden  anschauungs- 
Aveise  dieser  poesie.  Denn  mir  rdtent  vitne  sinne  oder  7nir  gap  ein 
sinnic  herxe  rät  u.  dgl.  (Meyer  s.  149  zu  MF  13,  25)  wusste  vor  der 
zeit  der  minnesänger  kein  ritterlied  und  kein  Volkslied  zu  sagen.  Lied- 
chen, die  verse  dieser  oder  jener  art  enthalten  hätten,  wären  keine 
vollis-,  sondern  ritterliche  minnelieder  gewesen;  und  eine  diclitung,  die, 
wie  Meyer  will,  fast  nur  aus  seinen  formein  gebildet  gewesen  wäre, 
würde  sich  vom  minnesange  vielleicht  durch  den  strophenbau,  in  wesent- 
lichen dingen  aber  durchaus  nicht  unterschieden  haben.  Hat  es  aber 
vor  dem  minnesange  lyrische  dichtung  gegeben,  so  ist  sie  auch  von  ihm 
verschieden,  ja,  wie  sich  zeigen  wird,  grundverschieden  gewesen. 

Wenn  nun  nicht  aus  Volksliedern,  woher  sonst  jene  formein? 
Meyer  selbst  lässt  sich  darüber  (s.  166)  so  vernehmen:  „Der  Ursprung 
aus  der  Umgangssprache  ist  klar.  Aber  diese  formein,  behaupten  wir, 
müssen  in  feste,  dichterisch  brauchbare  gestalt  schon  vor  der  zeit  der 
ältesten  uns  erhaltenen  lieder"  —  soll  sagen,  in  der  zeit  des  Volks- 
liedes ■ —  „gebracht  worden  sein".  Dass  sie  das  aber  ganz  und  gar 
nicht  müssen  und  die  ansieht,  gestaltung  und  festigung  von  formein 
im  Zeitalter  des  minnesanges  selbst  sei  undenkbar,  eine  blosse  behaup- 
tung  bleibt,  ist  durch  die  oben  erwähnten  ihres  Inhaltes  wegen  sicher- 
lich erst  mit  und  im  minnesange  entstandenen  und  doch  auch  darin 
fest  gewordenen  Wendungen  bereits  erwiesen.  Und  wenn  gefragt  wird, 
Avie  ohne  die  bereits  überlieferten  formein  zwei  in  „art  und  form"  so 
verschiedene  dichter  wie  Gutenburg  und  Walther  auf  so  ähnliche  verse 
wie  der  yedhige  tnot  rnir  wol  und  doch  tnot  mir  der  gedinge  icol 
(MF.  76,  35.  W.  92,  7)  allein  durch  die  Umgangssprache  hätten  kommen 
können,  der  dabei  doch  die  phrase:  „diese  hofnung  tut  mir  wol"  nicht 
abgesprochen  wird ,  so  möchte  maii  in  dem  falle  fast  mit  der  umge- 
kehrten frage  entgegnen,  wie  sie  unter  dieser  Voraussetzung  für  den 
gleichen  gedanken  im  gleichbewegten  versmasse  einen  v^erschie denen 
ausdruck  hätten  finden  sollen! 

Somit  bleibt  die  Umgangssprache  ohne  eine  so  Aveitgehende 
Vorarbeit  früherer  dichtung  im  algemeinen   allein   die  quelle  jener  for- 


170  STREICHER 

mein,  und  was  Meyer  s.  165  fg^.  Aveiter  dagegen  geltend  macht,  kann 
ich  nicht  als  stichhaltig  anerkeimen.  Die  form  und  fassung  derselben 
soll  mit  ihrer  entstehung  aus  einer  blossen  Umgangssprache  unverein- 
bar sein.  Worte  wie  in  minem  herzen  ich  si  trage  oder  sune  ivirde 
ich  niemer  frö  passten  wol  zu  Moliereschen  precieusen,  seien  aber  im 
munde  der  damen  des  12.  Jahrhunderts,  in  der  Unterhaltung  der  „eiser- 
nen" ritter  einfach  undenkbar.  Nun,  ein  unangemesseneres  epitheton 
als  eisern,  selbst  in  gänsefüsschen ,  hätte  man  für  den  ritter  jener  zeit 
im  verkehr  mit  der  frauenweit,  aus  dem  und  für  den  allein  seine  lie- 
der  entstanden,  wirklich  nicht  herbeiziehen  können!  Die  Unterhaltung 
der  ritter  und  frauen  war  eben  keine  „prosa  des  tages",  und  es  herschte 
da  kein  „altäglicher  gesprächston " ;  denn  mit  der  redeweise  der  höfi- 
schen geselschaft  in  festlicher  Stimmung  haben  wir's  zu  tun;  einer 
geselschaft,  in  welcher  der  stolz  des  mann  es  sich  freiwillig  auch  der 
laune  des  weibes  zum  spiele  bot,  sein  lied  Unterhaltung  schafte  durch 
Verkündigung  von  gefühlen  und  empiindnngen,  die  eigentlich  nur  einer 
galten  und  nur  ihr  gesagt  sein  selten,  seine  gedanken  sich  oft  in  den 
unbescheidensten  wünschen  ergiengen,  deren  Verwirklichung  die  doch 
so  demütig  und  fast  scheu  verehrte  frauenwürde  in  den  staub  gezogen 
haben  Avürde.  Es  ist  die  spräche  einer  geselschaft,  aus  der  man  ohne 
Verwunderung  schon  nach  einem  halben  Jahrhundert  die  misgestalt  eines 
Ulrich  von  Liechtenstein  hervorgehen  sieht.  Wie  hätte  sie  sich  natür- 
lich und  al täglich  ausdrücken  sollen?  Taten  es  auch  die  allongeperücken 
im  17.  Jahrhundert? 

Die  innerlich  widerspruchsvollen  Verhältnisse  hatten  nur  bestand 
durch  äusserliche,  bis  ins  einzelnste  ausgeprägte,  fest  verpflichtende 
formen,  nach  deren  strenger  beobachtung  in  allen  lagen  man  gesel- 
schaftlichen  takt  und  gute  sitte  bemass.  So  gieng  ein  gewisses  mass 
vu]i  formelwesen  vor  allen  in  die  spräche  als  ausdruck  und  mittel  die- 
ser gcselschaftlichen  beziehungen  ganz  naturgemäss  über  und  stelt  sich 
daher  auch  in  den  dichterischen  erzeugnissen  als  wesentliches  kenzei- 
chen jenes  Verkehrs  und  lebens  dar.  Mochten  jene  sänger  ihren  stolz 
darein  setzen,  für  ihre  weisen  neue  töne  zu  erfinden  —  dem  guten 
tone  unterwarfen  sich  im  gcselschaftlichen  leben,  wie  auch  im  poeti- 
schen ausdruck,  soweit  minnedienst  und  minnesang  verbreitet  wurde, 
alle  so  bereitwillig,  dass  selbst  persönliche  besonderheit  in  jener  kunst 
nur  sehr  selten  und  schwach  zur  geltung  kam.  Und  die  so  entstan- 
dene gleichmässigkeit  des  ausdrucks  bis  ins  kleinste  konte  keinem  sän- 
ger oder  Zuhörer  anstössig  sein,  weil  jenem,  wie  später  den  meister- 
singern    ihrer    tabulatur   gegenüber,    das    gefühl    der    Unfreiheit    seiner 


ZUK    ENTWKKELUNÜ  .UEK    MllD.    LYKIK  171 

bewef^ung  al)g'ieug-  und  beide  den  g-ebraucli  regelrechter  umgangstbr- 
meln,  je  häutiger  er  sieh  l)ut,  um  so  mehr  als  Vorzug  an/Aiseheu  sieh 
gewöhnten.  Für  die  keiitnis  der  hr)hs('lifn  Umgangs-  und  dichtersprache 
wäre  also  zu  wünsehen,  dass  ]\Ieyer  seiner  sandung  die  erwähnte  ein- 
seliräukung  nicht  auferlegt  hätte. 

II.    Verhältnis   zwisclien    mann    und  IVau   und    diclitt'risclic 
anscliauunu    in   <1<m'   mlid.   lyrik. 

Meyer  bezog  sieh  auf  einen  aufsatz  Burdaehs  (Ztsehr.  f.  d.  a.  XXVU, 
s.  o-to  fg.),  der,  gegen  Wilmanns'  entgegengesezte  meinung  gmiehtet, 
naeiizuweisen  suehte,  dass  es  vor  der  zeit  des  höfischen  niinnesanges 
in  Doutseiüand  eine  weitverbreitete,  volkstündichc  lioboslyrik  gegeben 
hal)e.  Ich  unterlasse  es,  sowol  im  einzelnen  bedenken  gegen  seine 
l)ewt'isführung  zu  äussern,  wie  auch  im  ganzen  den  gleichen  gang  zu 
nehmen,  um  die  })unkte  der  üboreinstimmung  und  des  widers[)ruehs  zu 
bezeichnen.  Ich  wiinsche  vielmehr  durch  die  betraclitung  der  erhal- 
tenen denkmälcr  ndid.  lyrik  einen  gesichtspunkt  in  helleres  licht  zu 
setzen,  von  dem  aus  sich  dann  ein  urteil  über  die  Meyer  und  Bur- 
dach gemeinsame  ansieht  und  vielleicht  nebenher  für  das  vei'ständnis 
dieser  poesie  ein  auch  den  darum  verdienten  gelehrten  nicht  unwil- 
kommener  beitrag  ergeben  dürfte.  Icii  meine  die  bekante,  aber,  Avie 
mir  scheint,  nicht  hinreichend  gewürdigte,  durchschlagende  Verschie- 
denheit der  in  MF  vereinigten  dichtungen  in  bezug  auf  das  gegensei- 
tige Verhältnis  von  mann  und  frau  und  die  dichterische  anschauung. 
Und  ZAvar  sondern  sich  in  dieser  hinsieht  von  der  grossen  fast  schablo- 
nenhaft gleichartigen  masse  ab  die  lieder  Küreubergs  und  mehrere 
Meinlohs  und  Dietmars,  endlich  einzelne  unter  den  namenlos  überlie- 
ferten und  denen  der  Ijciden  burggrafen  von  Eegensburg  und  liieten- 
burg;  die  meisten  durchaus,  einzelne  nur  mit  einzelnen  zügen. 

Da  erklärt  die  dame  noch  ohne  Zimperlichkeit  und  Ziererei,  mit 
natüi'licher  oflenheit  und  überzeugender  Innigkeit  (4,  36),  dass  er  ihr 
der  aUeiiiebesic  »/an  sei;  dass  keiner  in  aller  weit  ir  besser  gefalle 
(4,  3-f);  dass  sie  es  nicht  im  zorne  übers  herz  bringe  zu  sagen:  es  sei 
ihr  iciucn  alsc  licp  (18,  5);  sie  ruft  sogar  gott  zum  zeugen  an,  dass  sie 
ihm  wahrhaftig  diu  holdeste  sei  (4,  7).  Mht  fruide  de\  nnKiiist  ist  uinh 
(die  ander  man,  er  und  kein  anderer  ist  ihres  herzens  freude  (7,  ]7); 
und  dass  ers  mit  ihr  ebenso  halte,  bittet  eine  betrübten  sinnes  gar 
zärtlich  den  geliebten,  der  ein  leichter  vogel  zu  sein  scheint  (37,  23): 
min   trat,  da  soll  yclonben  dieh  anderrc  n:(be:   wan ,  liclt,  die  soll  da 


172 


STREICHER 


miden.  Doch  dass  keine  andere  zuvor  in  seinem  herzen  gewolnit  habe, 
und  dass  sie,  die  seiner  liebe  jezt  sich  freut,  gerade  von  anbeginn  die 
erste  und  einzige  gewesen  —  das  zu  verlangen  sind  sie  nicht  engher- 
zig, es  sich  einzubilden  nicht  schwärmerisch  genug.  Nein,  mit  liebens- 
würdiger naivetät  macht  sich  da  eine  über  ihre  arme  Vorgängerin 
gedanken  (13,  35):  sivelhiu  sme?i  willen  hie  bevor  hat  getan,  verlos 
si  in  von  schulden,  der  wil  ich  nü  niht  ivi%e7i,  sihe  ichs  unfroelichen 
stän.  Und  ebensowenig  glaubt  eine  andere  selbst  ein  hehl  daraus 
machen  zu  müssen,  wenn  auch  ihr  herzenskämmerlein  der  jezt  geliebte 
nicht  zuerst  erschlossen  hat;  vielmehr  spricht  sie  es  unbesorgt  aus 
(4,  37):  du  bist  in  rninen  sinnen  für  alle,  die  ich  ie  gewan.  Vor- 
wurfsvoll aber  beschwert  man  sich  über  andere  frauen,  die  nicht  übel 
lust  haben,  sich  der  beneideten  zum  trotz  ihren  ritter  einmal  näher 
anzusehen  (4,  33);  oder  wir  hören  gar  bitre  klagen,  wie  unstaetiu  ivip 
manch  kindeschen  man  nur  betrügen,  ihm  den  sinn  verwirren  (4,  1), 
was  oft  reiner  liebe  bund  zerstöre.'  Was  hilft  ihr  es  dann,  dass  sie 
selbst  ir  dcheiner  tj'ütes  doch  auch  nicht  zu  begehren  mit  schmerz- 
lichem scherze  beteuert  (37,  17)?  So  eine  vergessene  konte  nie  fro 
irerden  sit  (7,  26);  den  lügenaere  aber,  den  störern  ihres  glucks,  wird 
nichts  gutes  gewünscht  (9,  17).  Auch  die  unbequeme  hiiote  macht  gar 
mancher  schmerz,  wunderliche,  eigensinnige  leute,  die  einer  solchen 
liebenden  seele  zumuten,  von  dem  freund  zu  lassen,  desgleichen  sie 
doch  keinen  findet  auf  erden  (36,  5),  und  die  auch  gehässige  reden  nicht 
verschmähen  (13,  19).  Nur  selten  freilich  ruft  dies  sanftschmerzliche 
klagen  hervor  (32,  3),  meist  schlagen  die  vermahnten  trotziglich  ent- 
schlossen die  Warnung  in  den  wind.  Ich  laxe  in  durch  ir  niden  niet. 
si  fliesent  alle  ir  arebeit:  er  Irin  mir  niemer  icerden  leit,  heisst's  da 
(18,  6);  oder  (16,  12):  nnd  laegen  si  vor  leide  tot,  ich  wil  im  iemer 
ivescn  holt,  si  sint  betwungen  äne  not;  und  noch  stärker:  staechens 
ü%  ir  ougen,  mir  rätent  mtne  sinne  an  deheinen  andern  man  (13,  24). 
Ja  eine  herzhafte,  die  erfahren  hat,  dass  kein  weib  es  jemals  der 
weit  recht  machen  kann,  verdamt  es  frischweg  als  verwerflichen  klein- 
mut,  solcher  Weisung  gehorsam  zu  sein  (33,  11):  siver  sin  Uep  darambe 
IM,  daz  kumet  von  sivaches  herxen  rat.  Kleinmut  aber  und  scliwäche 
ist  den  frauen  dieser  lieder  allerdings  fremd.  Eher  gewaltsam  könten 
sie  erscheinen,  wenn  z.  b.  eine  von  leidenschaftlicher  liebe  zu  einem 
ritterlichen  sänger  erfasst  ihm  kurz  die  wähl  stelt:  entweder  wird  er 
mein,  oder  er  hebt  sich  aus  dem  lande  (8,  7).  Sogar  einer  derbheit 
sind  sie  im  augenblicke  der  erregung  nicht  unfähig,  und  wir  brauchen 
nicht   zu  erstaunen,    wenn   wir   einen   wenig  beherzten  liebhaber,    der 


ziTR  ?;ntwickklunct  der  Mirn.  lvrik  173 

wiü  Wilhelm  ^rüllor's  wandercr  sich  f^'cschout  (h'ii  schlaf  der  hohlen 
zu  stören,  oh  dieser  nach  ihrer  nieiiuiii^i^-  gar  nicht  angebrachten 
zarten  riicksicht  nnhütlicli  genng  aus  tVauonniunde  mit  diesen  kräftigen 
Worten  danken  hören:  des  (jeltax/xe  (jot  drii  dhirn  lip!  jd  cit/rcts  ich 
niht  ein  her  /rildc,  der  dich  autgefressen,  wenn  du  mich  g(nveckt: 
liätte  sie  fortfahren  müssen,  wenn  uns  des  säng-ei's  hötliciikeit  nicht 
den  rest  iln-es  wilkommens  verschweigen  gewolt  (8,  15). 

Ollen  und  unvei'stelt,  natürlich  und  iniumwunden,  wie  Jieb(!  und 
Jeid.  so  äussert  sich  eben  auch  ihr  unmut  ungehindeit,  unverhült, 
keck  und  derb;  ob  die  erzählte  scene  sich  zwischen  eheleuten  oder 
iniverheirateten  abspielt,  ist  dafür  gleichgiUtig.  Daher  bildet  mit  die- 
sem handfesten  ausbruch  des  Unwillens  wol  einen  grellen  koutrast, 
aber  keinen  unvereinbaren  Widerspruch  das  liebliche  bekentnis  schä- 
migen errötens  in  einem  gedichte  des  Kürenbergers,  einer  wahren  perle 
unter  diesen  schätzen  (8,  17):  Sivenne  icli  sbhi  alciiic  in  mlnon  licmcde 
mid  ich  (jedoike  ane  dich,  rittcr  cdele,  so  crhlücjct  sich  nilti  vance 
nis  ruse  an  dorne  tuot.  Und  widerum  tritt  die  ganze  Zartheit,  Innig- 
keit, Sanftmut  und  herzlichkeit  weiblicher  art  zu  tage,  Avenii  eine  die- 
ser fraiien  um  den  fernen  geliebten  sorgt,  da\  er  sieh  n-ol  bchücte 
(82,  22);  wenn  eine  andere  sich  mit  zweifeln  quält  ob  seines  langen 
ausbleibens:  sn/ider  ane  ))itnc  scJinlt  fremedet  er  mich  nuinegen  tetc 
(34,  13)  und  darüber  schon  den  ganzen  wiuter  lang,  seit  die  blunien 
welkten  und  die  vögel  verstumten,  in  grossem  Jammer  zu  leben  bekent; 
wenn  wider  eine  den  oöenbar  grollenden  an  liebe  werte  erinnert,  die 
er  einst  zu  ihr  gesprochen,  und  seinem  boten  aufträgt:  hite  in,  dcix,  er 
mir  holt  si,  cils  er  hie  vor  nrts  (7,  6)  oder  ihm  ins  gedächtnis  ruft, 
wie  sie  sonst  ihm  lieb  war,  do  dd  mich  erst  saehe  (37,  26).  Ebenso 
w-enn  eine  den  segnet,  der  ihr  den  erzürnten  geliebten  wider  versöh- 
nen werde  (9,  19);  wenn  sie  ihre  ungeduldige  sehnsuclit,  als  ob  sie 
sich  ihrer  ein  wenig  schäme,  gar  artig  so  versteckt:  ane  selunides  lei- 
des lidn  ich  vil,  da\,  ich  im  selbe  (jerne  Ikujcn-  wil  (33,  5);  wenn 
rosenblühen  und  vögleinsingen,  das  doch  allen  herzen  freude  bringt, 
und  alle  sanicnrunne  für  sie  nicht  da  ist,  so  lauge  ihr  holder  geselle 
fern  bleibt;  wenn  sie  uns  ihr  geheimnis  erzählt  von  vergeblichem  bemü- 
hen um  das,  was  sie  nicht  gewinnen  kann  und,  was  das  sei,  uns  dann 
mit  wehmütigem  scherze  deutet:  jem  mein  ich  yolt  noch  silbcr:  e\  ist 
den  liutcn  gclich  (8,  31);  wenn  sie  den  talken  beneidet,  wie  er  frank 
und  frei  auf  den  ast  im  walde  tliege,  der  ihm  wolgefalle:  .so  nrjl  dir, 
valke,  dax  du  bist!  du  fliugest  sicar  dir  liep  ist,  während  ihr  den  erko- 
renen  mann   andere  frauen   nicht  so  unbestritten  lassen  (37,  8);    wenn 


174  STREICHER 

ähnlich  eine  verlassene,  der  ihr  liebster  wie  ein  falke  auf  und  davon 
geflogen,  fromm  und  zart  ihre  saclie  dem  anheimgibt,  der  trennen  und 
vereinen  kann:  got  sende  si  zesamene,  die  gerne  geliehe  wellen  stfif 
(9,  11).  Wie  einfach  und  innig  sind  auch  die  bekanten  werte,  die  das 
mägdlein  von  Tegernsee  ihrer  schwungvollen  lateinischen  liebesepistel 
anhängt!  Dann  wider  leuchtet  der  helle  stolz  aus  den  werten  glück- 
licher, die  sich  der  liebe  ihres  beiden  sicher  fühlen:  Du  zierest  mine 
sinne  unde  bist  mir  darzuo  holt,  spricht  die  eine  (5,  12);  die  andere 
empfindet  es  mit  erhebender  befriedigung :  Ich  tnuoz,  von  rehten  schul- 
den ho  trage?i  daz  herze  und  al  die  sinne,  sit  miclt  der  allerbeste 
man  verholn  in  stme  herzen  minne  (38,  5);  die  dritte  sont  sich  im 
glänze  des  geliebten:  der  sich  mit  manegen  tugenden  guot  gem,achet 
al  der  werlte  liep,  der  mac  ivol  hohe  tragen  den  muot  (16,  5).  So 
das  weib  in  diesen  liedern. 

Der  mann  erscheint  seiner  natur  nach  abgemessener,  besonnener, 
ruhiger.  Wol  kent  auch  er  die  zarte"  regung  der  Sehnsucht :  mir  tuot  dne 
mdze  we,  daz  ich  si  so  tätige  tnide  (32,  15),  klagt  er,  und  dass  aller  vög- 
lein singen  nichts  ihm  gelte  um  ihre  liebe;  aber  während  sie  beim  aus- 
einandergehen nach  seligen  stunden  die  trälmen  nicht  zurückhalten  kann, 
tröstet  er  sich,  wenn  es  nun  einmal  nicht  anders  sein  kann,  kurz  mit 
dem  alten  spruche:  lie])  dne  leit  mac  niht  gesin  (39,  24).  Er  ist  sich 
seiner  Überlegenheit  bewusst:  ivlp  unde  vederspil,  meint  einer  sogar  etwas 
verwogen,  die  werdent  lihte  zam:  siver  si  zs  rehte  kicket,  so  suochent 
si  den  man  (10,  17).  Und  wir  finden  ihn  freilich  nicht  so  oft,  wie 
die  frau,  in  sehnsüchtigem  trauern  und  schmerzlichem  vermissen,  aber 
bei  gelegenheit  doch  nicht  weniger  innig,  warm  und  zärtlich,  als  jene. 
Vor  dem  walde  eine  linde  und  ein  singender  vogel  darauf  lassen  ihn 
an  einen  andern  wald  und  eine  linde  gedenken,  wo  auch  ein  kleiner 
vogel  sang.  Da  sieht  er  die  rosebluomen  blühen,  und  die,  vertraut  er 
uns,  manent  mich  der  geda?ike  vil,  die  ich  ?d?i  zeiner  frouwen  hdn 
(34,  3).  Seine  liebe  ist  ihm  heiliges  geheimnis,  niemand  soll  drum 
wissen  ausser  ihm  und  ihr,  wiez  u?idr  ihnen  z.wein  ist  getan  (10,  8). 
Ja  wo  er  erst  jubelt:  Aller  wtbe  wünne  diu  get  noch  megetin,  zweifelt 
er  hinterher  schüchtern  an  seinem  erfolge:  in  iveiz,  wiech  ir  gevalh: 
mir  wart  nie  tvlp  also  liep  (10,  15);  ein  schluss,  der  die  den  anfangs- 
worten  widerfahrene  abweichende  auslegung  zu  verbieten  scheint.  Ge- 
radezu zaghaft  aber  fehlt  ihm  einmal,  wie  wir  oben  hörten,  das 
lierz,  seine  schlummernde  schöne  zu  wecken.  Komt  es  aber  darauf 
an,  so  fehlt  ihm  mut  und  Selbstvertrauen  so  wenig  wie  aufopferungs- 
fähigkeit,    und  mit  dem  wip  vile  schoene,    das  er  (9,  21)  aufruft  mit 


ZUR    KNTWICKKLUNG    DKU    MIID.    T.YKIIC  175 

ihm   zu   ziolieii.    ist   er   auch    ciitschlosscii,    fiTiidc    und     leid    zu    trih'U, 
"was  komiucu   mai;-. 

So  z(Mi;('n  dies(^  li(_'(h'r  ein  Verhältnis  zwischen  mann  und  weil), 
wie  es  dem  natürlichen  wesen  Ix'idei'  u'cst-hl echter  anü,('inessen  ist.  Nach 
den  äussei'un^'en  von  juhel  odei'  schniei'z  erscheint  die  fran  als  der  teil, 
il(>r  mehr  zu  i^cwinnen  nder  zu  vei-lieren  hat;  sie  wii'd  durch  si'ine 
liebe  lieglückt  und  mit  stelz  eifült,  sie  uaclit  mit  äiii^stliclier  sorge 
dai"über.  Kr  hat  die  stiirkere,  iilx'rlegeiie  i'olle,  lässt  sich  dnrcii  die 
leidenschaftliche  lieheserklärung  i\i'<.  energischen  weihes  nicht  im  gei-ing- 
sten  entilanmien.  zeigt  gelegentlich  selbst  iil)erinütig  das  bewnstsein 
seiner  macht  —  al)ei'  \nn  der  h;ii't(>  und  rehheit,  (he  man  an  ihm 
bemerkt  hal)en  \vill,  tinde  ich  nichts,  und  von  l)egehi'liehkeit  nicht  so 
viel  wie  bei  der  scheltenden  li'aii  (S,  14).  Wol  scheinen  manche  fraiien- 
lieder  auf  untreue  oder  vorübergelKjnde  al)wendung  des  maiuies  zu  deu- 
ten. Sie  l)eklagen  ihn  durch  dei'  h'i(/rNacrc  riH  verleren  zu  haben 
(7.  24.  !).  lo);  sie  l)itten  ihn  bei  ihren  ti'ähnenden  äugen,  sich  andei'ei- 
trauen  zu  begeben  (87,  18),  erflehen  verlorene  liebe  zurück  (7,  1), 
trauern  um  vergebliche  liebesmüh  (8,  25),  sehen  den  falken,  (\<;\\  sie 
ti'eulich  gehegt,  in  ein  anderes  land  entfliehen  und  noch  unnvunden 
mit  ihren  seidenen  bändern  an  ihnen  Avider  vorülierziehn.  Sind  sie 
nicht  wirklich  hart,  die  mannei',  die  arme  lieberfültc  frauenseelen  so 
lietrüben  können?  Aber  es  darf  nicht  vergessen  Averden,  dass  Avii- 
Avirklicli  aus  mannesmunde  selbst  nur  ein  einziges  mal  ein  woi't  der 
abweisung  vernehnu'U,  el)en  jenem  stürmischen  weilie  (S,  7)  gegenüber: 
.S7  )nno\  der  )))ii)rr  iiiiinie  icnnT  darhciidr  sii/  (9,  35).  Sonst  steht  in 
miuinerstrophen  nirgends  auch  nur  eine  silbe  davon,  dass  einer  ein  zu 
ihm  drängendes  herz  hart  und  kalt  von  sich  gestessen  habe.  Dass  ein 
mann  seine  färbe  wechselt,  komt  wol  vor,  da  wir  sicherlich  keinen  grund 
haben,  den  Avorten  jener  triumphierenden  giMiebten  zu  mistrauen,  die 
(li),  H7)  ihrer  verdrängten  Vorgängerin  schmerz  mitleidig  am  eignen 
glücke  mass.  Aber  dürfen  wir  allem  jenen  klagen  und  flehen  l)lind 
glauben  und  darauf  hin  die  männer,  denen  es  galt,  als  hart  und  kalt 
verdannnen?  Oder  werden  die  mädchenherzen  damals  in  der  herzlichen 
behütung  ihres  köstlichsten  Schatzes  weniger  emsig  als  heutzutage  dabei 
gewesen  sein,  mit  ängstlicher  hast  den  blick  eii:er  andern,  mit  grü- 
belnder aufmerksam  keif  misverstiüidliche  werte  des  geliebten  aufzufan- 
gen, bei  langem  ausbleilien  nur  selten  ihn  zu  entschuldigen,  um  so 
eifriger  aber  mit  allerlei  grümlen  und  gi-ündchen  sich  schliesslich  ein- 
zureden, dass  er  nicht  konnnen  wolle,  um  sich  dann  mit  törichten 
schmerzen  und  ihn  mit  unnötigen  vorwürfen  zu  quälen?    Einmal  Avenig- 


170  STREICHER 

stens  (34,  11)  tritt  uns,  glaube  ich,  eine  solche  selbstquälerin  iinver- 
kenbar  vor  äugen.  Es  ist  tief  im  winter,  denn  blumen  sah  sie  längst 
nicht  mehr,  noch  hörte  sie  der  vögel  sang;  der  geliebte  ist  fern,  so 
fest  wahrscheinlich  durch  stürm  und  schnee  in  seine  bürg  gebaut,  wie 
sie  in  die  ihrige;  man  kann  ihr  also  die  Sehnsucht  nicht  verdenken, 
auch  nicht,  dass  sie  die  zeit,  seit  sie  in  seinen  armen  lag,  wol  tausend 
jähre  dünkt.  Warum  sie  ihm  aber  mit  den  vorwurfsvollen  werten 
runder  ane  tnine  schult  fremedet  er  mich  absichtliches  ausbleiben 
schuld  gibt,  ist  nicht  zu  verstehen,  wenn  uns  nicht  das  reizende  ge- 
dichtchen eben  eine  solche  zärtliche  seele  in  ihren  törichten  sorgen 
zeigen  wolte.  Und  gewiss  ist  ebenso  ein  guter  teil  jener  klagen  aus 
frauenmunde  zu  erklären. 

In  schroffem  gegensatze  zu  dem  dargestelten  Verhältnisse  der  bei- 
den geschlechter  steht  nun  dasjenige,  aus  dem  mit  ausnähme  der  weni- 
gen bisher  besprochenen  gedichte  die  uns  erhaltene  mittelalterliche  lie- 
beslyrik  ganz  hervorgegangen  ist.  Freilich  versichert  es  Eeinmar  zu 
widerholten  malen  hoch  und  teuer,  der  einzige  zu  sein,  dem  der  ver- 
diente lohn  der  liebe  von  seiner  dame  verweigert  werde  (z.  b.  189,  35. 
171,  22),  und  meint  (176,  16,  vgl.  155,  34),  von  seiner  herrin  so  gelitten 
zu  haben,  da%  nie  man  durch  sin  liejJ  so  vil  erleit.  Aber  hören  wir 
nur  die  andern!  Da  möchte  Horheim  (115,  13)  es  auf  seinen  eid  neh- 
men, da%  nieman  (jroexern  lamiber  hat  noh  niene  wart  so  trüric  man; 
Gutenburg,  der  einst  andrer  meinung  war,  erkent  nun  (78,  3)  seinen 
irtum:  ich  ivände  ienian  so  hete  missetän,  suocht  er  genäde,  er  solte 
si  vinden:  daz  muox,  leider  an  mir  eiyieii  xergän;  und  Hausen  brauchte 
es  nicht  ein  grözez  wimder  zu  nennen,  dass  er  (52,  17)  zu  klageu 
hatte:  cliech  aller  serest  minne,  diu  was  mir  ie  geve.  Wer  unter  sei- 
nen genossen  hätte  sich  eines  besseren  Schicksals  zu  erfreuen?  Auch 
graf  Rudolf  minte,  die  ihn  hazxet  sere  (81,  9  wie  Reinmar  166,  31) 
und  muss  sich  der  torheit  (83,  11)  anklagen:  ich  htm  mir  selberi  ge- 
machet die  sivaere,  daz  ich  der  ger,  diu  sich  mir  wil  entsagen.  Rugge 
schilt  sich  gar  (104,  1):  ich  mac  tvol  sin  vo7i  gouches  art  und  jage  ein 
ü'ppecliche  vart:  tören  sinne  hän  ich  vil,  daz  ich  des  ivtbes  minne 
ger,  diu  mich  ze  friunde  niene  wil.  Heinrich  von  Morungen  will's  auf 
seinen  leichenstein  schreiben  lassen  (130,  1):  ivie  liep  si  mir  waere 
und  ich  ir  unmaere.  Alle  wie  Reinmar,  der  mit  schmerzen  erkent 
(159,  10):  si  ist  mir  liep,  und  dunkel  mich,  daz  ich  ir  vollecMche  gar 
unmaere  st  Und  so  ist  das  gleiche  Schicksal  aller  minnesänger  von 
Hausen  und  Yeldegge  an  und  das  immer  widerkehrende,  fast  einzige 
thema  ihrer  lieder:  liebe  ohne  lohn.     Wenn  wir  also  in  diesen  liedern 


ZUR    ENTWICKKLUNG    DER    MIID.    LYRIK  177 

selten  etwas  anderes  von  den  niiiunorji  hören  als  klagen  und  von  den 
frauon  versagen,  so  sieht  es  wirklich  fast  aus,  als  hätten  beide  ihre 
rollen  gewechselt;  nur  dass  wir  bei  jenen  rittern  oben  trotz  gelegent- 
lichen Übermutes  die  herzenshärtigkeit  nicht  finden  könten,  unter  der 
alle  diese  sich  jammernd  zu  winden  scheinen.  Doch  gleichen  auch 
wider  diese  weibischen  männer  den  trauen  dort  nicht,  denen  nichts 
weniger  angestanden  haben  würde  als  die  widorholten  beteurungen, 
z.  b.  Hausens  (50, 11),  Johannsdorfs  (1)0, 16),  Morungens  (134,  31.  13(5, 11), 
rou  liuule,  oder  wie  Hartmann  noch  lächerlicher  übertreibt  (206,  18) 
Sit  der  stwnt,  da  er  üfem  stabe  reit,  nur  einer  minne  gedient  zu  haben. 
Man  veruimt  sogar  das  feierlich  tonende  gelübde  (86,  1):  Min  m'ste 
liehe,  der  ich  ie  hcgan,  diu  selbe  muox,  an  mir  diu  teste  sin;  und 
ähnlich  rühmen  alle  ihre  staete,  triuwe,  slaetekeit  unaufhörlich,  lioffen 
von  ihr,  versichern  und  beweisen  sie  oft  bis  zu  einer  Zudringlichkeit, 
die  sich  mit  der  leidenschaft  jener  frau  auf  der  burgzinne  nicht  ver- 
gleichen lässt.  Die  treue  des  mannes,  in  jenen  liedern  der  gegenständ 
ängstlicher  sorge,  der  grund  höchsten  stolzes  für  die  liebende  fi'au, 
scheint  in  diesen  fast  zur  strafe  für  ihre  hartherzigkeit  geworden  zu 
sein  ^ 

Es  ist  bekant,  dass  diese  verwandeluug  in  erster  linie  die  folge 
einer  Veränderung  in  den  formen  des  geselschaftlichen  lebens  war, 
die  es  durch  fremdländische  beeinflussung  erfuhr.  Natürliche  anläge 
und  geselschaftliche  zustände  hatten  bei  den  unsern  vorfahren  in  der 
ausbildung  äusserer  lebensformen  vorausgegangenen  westlichen  nach- 
barn  ein  dem  natürlichen  in  gewissem  sinne  entgegengeseztes  Verhält- 
nis im  verkehr  zwischen  beiden  geschlechtern,  ein  unterwürfiges  werben 
des  mannes  um  die  gunst  wol  meist  verheirateter  und  an  rang  höher 
stehender  trauen  ausgebildet,  in  dem  sich  wirkliche  liebesregung,  hier 
natürlich  voll  feuriger,  verzehrender  leidenschaft,  mit  blosser  galanterie 
und  förmlicher  höllichkeit  eigentümlich  mischte.    Als  nun  die  kreuzzüge 

1)  Es  erfrischt  unter  den  weichniütigen  klängen  den  kräftigen  ausbrach  empör- 
ten stolzes  zu  vernehmen,  mit  dem  Friedrich  v.  Hausen  (48,  1)  seinem  flehen  ein 
ende  macht:  ich  waer  ein  gouch,  ob  ich  ir  tumplieit  haete  für  gicot:  ex  enyescliiht 
mir  niemer  me,  oder  der  gelehrige  schüler  der  troubadours  (142,  15):  des  —  dank- 
losen dienstes  nämlich  —  bin  ich  worden  lax,  also  da%  ich.  vil  schiere  gestinde  in 
der  helle  gründe  verbrünne ,  e  ich  ir  ieiner  diende,  ine  wisse  itmbe  waz;  und  die 
unorbitliche  sogar  bedroht  (145,  33):  Ich  tvil  eine  reise  .  .  da  ivirt  manic  iveise. 
diu  lant  diu  tvil  icli  brennen  gar.  Ja  auch  Hartwig  von  Rute,s  rninnender  tcnsifi 
(117,  33)  wirkt  woltätig  zwischen  dem  minnenden  sinnen  jener  klagelieder.  Viel- 
leicht, dass  hier  fälle  wirkliclier  leidenschaft  vorliegen.  Aber  es  sind  nur  die  aus- 
nahmen, imerheblich  für  eine  betrachtiuig  über  das  wesen  der  dichtung. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHU.OLOGIE.     BD.   XXIY.  12 


178  STREICH  l?R 

und  besonders  der  von  Konrad  III.  und  Ludwig  VII  gemeinsam  unter- 
nommene die  engste  und  nachdrücklichste  berührung  der  beiden  nach- 
barvölker  hervorrief,  trat  diesseits  des  Kheins  eine,  "svie  wir  annehmen 
müssen,  sehr  rasche  Umgestaltung  des  ritterlichen  lebens  nach  dem 
Vorbild  des  französisch -romanischen  rittertums  ein,  eine  Umgestaltung, 
die  in  der  eigenart  unseres  volkes  keine  wurzel  hatte.  Denn  wenn  auch 
schon  Tacitus  von  den  alten  Germanen  berichtet,  wie  ihnen  die  frau 
geradezu  als  ein  verehrungswürdiges,  heiliges  wesen  erschienen  sei,  und 
später  der  Marien cultus  auf  diesem  gründe  erwuchs,  so  bemerkt  der 
Römer  doch  ausdrücklich,  dass  jene  Verehrung  von  kriechender  Schmei- 
chelei fern  war;  und  der  dienst  der  mutter  gottes  kante  wol  glaubens- 
volle anbeter  und  eine  milde,  gütige,  trost  und  frieden  spendende 
Jungfrau,  und  hätte,  seine  gewalt  dahin  zurückgebend,  woher  er  sie 
empfangen,  eine  Verehrung  der  frauen  überhaupt,  des  weiblichen  ge- 
schlechtes herbeiführen  können,  aber  die  unaufhörlichen  lobpreisungen 
der  einen  und  einzigen  vor  alFen  andern,  die  demütig -knechtische 
erniedrigung,  die  immer  hofnungslose  und  doch  nie  ungeduldige  anbet- 
telung  unserer  minnesänger  so  wenig  wie  die  unerbitliche  hartherzig- 
keit  ihrer  damen.  Allein  es  fand  in  dem  vielgegiiederten  reichskörper, 
wo  immer  grosse  vasallen  über  kleinere,  kleine  über  kleinste  lehns- 
leute  und  ministerialen  geboten,  die  neue,  fremde  mode  den  geeignet- 
sten boden.  Nach  dem  fremden  muster  ward  nun  die  frau  in  die 
geselschaft  eingeführt,  der  sie  bisher  fern  gewesen,  und  wie  durch 
eine  stumme  Verabredung  der  gegenständ  achtungsvolster  aufmerksam- 
keit,  das  ziel  anbetenden  dieustes  und  lobpreisenden  gesanges.  Ganz 
natürlich  war  es,  dass  sie  dabei  neben  eigner  Schönheit  und  liebens- 
würdigkeit  häufig  den  vorteil  höherer  Stellung,  macht,  des  reichtums 
ihres  gemahls  genoss.  Denn  so  viel  ritterpferde  auf  seinen  ruf  zum 
Sammelplatze  ritten,  so  viel  häupter  neigten  sich  im  saale  anbetend  vor 
ihr,  so  viel  sänger  sangen  ihr  lob,  jeder  zwar  ohne  ihren  namen  zu 
nennen,  aber  in  beständigem  Wetteifer  mit  den  übrigen.  Dass  es  ein 
dienst  übertriebener  lobpreisung  wurde,  war  natürlich;  dass  es  trotz 
alledem  im  algemeinen  gewiss  ein  dienst  ohne  lohn  blieb,  konte  eben- 
fals  nicht  anders  sein. 

Und  doch  nicht  ganz  ohne  lohn.  Denn  dass  es,  wie  oben  gese- 
hen, trotz  allem  auch  ein  dienst  unzerreisslicher  geduld  und  unver- 
änderlicher treue  blieb,  lag  weder  bloss  daran,  dass  sich  die  ehren- 
tugend  des  deutschen  volkes  aus  dem  herren-  auf  den  frauendienst  über- 
tragen mochte,  noch  daran,  dass  sich  das  conventionelle  Verhältnis  gewiss 
auch  in  Deutsehland  ab  und  zu  mit  ernstlicher,  natürlicher  leidenschaft 


ZUR    KNTWICKELUNG    DER    MIID.    LYRIK  179 

vermischte.  Sondern  der  miimende  fand  glück  und  erfolg  seines 
dienens  reichlich  in  einem  andern  lande,  wo  ihn  kein  niitwerbender 
kümmerte  und  kein  hindernis  auch  dem  kühnsten  begehren  im  wege 
stand.  Offenbar  so  kam  z.  b.  eine  liebesgeschichte  zu  stände,  wie  sie 
ein  unter  Dietmars  namcn  überliefertes  gedieht  in  der  richtigen  reilien- 
folge  der  strojihen  (nämlich  von  hinten  nach  vorn  gelesen)  bietet.  Da 
klagt  nämlich  in  der  ersten  (39,  11)  ein  ritter,  dass  ihm  em  edeliu 
frouive  also  vil  xe  leide  tuot,  weil  sie  will  gedenken  niht  der  mangen 
sorgen  sein,  wie  wilfährig  er  ihr  auch  gedient;  nach  der  zweiten  (39,4) 
aber  erweisen  sicli  diese  seine  klagen  doch  als  grundlos,  denn  sie  ver- 
rät uns  selbst,  den  ritter  giiot,  von  dem  sie  vil  der  tilgende  sagen 
gehört,  dne  nüke  ins  herz  geschlossen  zu  haben;  und  die  dritte  (38,  32) 
zeigt  ihn  gar  am  ersehnten  ziele:  mt  ist  ez  an  ein  ende  komen,  dar 
nach  mtn  kerxe  ie  ranc,  daz  mich  ein  edeliu  frouive  hat  genomen  in 
ir  getwanc.  Ein  erlebnis  des  dichters?  Schwerlich;  wenn  nicht  der 
hauptgegenstand  aller  jener  dichtungen,  die  ungelohnte  liebe,  eine 
unerklärliche  nichtigkeit  sein  soll.  Aber  in  der  anfangs  (39,  11)  gege- 
benen Stimmung  wünscht  er,  die  gefeierte  möchte  sich  so  vernehmen 
lassen  und  er  grund  haben  so  zu  jubeln,  wie  es  ihn  die  regsamkeit 
seiner  phantasie  in  den  folgenden  Strophen  wirldich  hat  hören  und 
aussprechen  lassen.  Ganz  ähnlich  gewiss,  wenn  in  einem  Hede  Hau- 
sens (54,  10)  die  frau  von  seiner  treue  rühmend  spricht,  seinen  kummer 
fühlt,  eingesteht,  dass  er  ihr  liep  und  lieher  vil,  als  sie  immer  im  vil 
liehen  manne  sage,  wenn  sie  bekent,  nur  aus  sorge  um  sein  leben  und 
ihre  ehre  seine  klagen  nicht  zu  stillen,  darauf  sich  aber  seufzend  doch 
mit  neuen  zweifeln  plagt  (54,  19  —  27):  oive  taeie  ich  des  er  gert,  wie 
würde  mirs  ergehen,  läze  ich  ab  in  ungewert,  daz  ist  ei?i  Ion  der 
guotem  Tnanne  nie  geschach,  um  vorläufig  noch  zum  entschlusse  zu 
kommen:  ich  entars  in  niht  gewern,  im  dritten  liede  aber  (54,  37  — 
55,  5)  seinen  vollen  erfolg  auszusprechen:  des  ist  er  vo7i  mir  gewert 
alles  sives  sin  herze  gert  und  solte  ez  kosten  mir  den  Up.  Kein  roter 
mund  hat  diese  worte  erst  zögernder,  dann  rückhaltloser  hingäbe  zum 
dichter  gesprochen;  aber  vernommen  hat  er  sie  doch  im  wundersamen 
weben  seiner  träume  zu  hoher  im  liede  widerstrahlender  beseligung. 
Wünschen  und  wollen  des  dichters  ist  der  quelbrmmen  seiner  freuden. 
Erfährt  er  auch  fort  und  fort  Zurückweisung,  er  glaubt  nicht  daran. 
Daz  si  mich  alse  univerden  habe,  als  si  mir  vor  gebäret,  so  weiss  sich 
Reinmar  (166,  34)  zu  trösten,  daz  geloube  ich  niemer;  so  Rugge  (100, 19): 
doch  denke  ich  si  versuoche  mich,  ob  ich  iht  staete  künne  stn;  imd 
Gutenburg  scheint  seiner  sache  so  gewiss ,  dass  er  sivüere  ivol,  ez  waer 

12* 


180  STREICHER 

h-  leit,  wenn  nur  einer  da  wäre,  der  ihm  xe  relitc  solde  staben  (77,1). 
Gerviuus  hat  in  seiner  aasgezeichneten  darstellung-  dieses  eigenartigen 
Zeitabschnittes  unserer  dichtung  sie  zutreffend  mit  der  sinnigen,  sehn- 
suchtsvollen, träumenden  und  schwärmenden,  von  phantasiegebilden 
und  wahngestalten  wimmelnden  Übergangszeit,  wo  der  knabe  zum  Jüng- 
ling wird,  verglichen,  in  der  liebesfreude  und  liebesleid  mehr  ersonnen 
als  erlebt  wird.  Nicht  wirkliche  begebenheiten  gaben  jenen  dichtem 
den  Stoff  ihrer  lieder,  sondern  süsse  Selbsttäuschung  einer  wundersam 
erregten  und  gegen  die  tatsachen  der  aussenwelt  verschlossenen  phan- 
tasie;  Selbsttäuschung,  wie  es  notwendiger  weise  die  ihnen  allen  gemein- 
same, so  oft  widerholte  und  stark  versicherte  Überzeugung  war,  der 
einzige  unbelohnte  liebhaber  zu  sein.  Bloss  von  innen  komt  ihr  dich- 
ten, unbewegt  von  äusserem  geschehen;  heisst  ihre  liebe  doch  auch 
7}iinne,  was  Morungens  werte  (138,  21)  bedeutsam  so  erläutern:  dass 
er  so  JierxecUche  sei  (in  si  verdäht  (vgl.  147,  17  lanc  hin  ich  geweset 
vcrdäht)^  wozu  Hausen  46,  6  noch  eine  bemerkung  fügt,  wie  sehr  dies 
seine  aufmerksamkeit  äusseren  vergangen  entziehe:  ich  was  so  verre 
an  si  verdäht,  da%  ich  mich  imderwilent  niht  versan,  und  swer  mich 
gruoxte,  daz  ichs  niht  vernan.  Und  weiter:  ein  liehe}-  tvän  tröstet 
Hartmann  (208,  23)  über  erlittenes  ungemach,  der  ungeduldige  Fenis 
boscheidet  sich  schliesslich  doch  damit  (84,  9),  dass  yenuoc  gröx.  her 
gewesen  sei  seine  vröude  von  wunc,  und  Reinmar  gibt  sich  freilich 
weniger  freudig  so  zufrieden  (180,  1):  ich  ivas  7ntnes  muotes  ie  so 
hcr^  dax.  ich  in  gedanken  dicke  schone  lac.  Mit  solchem  lohne  sich  zu 
begnügen  ist  sein  stolz:  .so  vil  so  ich  gesanc  nie  inan,  der  anders  niht 
enhaete  ivan  den  hlöxen  wem.  Oeditige  hat  dem  einen  (Rugge  104,  33) 
das  herz  gemachet  wunneclichen  frö,  dem  andern  (Morungen  125,  30) 
ist  komen  ein  hügender  tvän  und  ein  tvünnecltcher  tröst,  der  ihn  froh 
machen  wird.  Mit  gedanken  ich  die  xtt  verirtbe,  als  ich  beste  kern 
sagt  Hausen  (42,  10);  bei  Reinmar  (151,  33)  kumet  etesivenne  ein  tac, 
dax  er  vor  vil  gedanken  niht  gesingen  nocli  gelachen  mac,  und  doch 
ist  ihm  vil  lihie  ein  vröude  7iähe  bi.  Min  leben,  heisst  es  an  anderer 
stelle  (153,  7)  bei  ihm,  dunkel  mich  so  guot;  imd  ist  es  niht,  so  ivaene 
ichs  doch;  und  doch  klagt  er  auch  (163,  18),  dass  ihm  V07i  gedanken 
ist  also  unmäzen  tve,  behauptet  sogar  (174,  24)  nie  ivart  groexer  un- 
gemach, claime  ez  ist  der  mit  gedanken  umbegät,  wie  Rugge  es  (101,  36) 
bedauert,  sich  Verlan  zu  haben  xe  verre  uf  den  wän.  Mit  gedankoi 
klagt  ein  sänger  der  herrin  seine  sorgen  von  fern  (52,  1);  ein  anderer 
(125,  21)  schwebt,  als  ob  er  fliegen  künne  7nit  gedanken  ienicr  umhe 
sie.     So  geben  gedanken,    wdn,   gedinge  dem   dichter  den    lohn   seiner 


ZniJ    ENTWICKKUTNG     DER    MUH.    LYKIK  181 

licbesniüli,  die  eroignisse  seines  liebelebens  und  selieinen  fast  seine  ein- 
zige bcschäftigung-  und  geselscliaft  zu  sein,  seine  freunde,  seine  ratgeber, 
seine  boten.  Und  das  alles  durchaus  nicht  als  l)l()sse  redewenduug 
oder  bildlicher  schmuck,  sondern  als  die  ganz  ents[)nH'hen(le  äusserung 
Innerlicher  voi'gänge,  das  klare  s[)iegelbild  eines  ganz  eigentündich 
gestalteten  Seelenlebens,  so  lel)liaft,  so  wesenliaft  und  wirklich,  dass 
diese  (/cfhn/Lr//,  oft  als  ein  besonderes  weseii  nicht  in,  sondern  geradezu 
ausser  dem  dindvcnden  vorhanden  scheinen.  Wenn  z.  b.  Hausen  ein 
vor  der  kreuzfahrt  gedichtetes  lied  (47,  D)  l)egint:  Mi//  hcrxc  und  mhi 
Jip  (li)i  ireneiif  scJicidcii ,  diu  niilciiiaiidcr  rariil  iiü  ii/dinjc  ■,it.  dir 
lip  tril  (jcrue  rchlcn  im  dir  hiiihii.  si)  Inif  icdorh  da-.  Jicf.r  mrrli  viii 
u'ip,  so  sucht  er  nun  das  herz  von  seinem  vorhaben  abzubiingen  und  ent- 
lässt  es  nach  dem  vergeblichen  bemühen  wie  einen  eigenwilligen  freund, 
der  abschied  m'hmend  vor  ihm  steht:  *S'//  irli  dielt,  hcrw,  nihl  u-ol  iinic 
enrendoi ,  diot  irdli'st  mir]/  ril  frnrrrJirJim  hin,  so  hitr  irlt  i/of ,  r/c/.r 
er  dich  ruorJic  sci/dr/i  uti  ciiir  siut ^  du  Jinin  dirli  icnl  rnipfi}.  Und 
oicr,  fährt  er  mit  gleicher  lebhaftigkeit  fort,  irir  so]  r\  aniirii  dir  rnji'n!.' 
irir  fors]rs]  rine  (in  so]]ir  itof  crnrtidrnY  irrr  so]  dir  diiir  sonje  lidfen 
cndrii  i/tit  sidlien  ]rin/rr//  ajs  ir]t  iinn  (jeldn':'  (vgl.  109,  11).  Ganz 
ähnlich  bei  der  gleichen  veranlassung  Reinmar  (INI,  13):  Des  ficjrs,  do 
idi  dir.  i.'riic.r  m/u/,  so  berichtet  er,  <]o  ]/i/ofe  id/  der  ijedu/üw  u//it 
....  iiu  u'd]e)/ts  a]/rr  i/'  /ri]]r/i  I/di/  /au]  ]i'ded/<-]/r  ran/  als  r ;  wozu 
er  bezeichnend  bemerkt:  ilii/  sonje  di/ist  //////  ri/irs  /liri:  si  i/io]  oud/ 
i//rrc  ]i//teu  irr.  Ist  er  bereit  gott  zu  dienen,  so  wollen  die  (jrduu]:e 
tohe/i  und  zurück  au  (]iu  idteu  uuirre,  seine  minne  natürlich.  da\- 
iceiidc,  fleht  er  darum  zur  muo]cr  uiide  luayr] ,  ai]  id/s  in  uiiit  rrr- 
hide/i  miic.  Dann  erlaubt  er  ihnen  doch  drsiroiur  dar  i/ud  (dier  iridrr 
sd  xd/atit  und  sezt  sich  am  ende  mit  den  plagegeistern  ohne  viel  ver- 
trauen auf  ihre  Zuverlässigkeit  so  auseinander:  sös  unser  ]jcider  friuiidc 
dü/i  ijcijriir-.eu  so  ]:rrru  dau  und  lidfen  mir  die  sünde  ])i(exen ,  und 
si  in  u]]rx  da\  vergeben  sira\  si  u/ir  l/aljr//  ]/rr  i/e]iin.  Sähe  man 
solche  stellen  zuerst  aus  ihrem  zusammenhange  ausgehist,  wer  würde 
erraten,  von  wem  oder  mit  wem  der  dichter  spricht?  Doch  wer  wird 
sich  auch  noch  wundern  über  die  neigung  zu  solchem  phantasiespiele 
bei  leuten,  die  im  rausche  hoher  kampfesziele  auf  ihren  weiten  kriegs- 
zügen  sich  durch  hunger  und  alle  schrecken  der  Wirklichkeit  nicht 
abhalten  Hessen,  zu  vielen  tausenden  zusammen  innner  wider  das 
apostelkoUegium  und  alle  heiligen  vor  dem  beer  einherschwebeu  zu  sehen, 
^lei'kwürdiger  Widerspruch:  inmitten  einer  bewegten  glänzenden 
geselschaft    steht    der   minnende    unbekünnnert    um    sie,    das    äuge   für 


182  STREICHER 

Vorgänge  der  aussenwelt  wie  verschlossen,  ganz  in  seine  innenweit  ver- 
sunken und  nur  mit  sich  selbst  beschäftigt  —  zum  grossen  unterschied 
von  den  dichtem  jener  altertümlicheren  liedchen,  die  der  unmittelbare, 
natürliche  ausdruck  wirklichen  erlebens  waren  und  immer  ein  bild, 
einen  äusseren  Vorgang  von  einleuchtender  Wahrscheinlichkeit  darstel- 
ten.  Da  sprach  eine  frau  zum  davonreitenden  geliebten  (4,  35),  dort 
(39,  18)  aus  dem  träum  geweckt  von  einem  vogellin  su  ivol  getan,  daz 
ist  der  linden  an  daz  zivi  gegän,  rief  sie  den  noch  schlummernden 
gesellen  wach.  Oder  sie  stand  im  kämmerlein  allein  im  weissen  hemde, 
das  gesiebt  von  glühendem  rot  bedeckt,  weil  sie  des  geliebten  mannes 
dachte,  lauschte  von  der  burgzinne  heraufdringendem  gesange,  und  als 
von  der  gewalt  der  töne  die  leidenschaft  zu  dem  wolbekanten  sänger 
überwalte,  rief  der  für  solche  glut  unempfindliche  nach  ross  und  tseu- 
gcivant^  sich  davon  zu  machen.  Oder  sie  schaute  einsam  harrend  über 
die  beide  nach  dem  geliebten  aus,  und  statt  seiner  kam  ein  falke  geflo- 
gen, dem  die  sehnsuchtsvollen  ge'danken  nun  folgten  (37,  4).  In  der 
fremde  weilend  gab  ein  ritter  der  freundin  botschaft,  und  sie  antwor- 
tete (32,  13.  21).  Ein  vogel  sang  in  lindenzweigen  und  erneute  in 
ritterlichem  herzen  Sehnsucht  und  erinnerung  (34,  3).  Ein  verzagter 
schlich  sich  vom  lager  der  schlafenden  geliebten  usf.  Auch  Zwiege- 
spräch, wirkliches,  d.  h.  von  mensch  zu  mensch  wurde  vernommen, 
Avenn  auch  nur  aus  der  gegenrede;  denn  wir  erraten  seine  mitteilung, 
der  sie  antwortete  (7,  10):  Wes  manest  du  mich  leides,  min  vil  liehex, 
liep?  unser  xiveier  scheiden  müez  ich  geleben  niet;  und  wenn  sie  (10,  1) 
den  rat  erhielt,  sich  wie  der  abendstern  zu  verbergen  und  um  das 
geheimnis  zu  bewahren,  die  äugen  statt  auf  ihn  auf  andere  zu  rich- 
ten, so  hatte  sie  sich  ähnlich  beschwert  wie  die  (4,  30):  daz  nklcnt 
ander  vromven  und  habent  des  haz  und  sprecheM  mir  ze  leide ,  daz 
si  in  wellen  schouiveu.  In  den  späteren  liedern  hören  wir  zwar  gele- 
gentlich von  Hausen,  Horheim,  Rugge,  Reimar,  dass  sie  in  der  fremde, 
auf  dem  kreuzzug  waren,  von  lezterem,  dass  seine  unaufhörlichen  kla- 
gen den  freunden  misfielen,  von  ßugge,  dass  er  ungemachen  gruoz 
empfieng;  Hausen  sah  die  angebetete  im  träume,  ein  anderer  küsste 
sie,  einer  stand  und  wagte  sie  nicht  anzusprechen.  Aber  es  wird  das 
alles  nur  erwähnt,  nur  zum  ausgange,  nicht  zum  mittelpunkt  und 
gegenständ  des  liedes.  Dort  geschah  vor  unseren  äugen  und  obren, 
hier  lässt  sich  ein  geschehen  nur  gelegentlich  als  veranlassung  einer 
gedankenreihe  erkennen.  Selten  auch,  dass  einer  dieser  sänger  die 
dame  anredet  (87,  21.  147,  4,  176,  5)  oder  sich  etwa  mit  der  Ver- 
sicherung seiner  aufrichtigkeit  an   die  zuhörer  wendet    (88,  7.     70,  2. 


ZUK    KNTWICKKLX-NG    DKU    yilW.    LYKIlv  183 

7G,  28.  127,  2),  wubfi  es  (laiiu  ubor  sein  bewciKlcu  liat.  Demi  wirk- 
liclies  leben  <^-e\vint  weder  diese  noch  jene  bezic'hung;  nie  sind  wir 
getrieben,  uns  dt^n  siini^'er  etwa  in  einen  kreis  von  trauen  oder  jnän- 
nern  tretend  vorzustellen.  Beschäftigt  er  sich  mit  sich  selber,  seinem 
J/ciwc,  seinen  (jt (hinken,  so  bleil)t  diese  beziehnng  oft  g(;wahi-t  —  und  wie 
lebhaft,  haben  wir  oben  gesehen;  redet  er  dagegen  andere,  lel)endigc 
menschen  an,  so  ist  das  nichts  als  eine  redewendung  ohne  entspre- 
chende Vorstellung,  wechselt  daher  leicht  unter  verschiedenen  personen, 
die  nicht  wol  zugleich  anwesend  sein  kilnnen,  oder  wird  unversehens 
wider  aufgegeben.  Nur  eins  von  den  sehr  zahlreichen  beispielen.  In 
den  eingangsstrophen  eines  liedes  (128,  10  fgg.)  behandelt  Morungen 
die  damo  als  abwesend:  j\[hi  rrsfc  iiiiiJ  oiich  min  Jrsle  fröidc  was  r/n 
frqj  .  .  .  H'aer  fr  mit  )nh)ic  stonjc  wo! ,  so  sunye  ich  ir,  und  wendet 
sich  dann  nach  einander  an  eine  anscheinend  um  ihn  versammelte 
franenschar  mit  der  bitte:  .V/7  ruient,  liehe  frejmvcn,  /rr/i  ich  siiujen 
viüge  so  (lax  ex.  ir  tilge,  und  abermals  an  die  spröde  selbst,  aber  jezt 
als  gegenwärtige:  17/  iciplich  n-ip,  nu  n:ende  niine  sende  klenje,  um 
sie  zulezt  Avider  als  abwesend  zu  betrachten:  leli  sihe  ivol,  dir,  min 
frouH-e  mir  ist  vit  gehet-..  In  der  grossen  masse  der  dichtungen  aber 
fält  auch  diese  rhetorische  belelning  fort,  und  der  dichter  vermeidet 
selbst  den  anschein,  für  anderes  als  seine  gedanken  und  empfiudungen 
ein  äuge  zu  haben.  Diesen  minncsang  mit  jenen  älteren  liedchen  ver- 
glichen, glauben  wir  dort  überall  in  den  hellen  Sonnenschein  wirk- 
lichen lebens,  hier  in  das  weiche  heldunkel  des  traumes  zu  blicken, 
dort  menschen,  hier  schatten  zu  sehen,  dort  ereignisse,  hier  erfindung, 
dort  das  du,  hier  immer  nur  das  ich. 

Ergebnis. 
Die  tiefgehende  sachliche  ungleichartigkeit  der  in  „Minnesangs 
frühling"  vereinigten  dichtungen  liegt  am  tage  und  beruht  —  irten 
Avir  nicht  —  im  wesentlichen  auf  der  dargestelten  zweifachen  wande- 
lung  der  ritterlichen  geselschaft  und  des  deutschen  gemütslebens,  einer 
von  aussen  hereingetragenen,  fremden  und  eijier  naturgemäss 
aus  innerer  Ursache  erwachsenen,  heimischen,  solte  diese  viel- 
leicht auch  gleichzeitig  bei  einem  nachbarvolke  eingetreten  sein.  So 
gross  aber  ist  der  unterschied  der  vor-  und  nachher  entstandenen  dich- 
tungen, dass  beide  unmöglich  als  einer  gattung  zugehörig  betrachtet, 
mit  einem  gemeinsamen  namen  bezeichnet  und  etwa  jene,  wie  es 
geschehen,  als  die  bescheidenen,  nur  unentwickelteren  anfange  dieser  auf- 
gefasst  werden   dürften.      Sondern    es   scheiden   sich    hier   scharf,    d.  h. 


184  STREICHER 

mit  anscheinend  kurzem,  raschem  übergange  zwei  nach  stoff  und  gestal- 
tung  wesentlich  verschiedene  Zeitalter  deutscher  dichtung,  von  denen 
allein  dem  jüngeren,  aus  einer  überfülle  von  denkmälern  uns  genau 
bekanten,  der  name  des  minnesanges  mit  recht  zukommen  dürfte.  Von 
dem  älteren  sind  nur  spärliche  reste  auf  uns  gekommen.  Wir  verdan- 
ken ihre  erhaltung  vermutlich  dem  umstände,  dass  ihre  Verfasser,  wie 
der  Kürenberger,  jener  Wandlung  nur  zeitlich  nahe  gerückt  waren  oder 
sie  innerlich  erlebt  und  mitgemacht  haben,  wie  besonders  Dietmar  und 
Meinloh,  in  dessen  oben  angeführten  versen  z.  b.  {staechens  üx,  i?'  ougen, 
7nir  rätent  vnine  sinne  usw.  13,  24),  der  gedanke  der  älteren,  der  aus- 
druck  der  jüngeren  epoche  angehört.  Dass  es  aber  nur  reste  eines 
reicheren  Schatzes  sind,  scheint  durch  den  grad  ihrer  Vollendung,  der 
eine  längere  Übung  sicherlich  voraussezt,  hinreichend  erwiesen  zu  wer- 
den. Und  w^olte  mau  dagegen  einwenden,  dass  der  verlust  dieses 
reichtums  bis  auf  so  wenige  überbleibsei  unwahrscheinlich  sei,  so  bedarf 
es  dieser  annähme  ja  gar  nicht.  'Denn  wer  weiss,  ob  sie  nicht  zum 
grösten  teil  überhaupt  unaufgezeichnet  geblieben  oder  doch  nicht  öffent- 
lich bekant  gemacht  worden  sind,  so  ganz  auf  einen  besonderen  fall 
und  an  eine  bestirnte  person  gerichtet,  wie  sie  ursprünglich  waren, 
während  die  für  die  ritterliche  geselschaft  berechnete  poesie  der  minne- 
sänger  natürlicher  weise  zur  Veröffentlichung  und  schriftlichen  aufzeich- 
nung  führte.  So  wird  man  der  annähme  einer  vor  dem  minnesange 
Verbreiteten  lyrischen  dichtung  ganz  beistimmen,  auch  gegen  ihre  benen- 
nung  als  einer  volkstümlichen,  insofern  sie  von  der  fremdländischen 
geselschaftsordnung  unberührt  geblieben,  nichts  einzuwenden  haben; 
der  behauptung  aber,  der  minnesang  habe  sich  durch  blosse  entwick- 
lung  der  in  der  älteren  dichtung  bereits  vorhandenen  keime  daraus 
erhoben,  muss  man  als  einer  durchaus  irrigen  entgegentreten. 

Noch  eine  frage  möge  hier  besprochen  werden,  die  durch  die 
vorgetragene  anschauung  von  der  art  und  entwicklung  der  mittelalter- 
lichen l_yrik  eine  neue  und  wie  es  scheint  befriedigendere  lösung  erhält, 
als  trotz  der  verschiedensten  erklärungen  bisher.  Sie  betriff  die  bekanto 
tatsache,  dass  unter  jenen  altertümlichen  liedchen  eine  grosse  zahl  zu 
den  sogenanten  frauenstrophen  gehört.  Die  einen  der  erklärer  las- 
sen nämlich,  für  die  älteste  zeit  wenigstens,  das  frauenlied  auch  als 
frauonwerk  gelten,  indem  sie  den  Widerspruch  der  Überlieferung  und 
die  auffällige  häufigkeit  weiblicher  poeten  wol  oder  übel  zu  erklären 
wissen;  die  andern,  denen  diese  gründe  nicht  genügen,  sehen  sich 
genötigt,  beweggründe  des  dichters  zu  der  vermeintlichen  Selbstver- 
leugnung ausfindig  zu  machen.     Der  sänger,  so  hat  man  daher  gemeint, 


ZUK    ENTWICKKLUNC     HKi;    MUH.     LYKIK 


185 


suiist  (liircli  die  l)csf('li('ii(lcii  verliältnisso  ^nMiütif^i,  das  weil)  liai-t  und 
kalt  dai-/us(('llcn,  lialx'  mit  fnuidcii  die  tonn  dos  tVaiicnlicdcs  i^cwählt, 
um  von  dem  zwaiii^c  frei  auch  die  natürliche  Zartheit  uiul  liin,i;(>l)uni;' 
dos  i;-osclilo('lits  zur  erschoinun^-  zu  hrin^cn.  Aber  von  anderer  soito 
ist  doni  horoits  enti>-Ci;-net  worden,  dass  voraussetzuni^,-  und  folfi,-orunij,- 
dieses  ü-edankens  in  fi-loiclier  weise  (h>m  tatl)estande  widerspi'echon; 
denn  hei  den  diclitern  jener  zahlreiclien  frauenlie(ler  ,i;'ibt  es  keine 
harte,  stolze  trau;  und  wideruni,  wo  das  der  fall,  da  ist  die  zahl  dieser 
lieder  sehr  klein.  Darum  soll  dei'  i'ittor  vielmehr  anfaui^s,  d.  h.  docli 
wol  in  Küi'cnher^'s  zeit,  uui'  aus  scheu  das  i;'eständnis  (ug-ener  zarter 
emptindunii,-,  (\vn  ausdi'uck  sehnsüclitii>-or  liebe  der  frau  überlassen  haben, 
für  die  ei-  ihm  an;j,-emessener  erschienen.  Die  sprachliche  form  der  betref- 
fenden stelle  ktinte  uns  in  zvveifel  versetzen,  ob  wir  danach  die  lieder 
für  wei'ke  von  trauen  ansehen  solh'U,  oder  der  mänlich(5  dichter  darin 
der  iVau  tlon  ausdruck  seines  gefühles',  oder  ol)  er  ihr  den  des  ihri,yen 
ül)erlassen.  Ernstlicli  aber  kann  man  nach  dem  zusammenhange  nur 
zwischen  den  beiden  lezten  auffassungen  schwanken.  Im  ersten  falle 
liesse  der  dichter  also  seine  eigene  selbstompfundene  Sehnsucht  —  weil 
er  sich  schämte  sie  einzugestehen  —  durch  fraiienmund  aussprechen; 
dann  wäre  man  versucht,  um  die  in  jenen  gedichton  dargestelten  hogeb- 
nisse  der  Wirklichkeit  entsprochojid  aufzufassen,  die  rolle  der  liebenden 
zu  vortauschen,  was  sich  bei  einem  liode  Avie  ich  -.nrh  nur  ei  neu  val- 
ke//  u.  ä.  allenfals,  unmöglich  aber  bei  dem  vom  weibe  auf  der  zinne, 
vom  zagenden  liebhaber  und  dem  prächtigen  fc/p  rile  srliunc  machen 
liesse.  Oder  der  sängor  brächte  die  onipfindung  der  eigenen  brüst  zum 
ausdruck  und  befriedigte  dadurch  den  poetischen  drang,  dass  er  statt 
seiner  die  geliebte  frau  von  der  ihrigen  sprechen  liess.  Ja,  aber  nicht 
aus  scheu  mit  seinen  eigenen  emphndungen  herauszutreten  —  welche 
Vorstellung  dichterischen  gemüts!  —  sondern  weil  er  sie  zu  beobachten 
und  darzustellen  weder  iieigung  noch  fähigkoit  besass.  Man  hätte  nie 
die  frauenstrophen  eines  Kürenbergers  und  eines  Hausen  auf  eine  stufe 
stellen  und  mit  gleichem  masse  messen  sollen,  da  doch  ihre  entstohung 
in  gewissem  sinne  fiist  entgegengesezte  ursachoji  hat.  In  denen  der 
eigentlichen  minnesänger,  so  hat  man  sehr  wol  bemerkt,  hndet  fast 
ausnahmolos  die  in  den  männerstrophen  ganz  vermisste  liolx'ndo  hin- 
gäbe der  frau  ihren  ausdruck.  Und  warum?  Das  ist  eigentlich  Ijoreits 
oben  ausgeführt.  Denn  was  des  dichters  ohr  in  der  regel  nicht  zu 
hören  bekam,  das  erschuf  sich  sein  sinnender  goist,  der  das  drängen 
seiner  wünsche  verstand.  Wie  die  besungene  sprechen  kr)nte,  solte, 
wie    sie    ihre    Zurückhaltung    erklären,    ihm    gewährung    verheissen,   ja 


186  STREICHER 

geben  möchte:  das  ist  in  den  frauenstrophen  des  der  weit  der  tatsachen 
abgewanten  minnescängers  niedergelegt,  fast  könte  man  sagen,  weil  es 
dieser  weit  nicht  angehört.  Es  gibt  leute,  die  gehen  mit  bewegten 
lil^pen,  ja  zuweilen  laut  redend  auf  der  Strasse;  wer  hätte  es  nicht 
an  anderen  bemerkt,  Aver  sich  nicht  selbst  eimnal  in  lautlosem  gespräche 
betroffen,  wenn  er  auf  wichtigem  gange  sich  die  anrede  zurechtlegend 
darauf  den  erwünschten  oder  befürchteten  bescheid  im  voraus  vernimt 
und  rede  mit  gegenrede  wechselt,  oder  eine  freudige  gäbe  heimtragend 
den  dank  vorher  hört;  oder  wenn  ihm,  einen  Vorwurf  im  sinn,  die  leb- 
hafte entgegnung  des  beschuldigten  schon  durchs  ohr  klingt,  oder  wie  er 
eine  mislungene  Unterhandlung  auf  dem  heimwege  glücklicher  noch 
einmal  führt.  Solches  nachsinnen  wurde  dem  minner,  der  darüber 
nicht  rechts  oder  links  sah,  zum  erleben  und  zur  dichtung.  So  ent- 
standen Hausens,  Keinmars  und  ihrer  genossen  frauenlieder.  Ganz  an- 
ders die  früheren,  als  die  phantasie  mit  diesem  träumen  und  grübeln 
noch  nicht  vertraut,  der  dichterische  sinn  nur  auf  die  aussenwelt  gerich- 
tet, das  dichtende  gemüt  nicht  mit  sich  und  seinem  treiben,  sondern  allein 
mit  den  ereignissen  und  wesen  der  sinlichen  Wirklichkeit  beschäftigt  war. 
War  aber  die  späterhin  so  üppig  fliessende  quelle  jenen  älteren  noch 
unersclilossen,  regte  sich  ihnen  noch  der  drang  nicht  zum  künst- 
lerischen ausdruck  dessen,  was  im  herzen  vorgieng;  so  konten  sie  auch 
diese  bcAvegungen  selbst  nicht  zum  gegenstände  ihrer  darstellung  machen, 
sondern  griffen  notwendig  nach  aussen,  zu  den  äusseren  dingen  und 
Vorgängen,  die  ihnen  das  herz  zu  freude  oder  leid  mit  allen  Zwischen- 
stufen erregten.  Und  wodurch  wäre  das  ebenso  oft  geschehen,  wie 
durch  die  werte  der  geliebten?  Was  wunder  also,  wenn  neben  liebes- 
versicherung,  mahnung,  neckerei  des  ritters  selbst  ganz  besonders  die 
klagen  und  bitten  der  geliebten,  ihre  sorgen  und  schmerzen,  wie  ihr 
stolz  und  ihre  freude,  geständnis  und  botschaft,  nachdem  sie  ihn  ge- 
rührt oder  erfreut,  ergözt  oder  betrübt  hatten,  als  dichtung  und  zwar 
in  eben  der  gestalt,  wie  er  sie  aus  ihrem  munde  vernommen,  wider 
seinem  bewegten  gemüte  entsprangen?  Und  die  erklärung  liegt  so 
nahe,  indem  wir  nur  zu  glauben  und  zu  veralgemeinern  haben,  was 
uns  für  einzelne  fälle  vom  dichter  selbst  eingestanden  wird,  der  dem 
Spruche  der  fi-au  durch  die  Avorte  (su)  sprach  dax  (minnecUche)  wip 
(5,  6.   8,  16)  selbst  die  angäbe  der  Urheberin  hinzugefügt. 

ni.   Waltlier  im  Verhältnis  zum  miiiiiesaiiii  und  zu  der  älteren 

lyrik. 

Darstellung  äusserer  Vorgänge  mit  dem   natürlichen    Verhältnisse 
zwischen  mann  und  Avcib  war  der  Inhalt  der  ältesten  deutschen  liebes- 


ZUR    KNTWirKELUNG    I^KK    ^UW.    LYKIK  187 

liedcr;  innere  zustände  und  vor^-iing-c  eines  fast  überreizten  Seelenlebens 
iuif  dem  hintere-runde  unnatürlieh  zuc,es[)izter  verkchrsforinen  sind 
i^-egenstand  des  s})äteren,  romanisierenden,  liüHsclien  luinncsani^-es.  Es 
erhebt  sieh  die  ti'age  nach  der  stellunu'  Walthers  von  der  Vüi^-el- 
Aveido  zu  Ix'ideii  riehtunccMi. 

Als  er  die  laufliahn  betrat,  hatten  auch  in  seinem  vci-mutliehen 
vaterlande  Österreich  die  alten  weisen  der  Kürenberi^e  dem  neuen  i^v- 
sehmacke  weichen  müssen  und  mit  Reinniar  der  hüüsehe  minnesan;;' 
i^'erade  hier  am  h()f(>  der  kunstliebenden  Habenberi;-er  seinen  Inihepunkt 
erreicht.  Hier  lernte  Walther  sini;-en  und  sauen,  und  es  ist  dahei' 
natürlich,  dass  er  als  nachahmer  Keinmarischer  kunst  begann,  deren 
hewunderer  er  nach  dem  Zeugnis  seines  kostbaren  klageliedes  auf  den 
tod  des  meisters  in  gewissem  grade  auch  späterhin  geblieben  ist.  Da- 
her versenkt  auch  er  sich  in  die  eigentümliche  schattenweit  der  gedan- 
ken;  er  macht  sein  inneres  zu  einem  sonderweseu,  das  sich  \vn  ihm 
trennen  und  zur  angebeteten  dame  begeben  kann:  J////  scl/ii/  ist  Jiic 
)H)il/:  SU  ist  ir  (I/r.  Itcrxr  inhi  hi  (98,  D  und  ähnlieh  -i-i,  17).  Ohne 
äugen  sieht  er  sie  doch,  denn  das  herz  schickt  äugen  hin;  die 
über  sein  rätselhaftes  wert  verwunderten  hörer  erhalten  den  bescheid 
(99,  27):  iccit  ir  iriwoi,  ira\  di/i  o/u/ch  sin,  <i<i  mit  icii  si  sil/c  diir 
ettiii  tniitY  r\  sind  dir  tjrdaid.-c  des  Itrrxru  min:  du  mite  sihc  ich 
dnr  innre  nnd  onel/  dnr  nfii/f.  Möchte  ebenso  aucli  die  herrin 
niidern-ilent  bei  ihm  Aveilen!  Hoft  er  ja  doch  zuversichtlich,  dass  sie 
gleich  ihm   (14,   lö)    ril  dich'  itle/n/e  mit  </ednnl:e//   sei;   und  schon  bei 

der  l)lossen   einl)ildung,    dass   sie   ihn  sil/f ii/  ir  (jedanken, 

an,  muss  er  aufjauchzen.  Wenn  doch  anstatt  des  herzens  er  auch 
selber  einmal  leibhaftig  l)ei  ihr  einkehren  dürfte:  J/ei  solten  si  ',esn- 
nieiic  kamen,  min  tip,  inin  (nämlich  bei  ihr  weilendes)  her\e,  ir  Ixidcr 
sinne!  (98,  12).  Su  kann  auch  er  von  sich  sagen:  .\en-nre  nränschen 
uinJe  n:arneu ,  dcc,  Inli  midi  dielte  fro  (jemachet  (185,  9)  und  nach  trü- 
ber crfahrung  sich  trösten  (95,  22):  sn-ie  rit  icli  trostes  ie  leiiiir:  su 
init  iclt  doch  .\c  früiden  ?rn)/.  Was  ei//  saetic  ///nn  roJIe/idc//  i//ac, 
war  auch  ihm  versagt;  al)er  mit  fast  rührender  genügsamkeit  fügt  er 
diesem  bekentnis  hinzu  (92,  7):  dejcl/  t/tejt  ///ir  der  gedi/ige  irul  /(//d 
der  /ritte,  de//  ich  J/d//,  deich \  //och  erirertien  sut.  Fort  uml  fort  ge- 
denkt er  ihr  zu  dienen  (94,  6)  /}f  de//  n/i////ect/r]/r//  irü//  und  ver- 
sichert (119,5):  d</\  e//tcil//de  //ie//ia/t  ///ir  (jerdte//  da:  icl/ sd/iede  rui/ 
de///  /rd//r.  Und  was  ist  der  grund  solcher  hofnungy  Mi//  f/edi//(/r 
ist,  lautet  die  antwort  des  minnesängers  (14,  14),  dr/-  ich  t/i//  hutt  ///it 
reht.cn  iriuirc/i,  daxs  oucli  n/ir  da\  selbe  si.     Auch  die   kehrseite,   die 


188  STREICHER 

klage  über  die  quelle  seiner  leiden  fehlt  nicht.  Er  ist  des  hangens 
und  bangens  müde,  wie  sein  meister  Reinmar  (41,  35):  Hexen  mich 
(/eclanke  frt,  son  iviste  ich  niht  umh  ungemach. 

Ganz  natürlich,  da  doch  auch  sein  Verhältnis  zur  dame,  seine 
Schicksale  und  erlebnisse  in  diesem  punkte  die  des  minnesängers  sind. 
Eigenlichen  will  er  ihr  undertän  bleiben  sein  leben  lang  (120,  16),  sie 
hat  allezeit  über  ihn  gewalt  (109,  5),  vermag  ihm  (109,  6)  wol  trüren 
wenden  unde  senden  fröide  mannicvalt.  Ja  cd  min  f7'öide  lit  an 
einem  ivibe  (115,  14)  und  wider  nü  min  fröide  und  cd  min  heil,  dar- 
xiio  al  min  werdekeit  niht  wan  an  dir  einer  sidt  (97,  15),  so  singt 
er  mit  Reinmar  und  Hartmann.  Aber  gross  ist  die  Zuversicht  auf  diese 
fröide  auch  bei  ihm  nicht,  er  betet  daher  (120,  32):  nü  müexe  ex  got 
gef liegen  so  daz  ich  noch  von  iväreyi  schulden  werde  fro,  indem  er 
vorläufig  zugesteht:  noch,  min  fröide  an  xtvivel  stät  und  zufrieden  ist 
ZU  wissen,  dass  diu,  guote  ihm  seine  not  mac  vil  tvol  gebüexen:  ob 
sis  willen  hat.  Auch  an  sie  selbst  richtet  sich  seine  bitte  (97,  21) 
doch  soll  du  gedenken,  saelic  ivtp,  dax  ich  nü,  lange  hniiber  hän  und 
mit  berufung  auf  seinen  dienst  (97,  32)  du  soll  mich,  froive,  des  ge- 
niexen  lun,  daz  ich  so  rehte  hän  gegert.  Aber  das  freilich  alles  nur 
von  ferne;  denn  er  gesteht  uns  (121,  26)  swie  dicke  ich  ir  noch  bi 
gesaz,  so  ivesse  ich  minner  danne  ein  kind  (vgl.  115,  26).  Heisst  es 
daher  auch  bei  ihm  (121,  3):  ich  kan  cd)  endes  niht  gewinnen  — ■  ein 
grund  für  weitere,  neue  hofnuug  findet  sich  noch  immer:  darumbe 
u'acre  ich  nü  verxagei,  ivan  daxs  ein  wenic  lachet  so  si  nur  versaget. 
Dann  kommen  ihm  seine  gedanken  zu  hülfe  und  bauen  das  ganze 
luftschloss  auf  diesem  felseogrunde  auf,  bis  er  am  ende  das  verheissungs- 
volle  bekentnis  der  vermeintlichen  geheimen  Zuneigung  seiner  dame 
aus  ihrem  munde  zu  erlauschen  glaubt  (113,  33):  Ich  minne  einen 
ritter  stilk;  dem  enmac  ich  niht  versagen  nie  des  er  mich  gebeten  hat: 

tuon  ichs  niht,    mich  d^inket,   dax  niin  nietner  werde  rät dax 

ichx  iemer  einen  tac  sol  fristen,  dest  ein  klage,  diu  mir  ie  bi  dem 
herxcn  lac.  Erwacht  aus  dem  tröstlichen  wahn  wünscht  er  dennoch 
(119,  17)  Got  gebe  ir  ietner  guoten  tac  und  laxe  mich  si  noch  gese- 
hen, diech  mifine  und  niht  erwerben  mac;  und  was  Hausens  (z.  b. 
47,  1)  und  Reinmars  stolz  war,  kein  böses  wort  gegen  die  hartherzige 
zu  sprechen,  des  rühmt  er  sich  auch  (71,  31):  ein  ander  man  ez  Hexe: 
nü  volg  ab  ich,  swie  ich  es  niht  geniexe.  sivax  ich  darumbe  swaere 
trage,  da  enspriche  ich  niemer  iU)el  xuo,  wen,  so  vil  dax  ichz  klage. 
Ja  er  Übertrift  sie  noch  fast  durch  die  frage  (97,  1):  tver  sol  dem  des  iviz- 
xen  danc,    dem   von   staete   liep  geschiht,    nitnt  der  staete  gerne  ivar? 


zu«    ENTW!OKET,TT.\(t    DKR    MIHI.    I.YIi'IK  1S9 

(lein  (111  slai'lc  nie  (iihiiic,  oh  nidii  den  ni  slaclc  sihl ,  seht,  des  slaclc 
ist  li'ilcr  (jdf.  Mit  itllcn  (licscii  züi;eii,  (Iciii  wiilincii  und  simicii  ciiior- 
seits,  (Iti-  hilflosen  liingebung  an  die  i^'ütc,  der  iuispruclisloscMi  eri^(!- 
I»im,^'  in  die  liürtc  einer  aiii;'C beteten  lien-in,  dem  i^'an/en  kultus  uni^-e- 
leiintei'  liebostreuc  andrerseits  steht  der  diehler  diireliaus  auf  dem  boden 
liötisclien   lebens  und  seiner  p()(^si(\ 

(ianz  anders  i^-eartet  sind  die  beder,  denen  w'w  uns  nunmehr 
zuwenden.  Da  beklai;'t  der  (Hehter  (7;'),  2")),  dass  (He  bunte  weit  i;'i'au, 
die  vui;'el  stunuu  i;e\vui-den  und  nni'  die  nelx'ikrähe  noch  schreie.  Wo 
(U-  im  soniiiuu'  i;-esessen  auf  ^i'iinem  lasen  uiul  bhnnen  und  klee  zum 
kränze  sprossten,  ihi  liei;e  nun  reif  und  sehnee.  Der  arme  mann 
Itesehwei'e  sieli  idter  (Vw  wiuterkidte.  Der  säng-er  aber  selbst  liegt  ver- 
diussen  daheim  und  murmelt  nüirriseli:  <■  <J(r.  ich  hiinje  lit  scihcr  dn) 
lichlniniicl  Hitcrr,  als  icli  hin  iiu,  ich  irnnh'  r  niihich  \c  Tohcrli). 
Uiul  uidei'  klagt  ei-  (HS),  1):  Uns  liät  <h'r  iviiihr  (i<sch(i(hi  iihcr  al ,  sehnt 
sieh  naeh  dem  frühlin.ge  mit  seinen  freuden :  snchc  ich  die  mc<i(h'  an 
(Ur  s/n'r.r  (h'n  hal  irerfcii!  so  Ir/cntc  uns  der  voijeJe  seimig  und  nKk-hte 
drum  rersh'ifen  des  winters  .\if,  tröstet  sich  aber  damit,  dass  ja  aiu-h 
der  weichen  müsse:  /rei\</of  er  h'/f  doch  dem  nieien  den  strit:  so  lise 
ich  hht(nnen  (h)  r/f'e  i/n  h't.  Und  wenn  der  niai  gekommen,  noch 
mächtiger  als  der  winter,  und  pfaffen  und  laien  ausgehen,  ihn  zu 
l)egrüssen,  da  bleibt  auch  er  nicht  zui'ück,  traurige  weisen  anzustim- 
men, sondern  ruft  (51,  2?>)  ziun  tanzen,  lachen  und  singen  und  Jubelt 
mit  allem  volke  dem  '.otthentere  entgegen:  Wol  dir,  iin-ie,  /cie  dn  scj/ei- 
dest  (dh'\  dne  J/a\  !  n:ie  nud  du  die  hau  nie  Ideidest  nnd  die  lieide  hü\!  Wie 
er  geheissen  und  im  winter  herbeigesehnt,  so  scharen  sich  nun  die  mäd- 
chen  auf  dem  plan,  den  ball  zu  werfen  und  den  reihen  zu  schwingen, 
und  der  sänger  ist  unter  ihnen.  Einen  kränz  von  blunien  in  der  band 
ist  er  unter  sie  getreten,  ihn  einer  n-olgetdnen  nntget  mit  freundlichen 
Avorten  darzurei(dien.  Nicht  vergeblich !  Nicht  vergeblich  auch  hebt  er 
die  haiul  zur  l)eteurnng  empor,  dass  er  ihr  lieber  gold  luid  edelstein 
aufs  haupt  sezte;  denn  das  mägdlein  verschmäht  die  gebotene  gäbe 
nicht  ujid  dankt  gar  anmutig  und  sitsam  gleich  einem  edlen  fräulein, 
errötend  wie  die  rose,  die  neben  einer  lilie  steht,  und  gewährt  ihm 
k(istlichen  lohn.  Es  wird  ihm  so  selig,  wie  niemals  noch.  Da  tagt 
es,  er  erwacht  und  die  herlichkeit  ist  dahin:  sie  war  ein  träum.  Aber 
die  hofnung,  dem  traumgesicht  im  leben  wider  zu  begegnen,  lockt  (Vni 
munteren  träumer  den  sommer  lang  hinaus  auf  den  plan,  wo  sich  jenes 
heitere,  bunte  leiten  abspielt.  Ob  die  gesuchte  darunter  ist?  Welcher 
Jubel,    wenn    er   sie   erschauen  solte,    mit    seinem    kränze    geschmückt! 


190  STREICHER 

Rucket  üf  die  Miete  ruft  er  drum  unter  die  tanzenden.  Und  er  wird 
die  seine  wol  gefunden  haben.  Unter  die  linde  auf  der  beide  sind  sie 
gegangen,  wo  die  nacbtigall  sang,  er  vor  ihr,  sie  ihm  nacli,  und  er 
hatte  inzwischen  bereitet  von  bluomen  eine  hcttestat  und  sie  mit  tau- 
send küssen  empfangen.  Niemand  hat  die  beiden  bei  einander  gesehen, 
aber  gebrochene  blumen  und  gräser  zeigen  noch  die  stelle,  wo  ihr 
haupt  gelegen,  dem  zum  heimlichen  ergötzen,  der  desselben  pfades 
geht.  Welch  mannigfaltig  buntes,  heiteres  leben  in  diesen  bildern!  Da 
ist  kein  klagen  und  jammern,  das  uns  teilnahmlos  lässt  oder  gar  ver- 
driesst,  kein  hoffen  und  trösten,  dessen  nichtigkeit  wir  durchschauen. 
Niclit  schattenhaft  schweben  hier  unsichere  gedanken  durch  mauern 
und  wände,  sondern  lebendiges,  fröhliches  volk  tummelt  sich  in  früh- 
iingslust  auf  grünem  plan.  Kein  demütiger,  wehmütiger  minner  steht 
im  geiste  vor  seiner  harten  herrin,  die  oft  unsern  beifall  erwirbt,  wenn 
sie  ihn  abfallen  lässt,  sondern  ein  munterer  sänger  schreitet  durch  den 
kreis  froher  tänzerinnen,  guckt  allen  vast  imder  dougen  und  bringt 
seinen  kränz  zu  unserer  befriedigung  nicht  umsonst,  während  das  mäd- 
chen  zwar  nicht  den  geliebten  abzuweisen  versteht  und  nichts  von  den 
grübeleien  und  bedenklichkeiten  weiss,  unter  denen  jene  damen  ihre 
hingäbe  versagen  oder  erklären,  aber  dafür  wie  des  Kürenberges  mägd- 
lein  schamhaftes  erröten  kent.  Als  er  vor  sie  tritt  mit  dem  liebeszei- 
chen,  heisst  es  (74,  32):  do  erschnmjjten  sich  ir  Hellten  ougen.  Nicht 
wahnfreude  webt  im  trüben  dämmerschein  grübelnden  sinnens  ihre  bil- 
der,  nicht  halb  unterdrückt  wagt  sich  die,  sei  es  ängstlich  verhaltene 
oder  bloss  eingebildete,  unwahre,  immer  aber  zurückgewiesene,  ein- 
geschüchterte empfindung  einer  zimperlichen,  in  den  zwang  unnatür- 
licher formen  gebauten  geselschaft  hervor,  sondern  keck  wird  begehrt 
und  lieblich  gewährt,  und  ungehemt  entquilt  die  jubelnde  lust  dem 
herzen  freier,  leichter  menschen  im  hellen  Sonnenlicht  des  wirklichen 
lebens.  Kurz  es  erscheint  hier  erstens  das  wesen  der  geschlechter  und 
ihr  gegenseitiges  Verhältnis  natürlich  und  unbeeinflusst  von  ritterlicher 
verkehrsform  und  sodann  der  dichterische  sinn  nicht  auf  sich  allein,  son- 
dern auf  die  aussenwelt  gerichtet;  d.  h.  die  beiden  kenzeichen  des  eigent- 
lichen minnesanges  fehlen,  und  es  berühren  sich  vielmehr  solche  lieder 
mit  jenen  vor  dem  minnesange  entstandeneu.  Berühren  sich  aber  frei- 
lich auch  nur;  denn  wie  hoch  hat  sie  Walthers  durch  die  schule  des 
minnesanges  gegangene  kunst  darüber  hinausgehoben !  Dort  der  schlichte, 
treuherzige  ausdruck  nicht  ohne  unbeholfenheit,  der  gedankengang  oft 
unterbrochen,  sprunghaft  —  bei  ihm  die  klarste  folge  und  eine  gCAvante, 
spielende,  anmutige  spräche;  dort  ungenaue  reime  und  härten  des  vers- 


Zint    KNTWICKKI.UNC    HER    MIID.     I.VKIK  191 

l)aues  —  hier  die  feinsten,  bio^'sainsten  nidodicHMi;  dort  nur  ein  oinzolnes 
biidt'hon,  /uwcilcn  melir  angedeutet  als  ausgeführt  —  hier  ('ine  sieh 
entwickehule,  an  gestalten  und  fai'l)eii  reiehe  handlung;  dort  halb 
unbewussfe  ■ —    hier  die  berechnendste  kunsf. 

Und  was  ergiljf  sich  aus  dem  bisherigen  für  Walthers  dichterischo 
entwicklung?  Dass  man  die  (hirstellung  unserer  licchMiiandsein'ift,  die 
ihn  auf  grund  des  bekanten  gediehtes  (8,  1)  mit  übereinander  geschhi- 
genen  Ix'incn  zeigt,  das  liaupt  gedankensclnver  in  die  band  gestiizt, 
die  äugen  vor  sich  hin  gerichtet,  mit  inn'echt  als  sinbild  seiner  dicbtimg 
ansehen  würde.  Denn  so  allein,  in  nachdenken  verloren,  den  l)lick 
nicht  hinaus,  sondern  hiiu'in  in  die  selbstgeschafne  traumweit  seines 
herzens  gc^beftet,  mit  sich  und  für  sicii  allein  dichtend  zeigt  sieb  nicht 
W'alther,  sondern  die  minnesäugor  vor  und  zu  seiner  zeit.  Ihr  blick 
sah  nui-  (li(^  iKMigefundene  enge  weit  des  eigenen  Innern,  und  dahinein 
schienen  sie  sich  wie  auf  ein  weit  entfei'ntcs,  einsames  oiland  mit  d(M' 
tVeude  der  ersten  ontdecker  ganz  geflüchtet  zu  haben.  Walther  nicht 
el)enso!  Denn  war  auch  ihm  sein  herz  einmal  eine  solche  stille  Zuflucht 
gewesen,  so  fesselte  sie  ihn  doeh  nicht  auf  die  dauer  und  lag  dem  fest- 
lande näher,  wohin  sich  daher  sein  wideraufgeschlagenes  äuge  wendete; 
l)ald  stand  er  sell)st  mitten  im  getümmel.  Peinige  gewiss  im  anfange 
seiner  tiitigkeit  entstandene  lieder  zeigen  ihn  noch  ganz  von  dem  Zau- 
ber befangen,  der  die  minnesänger  im  umkreise  ihrer  innenweit  gefan- 
gen hielt;  die  zulezt  angeführten  —  deshalb  aber  natürlich  nicht  not- 
wendig die  jüngsten  —  bilden  in  dieser  hinsieht  den  gegensatz.  Er 
gibt  die  richtung  an,  die  Walthers  entwicklung  nahm,  und  bezeichnet 
seine  stelle  in  der  geschichte  der  dichtung.  Während  nämlich  die  dich- 
tung  bis  in  Kürenbergs  zeit  nur  objektiv  darzustellen  vermochte,  die 
minnesänger  aber  sich  den  bereich  des  subjektiven  erschlossen  und 
mit  einer  Avundersamen  hingäbe  pflegten,  ist  Walthers  blick  für  den 
engeren  wie  den  Aveiteren  kreis  offen;  nicht  als  ob  er,  ein  äusserlichei-, 
nur  kunstreicherer  uachahmer  des  älteren  von  dieser  l)etrachtungsweise 
zu  jener  zurückgekehrt  sei,  sondern  indem  sein  dichterischer  geist  beide 
fähigkeiteu  als  nur  verschiedene  äusserungen  seiner  kraft  in  sich  ver- 
band und,  seitdem  sich  seine  eigenart  herausgebildet,  zu  gleicher  zeit 
in  anweudung  brachte.  Das  bezeugen  die  bei  weitem  meisten  aller 
seiner  dichtungen,  von  denen  man  daher  bei  mangelhafter  Überlieferung 
wol  dies  oder  jenes  einem  Reinmar,  keines  einem  Meinloh,  Dietmar, 
Kürenberg  beizulegen  in  Versuchung  kommen  könte. 

Verfolgen  wir  die  durchdriugung  dieser  Innerlichkeit  und  äusser- 
lichkeit,    und    die    anrede    des    mägdleins    in    dem    lieblichen    gedichte 


192  STREICHER 

Unde7'  der  linden:  da  muget  ir  vinden  schone  beide  gebrochen  hluo- 
men  unde  gras  möge  der  aiisgangspunkt  der  beobachtuiig  sein.  Yon 
dem  Unvermögen  des  minnesängers ,  sich  trotz  der  bestimmung  seiner 
lieder  für  den  vertrag  in  ritterlicher  geselschaft  in  eine  lebendige  bezie- 
hung  zum  hörerkreis  zu  setzen,  ist  oben  ausführlich  die  rede  gewesen. 
Solte  hier  einmal  Walther  und  leider  in  einem  der  anziehendsten  lie- 
der der  gleichen  unbekümmertheit  oder  nachlässigkeit  verfallen  sein? 
Denn  bedeuten  die  angeführten  worte  mehr  als  eine  leblose  wendung 
und  soviel  wie  eine  aufforderung  des  mädchens  an  zuhörer,  hinzugeiien 
und  die  stumredenden  zeugen  ihres  bekentnisses  zu  suchen,  müste  dann 
nicht  dem  dichter  entgangen  sein,  dass  ein  solcher  aufrnf  nicht  nur 
mit  natürlicher  Verschämtheit  überhaupt,  sondern  auch  mit  ihrem  so 
reizvollen  und  zarten  ausdrucke  in  der  schlussstrophe  einen  unverträg- 
lichen widersprucli  bildet?  Er  ist  ihm  entgangen,  sonst  wäre  er  ver- 
mieden worden.  Aber  nicht  ein  mangel  an  beziehung  zum  liörer  kann 
ihn  veranlasst  haben.  Denn  gerade  die  lebhaftigkeit  derselben  unter- 
scheidet Walthor  von  den  minnesängern ,  und  hierin  stelt  sich  ein  ein- 
dringen des  Objektes  in  das  subjektive  dar.  Treten  auch  bei  ihm  nicht 
immer  nur  lebendige  menschen  auf,  ihn  selbst  sehen  wir  fast  stets  vor 
solchen  stehen,  mit  ihnen  sprechen,  was  seinen  dichtungen  in  beson- 
derer weise  den  schein  der  Unmittelbarkeit,  des  lebens  verleilit.  Er 
spricht  von  seinem  tröste,  nein,  einem  Ideinen  troesteUn,  das  ihn  in 
seinen  zweifeln  erfreue,  und  fügt  zaudernd  hinzu  (66,  3):  so  kleine, 
sivenne  ichz  iu  gesage,  ir  spottet  ))ihi.  Er  fragt  in  den  kreis  hinein 
(69,  1):  Saget  mir  ienian,  wax,  ist  nmine?  .  .  der  sich  hax  denn  ich 
versinne,  der  berihte  mich ..!  gibt  sich  dann  selber  den  bescheid  minne 
ist  minne,  tnot  si  ivol:  tuot  si  2ve,  so  enhevxet  si  niht  rehte  niinne 
und  bedingt  sich  nun,  willens  diese  antwort  zu  erklären,  zuvor  im 
falle  des  ein  Verständnisses  die  Zustimmung  der  hörer  dazu  so  aus:  Obe 
ich  rehte  raten  hilnne,  wa%  diu  minne  st,  so  sprechet  denne  ja!  Ein 
andermal  wird  frauenschönheit  über  frühlingspracht  gepriesen,  und  die 
anwesenden  mit  der  behauptung  überrascht,  wenn  eine  edeliu  fronive 
schoene  reine  durch  die  menge  schreite,  so  Hessen  sie  alle  lilumen 
stehen,  um  das  iverde  ivip  zu  schauen.  Und  da  man  doch  nicht  recht 
einverstanden  scheint,  so  fordert  er,  für  seine  person  über  die  wähl 
im  reinen,  auf,  es  alsbald  zu  probieren  (46,21):  Nil  ivol  dan,  weit  ir 
die  urlrheit  schouwen!  gen  wir  xuo  des  meien  huhgexite!  Wider 
vergleicht  er  die  Schönheit  der  lierrln  mit  einem  köstlichen  gewand, 
das  sie  angelegt;  und  als  könne  ihr  in  den  sinn  kommen,  ihn  wie 
einen  fahrenden  zu  belohnen,    erklärt  er,  gegen  seinen  gebrauch  solch 


ZUR   ENTWICKFLUNG    DER    MIID.    LYRIK  193 

ein  getragen  kleid  fürs  leben  gern  anzunehmen,  dem  zu  liebe  spielmann 
zu  werden,  auch  ein  kaiser  nicht  erröten  würde  (63,  5).  Vor  ihm  aber 
sass  gewiss,  als  er  dies  zuerst  sang,  der  kaiser  in  der  tat;  denn  um 
die  Wahrheit  seiner  Versicherung  zu  erweisen,  ruft  er:  da,  heiser,  spil! 
und  man  meint  den  angeredeten  aufstehen  und  nach  der  hingehaltenen 
leier  greifen  zu  sehen;  da  bereut  der  sänger  das  gefährliche  spiel  und 
zieht  sie  bestürzt  zurück:  nein,  herre  heiser,  anderswä!  Diesen  verkehr 
mit  der  Zuhörerschaft,  an  deren  ohr  sein  lied  klang,  hat  kein  minne- 
sänger  vor  Walther  gekaut.  Schienen  sie  blind  vor  ihr  zu  stehen,  so 
sieht  ihi-  AValther  in  die  äugen,  bemerkt  ihr  fragen  und  verwundern, 
zustinunung  und  Widerspruch  und  kann  nicht  anders,  als  sich  an  sie 
wenden.  Meist  erhöht  dies  den  reiz  seiner  dichtung,  in  dem  gedieht 
vom  mägdlein  unter  der  linde  tut  es  ihm  entschieden  eintrag.  Was 
des  mädchens  herz  beglückend  erfült,  vernimt  niemand;  nur  der  dich- 
ter hört  es,  weil  er  den  Vorzug  hat,  auch  ungesprochene  werte  zu  deu- 
ten. Er  will  andere  mit  dem  erlauschten  geheimnis  erfreuen  und  das 
Selbstgespräch  widergeben,  wie  ers  gehört.  Allein  die  Selbstverleugnung 
gelingt  ihm  nicht  ganz ;  denn  offenbar  spricht  aus  den  werten  der 
anrede  statt  des  mädchens  der  dichter  selbst,  der  sie  vorträgt.  Und  so 
scheint  das  mädchen  statt  des  dichters  aus  ihrer  stillen  kammer  als 
declamatorin  unter  einen  zuhörenden  kreis  versezt;  oder,  anders  aus- 
gedrückt: der  sänger  hat  die  Wirklichkeit  seiner  läge  beim  vortrage 
einen  augenblick  deutlicher  und  lebhafter  gefühlt  als  die  erfindung  sei- 
nes gedichts. 

Der  misgriff  ist  eine  lehrreiche  ausnähme.  Immer  glücklich  aber 
bezeugt  sich  Walthers  objektives  anschauungs-  und  gestaltungsvermögen, 
indem  es  die  von  früheren  minnesängern  auch  wol,  aber  nur  schatten- 
haft begrüsste  Minne,  desgleichen  die  Staete,  die  Maxe,  den  Meie 
und  andere  phantasiegebilde  belebt.  In  einer  betrachtung  über  den 
harten  druck  ungelohnter  treue  entringt  sich  ordentlich  der  gequälten 
seele  die  flehentliche  bitte  (96,  35):  Lät  mich  ledic,  liebe  min  frö 
Staete!  Der  mai,  als  habe  er  sich  wirklich  eingebildet  mit  seiner  pracht 
selbst  frauenschöne  zu  überstrahlen,  muss  den  spott  hören  (46,  30)  her 
Meie,  ir  müexet  merze  sin,  e  ich  min  froiven  da  verlür.  In  liebesnot 
macht  der  dichter  mit  beweglichen  werten  die  minne  zu  seiner  fürbitterin 
(109,  25):  Süexe  Minne,  sagt  er,  stt  ?iäch  diner  siiezen  lere  mich  ein 
wip  also  betivungen  hat,  bite  s^,  dazs  ir  wiplich  güete  gege?i  mir 
kere;  er  bewirbt  sich  um  ihre  bundesgenossenschaft  (98,36):  Nä  froive 
Minne,  htm  si  minnecUchen  an,  diu  mich  twinget  und  cdso  betivun- 
gen hat.      Frau  Minne  wohnt  in  seinem  herzen,    hat  den  sin  daraus 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXIV.  13 


194  STREICHER 

vertrieben  und  zur  herrin  gesant,  darüber  beschwert  der  dichter  sich 
bei  ihr  (55,  12):  tvie  Imnde  ich  mie  sin  genesen?  du  wonest  an  siner 
stat,  da'r  inne  solte  wesen:  du  sendest  in  die  tveist  wol  ivar.  dan  mac 
er  leider  niht  erwerben,    fi'mve  Minne.     Seufzend  macht  er  ihr  drum 

den  Vorschlag:  du  soltest  selbe  dar erdringest  du  da  dhie  stat,  so 

lu  mich  i7i,  dax,  wir  si  mit  ein  ander  sprechen,  und  so  dringend  ruft 
er:  Oenäde,  froive  Mmnef  ich  wil  dir  umbe  dise  boteschaft  gef Hegen 
dines  willen  vil:  wis  ivider  mich  nü  tugeiithaft,  so  vorwurfsvoll  fragt 
er:  GenaedecUchiu  Mi?ine ,  Ul:  war  umbe  tuost  du  mir  so  we?  lockt  sie 
mit  versprechen  und  fasst  sie  schliesslich  bei  der  ehre,  um  sie  aufzu- 
reizen exn  ivart  nie  sloz  so  manicvalt,  daz  vor  dir  gestüende,  diebe 
7neisterinne.  tuo  üf!  sist  wider  dich  ze  balt.  Dies  gedieht  ist  dafür 
besonders  lehrreich,  indem  es  den  engsten  Zusammenhang  Walthers 
mit  der  bisherigen  minnepoesie  aber  auch  seine  eigenart,  die  anschau- 
liche lebhaftigkeit  seiner  erfindung  deutlich  aufweist.  Das  gebild  sei- 
ner Phantasie  erscheint  nicht  wie  sonst  z.  b.  in  Hausens  sich  zum 
vergleich  bietenden  kreuzfahrtsliede  (47,  9)  bloss  als  des  dichters  inne- 
res neben  dem  dichter,  sondern  neben  dichter  und  innerem  (sin)  als 
ein  drittes,  ursprünglich  auser  ihm  vorhandenes.  Man  erkent  die  Ver- 
schiedenheit des  dichterischen  Vorgangs,  dort  das  Unvermögen,  eine 
andere,  hier  die  absieht,  gerade  diese  gestalt  zu  erfinden;  er  konte 
ja  auch  die  treue,  konte  —  etwas  gewiss  ausser  ihm  liegendes  — 
den  mai,  konte  auch  fremden  liaz  und  iiit  ebensowol  als  persön- 
liche wesen  darstellen.  Diese  beiden  werden  einmal  angeredet  (59,  5) 
ir  spehere,  so  ir  niemen  staeten  ynilget  erspehen,  den  ir  verkeret,  so 
hebt  iuch  hein  in  iuiver  hüs.  Auch  das  ihm  unfreundliche  glück 
wird  verkörpert  als  frö  Saelde,  die  ihm  immer  den  rücken  zukehrt 
und  ihn  nicht  ansehen  mag.  Loiif  ich  hin  umbe,  ich  bin  doch  iemer 
hindcr  ir,  heisst  es  da  (56,  1);  und  das  anschauliche  bild  wird  bis  zu 
dem  schalkhaften  wünsche  festgehalten:  ich  ivolte,  daz  ir  ougen  an  ir 
nacke  stüenden:  so  müest  ez  an  ir  dank  geschelien.  Denselben  sinn 
für  anschaulichkeit  bezeugt  die  vor  Walther  unbekante  ausführlichkeit 
über  weibliche  Schönheit  und  die  äussere  erscheinung  der  frau,  wie  in 
der  deutlichen  Schilderung  der  einherschreitenden  (46,  11),  wie  sie  ivol- 
gekleidet  unde  ivol  gebunden  .  .  .  zuo  vil  Hüten  gilt  hovelichen  höh- 
gemuot,  niht  eine,  umbe  sehende  ein  ivenic  under  stunden. 

Auch  in  seiner  Stellung  zur  besungenen  dame  und  zur  dame  der 
geselschaft  überhaupt  ist  Walther  in  dieser  mehrzahl  seiner  höfischen  üeder 
kein  minnesänger  im  älteren  sinne,  und  sein  selbstbewustsein  erinnert  viel- 
mehr an  den  mann  in  den  frühesten  liedern.     Er  bleibt  ein  Verehrer  der 


ZUR    ENTWICKELUXG    DER   MIID.    LYRTK  195 

frau,  doch  seine  «praclie  gogen  sie  liat  die  füi^-sarae  unterwürfig-keit 
(>inos  Hansen  nnd  Keinmar  abg'elogt.  Wenn  jene  Jinr  schiichtern  die 
bittcnik  vcriuutuiig  gewiigt,  der  scliooie  ihi'cr  herrin  werde  (joidde 
anoli  zugescit  sein,  si»  tritt  der  ähidiche  gedaida^  bei  ihm  als  eiitschie- 
dcnc  mahnung  anf  (121,  b):  Sl  sd/c,  dd-.s  innen  sich  bcirnr  si  silii- 
ncl  n\cn  friildotriili  -  (hr.s  (tu  den  siUii  1hl  irre  rnr^  die  er  ihr  als 
hiilhehe  erwartimg  ins  gesieht  \vi(h'rii(ilt  (Sß,  1):  häl  li\  als  icii  iiiiih 
veriv(n')t(',  iiiictr  hi  (Ur  ifohichiciic ,  ic<t\  diuntc  (in  in  einer  ti'en  lil! 
Er  hütet  sieh  vor  grossem  h>be,  ja  kent  t'eider  an  ilir;  nnd  bestehen 
sie  aneh  nur  (hirin,  (hiss  (öl),  20)  si  sclnidet  ir  rinden  irild  und  tnot 
ir  friniiden  in',  so  hat  er  (hx-h  auch  anss<M'  sclioene  und  e/v  keine 
tagend  zu  preisen.  Tnd  im  get'ühl,  wedei-  ihr  noch  andern  damit 
genug  zu  tun,  sehliesst  ei'  kurz  nnd  fest:  ich  seil  in  (jerne  Insent: 
im  ist  niJil  nie  da  ....  nur,  iril  si  nn'rcY  hiesl  irul  (jelohl :  lohe  nn- 
dersiri).  Sell)st  vollen  tadel  müssen  sieh  die  sonst  so  hocligelobten 
gefallen  lassen  (!;)1,  1):  Li'il  niicJi  .\i(o  den,  froniren  (/(in:  so  ist  düK 
min  (liier  ineisle  Ihnje ,  so  ich.  ie  inerc  xiiiiie  hCin.^  so  icli  ic  niinrc 
irerdeheil  h(j(((/e  (vgl.  48,  25).  Für  die  sanftere  änssernng  dieser  selbst- 
gewissen Überlegenheit  besonders  bezeichnend  ist  das  hübsche  lied 
((52,  2(3),  in  dem  er  einen  aussprneli  seiner  dame  gegen  sie  selbst  wen- 
det: Sirc)-  mir  hesicnerc  inineii  '/nind,  dn:.  ich  den  nniche  irider  frd, 
sagt  Ihr  zn  mir,  nnn  diu  h're,  oh  si  mit  triaivcn  sl,  dax  scJiinc  an 
in.  icli,  frönirc  incJi,  ir  hesiraerct  -mich:  des  schämt  iuch ,  oh  ich;. 
reden  i/ehir,  hit  inirer  irort  niht  velsclicn  sich  und  ircrdet  giiot:  so 
hdht  ir  in'tr.  Man  merkt  überall,  dass  ihm  die  sache  gar  nicht  so 
erschrecklich  tief  geht,  wie  es  die  minnesänger  von  sich  ohne  anfhören 
nnd  angenscheinlich  aufrichtig  versichern.  Der  ernst  nnd  die  selbst- 
bewnsste  würde  dieses  mannes  striinbte  sich  offenbar  gegen  die  oft 
läppische  guadenl)ettelei  nnd  sein  auf  Wahrheit  und  natürlichkeit  gerich- 
teter sinn  gegen  die  unnatur  des  geselschaftlichen  frauendieustes.  Treue 
ohne  Wandel,  Avenn  auch  ohne  lohn  war  der  Wahlspruch  des  miune- 
sangs;  die  zu  lieben,  die  ihn  wider  hasste,  das  immer  von  neuem 
lieklagte  loos  des  einen  wie  des  andern.  AValthers  stolz  kent  solche 
liebe  nicht,  und  seine  meinung-  lautet  vielmehr  (69,  10):  Minne  ist 
xweicr  hcr.^eii  iriinne:  teihnt  si  gelicJie ,  sijst  diu  minne  dd ,  ohne  das 
aber  nicht;  denn  (51,  7)  eines  friiuides  minne  diit  ist  niht,  du  cnst 
ein  ander  bi.  minne  entoue  niht  eine,  si  sol  sin,  gemeine.  Und  ist 
ihm  das  glück  so  wenig  hold  wie  jenen,  dass  die  vielgeliebte  und  viel- 
gelobte seine  lieder  doch  nicht  erhilren  will,  so  fragt  er  unmutsvoll 
(69,  23):    icacnet    si ,    da\    ich    ir  tiep  gebe   wnibe   leit?    sol  ich  si  dar 

13* 


196  STREICHER 

U7nhe  iinren,  dar..  si%  wide?'  Jcere  an  mine  imzverdekeä?  oder  erkent 
empört  (40,  22)  owe  danne,  so  hän  ich  getobet,  dax,  ich  diu  getiuret 
hau  und  mit  lohe  gekroenet,  diu  mich  ivider  hoenet.  Nicht  einmal 
lange  warten  mag  er,  sondern  drängt  (69,  16):  ivellest  du  mir  helfen, 
so  hilf  an  de?'  zit.  si  ab  ich  dir  gar  unmaere,  dax  sprich  endeliche: 
so  lax  ich  den  strlt  unde  wirde  ein  ledic  man.  Mass  er  aber  eifer- 
sücliteleien  von  ihr  hören,  so  stelt  er  sie  vor  die  wähl  (71,  7):  wil  si, 
da%  ich  andern  wibeji  tvidersage,  so  laxe  ir  min  rede  ein  ivenic  hax 
gevallen;  denn  sein  grundsatz  ist  hier  wie  in  andern  dingen  (49,  16): 
sivä  ick  niht  verdienen  han  einen  gruox  mit  mime  sänge,  dar  her  ich 
vil  herscher  man  minen  nac  od  ein  min  umnge.  dax  Mt:  mir  ist 
umbe  dich,  rehte  als  dir  ist  umhe  7nicJi  und  er  komt  zum  beschluss: 
ich  tüil  min  lop  keren  an  wtp  die  ktinnen  danken:  wax  hdn  ich  von 
den  Überheren?  Und  wirklich  hat  sich  ja  der  sänger  zeitweilig  ihnen 
abgewant,  um  die  köstlichen  lieder  zu  singen,  von  denen  oben  die  rede 
gewesen  ist. 

Sein  gegensatz  zur  herschenden  richtung  war  kein  ihm  unbewuss- 
ter.  Das  beweisen  zahlreiche  stellen.  So,  wie  es  scheint,  gleich  die 
erklärung  (95,  27):  Muox  ich  nü  sin  nach  iväne  frö,  son  heize  ich 
niht  xe  rehte  ein  saelic  man,  ohne  zweifei  aber  die  häufige  rechtfer- 
tigung  seiner  abkehr  vom  höfischen  minnedienst.  Er  nirat  gelegenheit, 
den  tadel  derer  abzulehnen,  die  ihm  verwixent,  dass  er  seinen  sang 
so  nidere  ivende  (49,  31):  da%  sie  niht  versinnerit  sich,  wax  liebe  si, 
des  haben  undanc!  sie  getraf  diu  liebe  nie.  die  ndch  dem  guote  und 
nach  der  schoene  minnent,  ive  ivie  minnent  die?  Er  bestreitet  das 
recht,  ausschliesslich  die  froutve,  die  dame  von  edler  geburt  zu  ehren, 
weil  manche  den  namen  führe,  die  den  namen  ivtp  nicht  verdiene, 
während  jedes  ivip  auch  froutve  zu  heissen  wert  sei  (48,  38).  So  hebt 
sich  sein  liebeslied  vom  dienst  einer  herrin  zur  Verehrung  der  ivipheit 
(49,  1),  reiner  Weiblichkeit,  der  frauenwürde,  des  ganzen  weiblichen 
geschlechts  ^.     Alle  frauen  zu   ehren  ist  erst  die  aufgäbe  von  Walthers 

1)  Denn  wir  hören  die  Vorgänger  Walthers,  einen  wie  den  andern,  immer  von 
neuem  versiclieni,  dass  ihn  die  eine  des  lierxen  .  .  .  heroubet  gar  für  elliu  wtp 
(MF  42,  9).,  dass  er  um  ihretwillen  nichts  frage  nach  allen  andern  frauen  (103,  5),  dass 
sie  allein  ihm  vor  allen  andern  tciben  im  herzen  sei  tag  und  nacht  (114,  37),  dass 
er  vür  si  nie  kein  ivtp  erkös  (160,  11),  doch  sie  mir  elliu  tctp  (43,  14.  197,  4. 
47,  12.  50,  31.  103.  12),  und  Eeinmar  verteidigt  das  recht  solcher  versicherang. 
Dergleichen  äusserungen  sind  aber  so  überaus  zahlreich  —  man  braucht  jezt  niu"  auf 
die  Zusammenstellung  bei  Meyer  Ztschr.  f.  d.  a.  XXIX,  s.  157  zu  verweisen  —  dass  die 
wenigen  stellen,  wo  Fenis  (81,  25)  dii7~ch  si  yuoten  tviben  zu  dienen  meint,  Adeln- 
bui'g  (148,  13)    ebenfals  um  ihretwillen  wiU  eren  elliu  wip  und  Reinmai"    (183,  27 


ZUR    ENTWICKiaUNÜ    DER    MHD.    LVIilK  197 

gerciftoni  und  ab£>-ekläi-tom  nüiuiogosaiiij,-,  dcni  die  oinschriiiikuiiti,-,  die 
(juolci)  roll  den  hösoi  (58,  35)  zu  schoidoii,  wol  anii-emcsson  erscheint. 
Mit  diesem  vorbehält  wird  es  dann  als  htsun^  ans^cucbcn  (90,  11):  d((.y^ 
man  clliii  irip  so/  rrc/i  loid  Icdoch  dir  h(strii  hir,.  Diese  gesinnung 
sprieiit  auch  aus  der  erkliiruni;-  (Jö,  II):  irlni  (jclo/ic  .si  nionrr  alle, 
sivic.  dm  losen  niisseral/e,  sine  n:erden  olle  (jiiot.  Xiclit  sei  ne  //wrc, 
sondern  die  t'raucn.  (jnoliii  iri]),  beh'hi't,  ermahnt,  tadelt  er,  wie  er 
alle  kd)t,  allen  dient;  an  sie  lieisst  er  den  gedenken,  di'r  in  heindiehen 
sorgen  sei;  um  ihretwillen  erteilt  er  die  wiMsnng  (i)."),  11):  er  liio  d/ir 
einer  iri/len  so,  da:  er  den  (indem  n'ol  helnnje,  und  mit  hoehgefiihl 
spricht  er  selbst  von  seinem  lobe  deutscher  trauen.  Und  auch  das 
gehört  zu  den  punkten,  wo  sich  Walthers  objcddivitiit  den  minnesän- 
geru  gegenüber  betiitigt;  ptlegte  ihre  phantasie,  um  andere  unbeküm- 
inert.  nur  den  dienst  der  einen,  so  folgt  AValthers  lied  seinen  äugen, 
die  sich  von  einer  zu  andern  und  allen  richten.  Spottet  er  nicht  im 
hinblick  auf  die  Versicherungen  der  minnesänger,  wenn  er  ungelohnter 
liebesmühe  überdrüssig  einmal  die  abweisende  fragt  (71,  ö),  was  es 
ihm  deiui  nütze,  dass  er  sie  miuue  ror  in  oUen''f  Sehr  wahrschein- 
lich, dass  auch  das  streitgedicht  (111,  2:!;  Keinmar  MF  159,  1  fgg.) 
gegen  solche  Übertreibung  gerichtet  ist  und  die  noch  nicht  ganz  auf- 
geklärten werte  tler  unmässigen  an  der  konventionellen  härte  der  dame 
danklos  al)prallenden  lobrednerei  der  minnesänger  den  ihm  ohne  diese 
zu  teil  werdenden  liebeslohn  entgegensetzen.  Derselben  gewohnheit 
unverständigen  lohes  galt  sein  kurzes  i/ie  ist  ned  (/elold ,  lohe  andersn/d, 
besonders  aber  der  scharfe  spott  (Gl,  24):  ich  iril  lip  und  ere  ttud  cd 
7Jiin  heil  rcrsircrn:  wie  Jcdndc  sicii  dehciniu  dannc  min  crwern? 
Yon  selbst  fallen  einem  die  so  exaltierten  betenruugen,  wie  Albrechts 
von  Johansdorf  (MF  <S7,  9)  ein:  su'ennc  ich  rejn  scinilden  crarne  ir 
'Aorn,  so  hin  ich  rcrrlnociict  ror  ijote  ah  ein  hcido/ :  aber  auch  die 
widerholten  aufrichtigkeitsversicherungen  Reinmars  (165,  19.  170,  21). 
Wol  mit  recht  hat  man  in  einer  solchen  eine  ausdrückliche  entgegnung 
auf  den  erwähnten  angriff  Walthers  gesehen,  und  sie  ist  geeignet,  die- 

vgl.  202,  35)  verlangt  in'r  siili/  alle  froifcn  crcii  (doch  vgl.  183,  24)  oder  sich  trö- 
stet, wenn  sem  dienst  unnütz  sein  ^YÜ^■dl',  !<('i  sin  doch  gcrct  elliii  /r/p,  dass  diese 
ausnahmen  nicht  für  die  i'cgel  gilten  dürtV'ii  und  es  ein  irtum  war  dies  ell/'it  /dp 
ereil  sogar  das  Stichwort  der  liöfischen  siiugrr  zu  ni'inn'n,  während  es  dum  minnesang 
ebenso  wenig  m'sprünglieh  angchijrt  wie  die  tröstliche  betrachtung  über  die  erzieh- 
liche Wirkung  des  minnedieust(_^s  und  eine  blosse  cinbildung  und  pjhrase  ist,  wie  die 
algemeine  lilag(!  über  den  alleinigen  miserfolg.  Wie  könte  sich  Eeinnuir  mit  recht 
rühmen  trotz  lauter  undank  von  /r/beii  nie  übel,  immer  wol  zu  sprechen,  da  er  ja 
doch  niu"  einer  dient,  nur  von  einer  den  undank  erfährt V 


198  STREICHER 

seil  zu  erläutern.  Reinmar  sagt  nämlich  (197,  3):  ivax  uinndxe  ist 
dax,  ob  ich  des  hän  gesivorn,  daz  si  mir  lieber  si  dan  elliu  ivip? 
an  dem  eide  tvirdet  7iiemer  här  verh?m:  des  setze  ich  ir  ze  i)fande 
minen  lip  und  lässt  raten,  an  wen  sich  seine  frage  wendet,  denn  er 
fährt  fort:  si  jehent  —  die  hdhgemuoten  nent  sie  der  demütige  anders- 
wo (165,  19)  —  daz  ich  ze  vil  gerede  von  ir  und  diu  liebe  si  ein 
lüge  diech  von  ir  sage.  Aber  ihm  und  seinesgleichen  entgieng  ja  eben 
das  unnatürliche  und  auch  bei  oft'enbarer  aufrichtigkeit  doch  im  gründe 
genommen  unwahre  ihrer  beteurungen,  Walther  empfand  es  und  das 
gab  ihm  das  bewustsein  des  gegenwärtigen  gegensatzes.  Aber  im  unkla- 
ren über  die  volzogene  Umwandlung  seiner  eigenen  poetischen  an- 
schauung  hält  er  freilich  nunmehr  das  für  unaufrichtig  und  unwahr, 
was  doch  auch  ihm  ehemals  aus  dem  herzen  gekommen  war.  Das  ist 
die  Unwahrheit,  deren  trägern  als  lügenaeren  das  testamcnt  des  dich- 
ters  seine  swaere  verschreibt  (61,  3):  min  unsinnen  schaff  ich  den  die 
mit  velsche  minnen,  während  den'frauen  statt  des  wolgefallens  an  sol- 
chen diensten  nach  herxeliebe  senendiu  leit  zugedacht  ist.  Denselben 
lügenaeren  galt  die  schwere  beschuldigung  (44,  30):  unstaete,  schände, 
Sünde,  unere,  die  rdtent  sie  sivä  man  sie  hoeren  wil  . . .  daz  wirt  noch 
maneger  frowen  schade.  Man  sieht,  er  hat  auch  die  sitlichen  Wider- 
sprüche in  dem  gedankenkreis  des  minnesängers  erkant  und  glaubt  von 
sich  sagen  zu  dürfen:  ich  seine  von  der  rehten  minne,  daz  si  waere 
Sünden  fri;  und  das  ist  die,  die  er  oben  den  frauen  zu  hinterlassen 
wünscht.  Von  diesem  Standpunkte  Walthers  war  übrigens  nur  ein 
schritt  zu  Wolfram  von  Eschenbachs  lobe  der  eigenen  hausfrau.  End- 
lich werden  auch  Walthers  oft  widerholte  beschwerden  über  das  aus- 
sterben der  fi'eudigkeit  in  der  weit  und  die  endlose  traurigkeit  auf 
eine  algemeine  Verstimmung  und  bedrücktheit  zielen,  die  als  eine  folge 
des  undankbaren  dienens  und  singens  eintrat.  Die  rührende  klage 
(120,  10):  outue  deich  niht  vergezzen  mac,  ivie  rehte  fro  die  liute 
wären  könte  dann  vielleicht  als  zeugnis  dafür  dienen,  dass  der  dichter 
in  seiner  Jugend  noch  die  ausklänge  des  älteren,  natürlicheren,  leicht- 
lebigeren gesanges  vernommen  hat. 

So  wendete  sich  Walthers  minnelied  vom  träumen  zum  loben. 
Aber  das  leben  bot  seiner  dichtung  viel  mehr  als  nur  minne.  Wenn 
er  einmal  als  bedingung  für  die  widerherstellung  seiner  lebeusfroude 
die  beiden  punkte  nent,  dass  iverdent  Husche  liute  ivider  guot  undc 
iroestet  si  mich,  diu  mir  leide  tuot  (117,  5),  so  ist  das  schon  eine  für 
Reinmars  dichterischen  gedankenkreis  unmögliche  Zusammenstellung. 
Geradezu  verletzend  aber  muste  diesem  die  geringe  Wertschätzung  des 


ZUK    K.NTWU'KELU.Na    DKli    Mim.    LYRIK  199 

p;-leicluMi  g-egc]i  stau  des  vorkoiniiieii,  die  des  dieliteis  erklariiiii;'  an  trau 
]\Iimie  ausspricht  (öS,  19):  si  bes/ioeJic,  irn  die  schsc  sin:  nni  niir  häts 
in  der  n-ochc  ic  dtii  silirudcii  lac  So  hat  sich  in  (h'r  tat  A\'al'thcrs 
dichtung-  vuiu  engen  ki-cis  des  eigenen  weltvergessenen,  niinnendeii 
inneren  zui'  hehandhmg  (h'r  sitlicheu  und  pelitischen  dinge  und  hege- 
benlieiten  erweitert  im  natiii'h'chen  lertlaut'  (h'r  heohachteten  t'utwick- 
hmg.  Tiid  die  anregung  (hizu  fand  er  nicht  allein  in  ih^v  ihm 
eigeiitiindichen  hegaluiiig,  sendein  nicht  /um  geringslen  auch  in  den 
wan(h'lungen  seines  üusseren  iehens.  Nach  herzog  Friedrichs  tode  aus 
unhekanten  gi-iimh'ii  \(iin  (österreichischen  hofe  Verstössen,  aus  behag- 
licher soi'giosigkeit  und  einer  zu  Iteschaulichem  insichselbstverseuk('U 
einladenden  ruhe  hei'ausgerissen,  liegann  Walther  im  gegensatz  zu  Ilein- 
luar  und  .  soviel  bekant,  allen  t'riiher('n  nunuesängern  ein  unstätes  zie- 
hen und  wandern,  reicli  an  midu:'n.  sorgen,  eiitbelirungen,  enttäusehun- 
gen,  das  wdl  geeigni't  war,  ihn  nachdrücklich  mit  (hm  gestalten  und 
ereignissen  (h'j'  wirklickeit  in  beridirung  zu  l)ringen.  Er  hat  am  hofe 
k(hug  l*hilip[)s  gew(nlt,  ist  mit  kaiser  (_)tto  gezogen,  hat  Friedrich  11. 
begleitet;  er  ist  bei  Uei-nianu  von  Thüringen  und  Dietrich  von  Meissen 
eingekehrt,  Avider  nach  Wien  gekommen,  hat  den  graten  von  Katzen- 
ellenbogen autgesucht,  ist  beim  Passauer  bischof  gast  gewesen,  hat  an 
die  klostei'pforte  in  Tegernsee  gekl(»pft  und  wer  weiss  wo  ülierall  noch, 
worüber  uns  keine  nachricht  geblieben  ist.  i\lehr  als  zwanzig  jähre 
sahen  ihn  in  dieser  läge,  heimatlos  von  land  zu  land,  ja  von  bnrghof 
zu  burghof  ziehend  und  gewiss  oft  am  morgen  noch  zweifelnd,  ob  er 
zur  nacht  freundliche  herbergo  linden  werde.  So  glich  sein  leben  dem 
eines  fahrenden  siingers,  Avie  ihrer  viele  damals,  männer  aus  dem  volkc 
und  nicht  ritterbürtigen  geschlechts,  im  lande  luiiherstreiften.  in  städten 
und  dörfern  gern  gesehen,  auch  auf  bürgen  ritterlicher  herren  zuwei- 
le]i  nicht  nnwilkommen.  Sie  spielten  zum  tanz  auf,  priesen  die  gön- 
ner,  schalten  die  feinde  und  trugen  sätze  einfacher  lebensweisheit  vor, 
si(di  zum  ti'ost  oder  andern  zur  mahnung.  Dieselben  miUiseligkeiten 
und  freuden  Avie  sie,  reizten  auch  A\'alther  zum  poetischen  ausdruck 
nnd  schufen  eine  spruchdiehtung,  die,  an  geist  und  edler  kunst  Sper- 
vogel  und  Hei-gers  sänge  natürlich  Aveit  überlegen,  erst  recht  das  volle 
Aviderspiel  zu  der  sich  in  sinnen  nnd  träumen  verlierenden  über- 
scliAveuglichkeit  des  minnegesanges  ausmacht.  Gleich  dem  fahrenden 
singt  er  am  frühen  tage  seinen  morgen-  und  reisesegen  (24,  IS),  Avie 
ihrer  ans  späterer  zeit  viele  auf  uns  gekonuuen  sind,  preist  Avie  meister 
Spervogel  (MF  26,  20.  27,  12)  des  Avirtes  glück  und  klagt  die  not  des 
gastes.     Er  bittet  hier  und  bittet  dort  um  gastliche  aufnähme  oder  um 


200  STREICHEE 

lohn  für  seinen  gesang,  bei  kaiser  Otto  und  Friedrich  um  ein  lehen; 
er  dankt  dem  Bogner,  dankt  dem  Meissner  für  empfangene  gäbe  und 
jubelt  kaiser  Friedrich  dank,  als  der  ihn  belehnt.  Er  verständigt  sich 
mit  dem  herzog  von  Kärnthen,  der  ihm  mehr  versprochen,  als  er  hal- 
ten konte,  trift  mit  herbem  spotte  den  abt  von  Tegernsee,  bei  dem  er 
wenig  gastfreundlich  aufgenommen  worden  war,  verlangt  energisch  und 
selbstbewusst  lob  vom  Meissner,  den  er  zuerst  gelobt  habe:  nach  dem 
grundsatze  des  spielmanns  (MF  21,  13.  21),  dass  ein  narr  sei,  wer  dem 
kargen  manne,  da  ex,  une  Ion  helihet,  diene.  "Wie  der  bürgerliche  Sän- 
ger es  halbes  lob  nent  (MF  20,  1  —  21,  4),  wenn  einer  draussen  gibt 
und  zu  hause  geizt,  einen  toren  schilt  (21,  31),  swer  guot  vor  eren 
spart,  wie  er  (22,  5)  erklärt  swem.  daz  guot  xe  herxen  gut,  der  givmnet 
niemer  ere:  so  mahnt  "VValther  die  herren  in  Ostreich  (36,  1),  die  im 
sparen  ihrem  herzog  gefolgt  waren,  da  es  an  der  zeit  war,  nun  nach- 
dem jener  freigebig  geworden,  sein  beispiel  auch  nicht  zu  vergessen;  so 
rät  er  dem  vom  kreuzzug  zurückkehrenden  Leopold  (28,  70)  auch  daheim 
zu  sorgen,  daX'  iemaii  spraeche,  ir  soldet  sin  beliben  mit  eren  dort;  so 
lehrt  er  (103,  10):  maneger  schinet  vor  den  frömden  guot  und  hat 
doch  falschen  7nuot.  ivol  im  ze  hove,  der  heime  rehte  tuot\  so  end- 
lich singt  er  wider  und  wider  den  segen  edler  freigebigkeit.  Aber 
auch  hier  geht  Walthers  beobaclitung  vom  engen  ins  weite,  vom  eig- 
nen ins  algemeine.  Die  üblen  zelten,  da  die  (24,  10)  jungen  frecher 
Zungen  pflegent  und  schallent  tinde  scheUent  reine  froutven,  da  das 
guot  höher  gilt,  denn  ere  und  gottes  huld,  der  vater  hi  dem  kinde 
untriuwe  vindet,  der  hruoder  shiem  bruoder  liuget,  geistlich  leben  in 
kappen  triuget  (21,  34),  da  friede  und  recht  darnieder  liegen,  geivalt  vert 
üf  der  sträxe  und  untriuwe  auf  der  lauer  liegt  (8,  24),  rufen  seine  mah- 
nung  zu  strenger,  weiser  kinderzucht,  sein  gebet  an  gott  um  bessere 
söhne  für  die  schlechteren  väter  hervor.  Durch  himmelszeiclien  von 
angst  vorm  lezten  zorne  erfült,  lässt  er  sein  lautes  ml  wachet  unter 
die  schlafende  menschheit  erschallen.  Hübsch  bescheiden  und  nicht  zu 
hoch  hinaus,  ist  seine  lebensregel;  die  sechs  soll  sich  nicht  zur  sieben 
machen  wollen.  Manlichiu  tvtp,  ivipUche  man,  pfafliche  ritter,  bit- 
terliche pfaffen  sind  ihm  gleichermassen  verhasst.  Drei  dinge  machen 
die  grundlage  menschlichen  glückes  aus:  gut,  weltliche  ehre,  gottes 
huld  (83,  27.  20,  25),  eine  lehre,  aus  der  man  den  minnesänger  nicht 
mehr  erkent.  Wenn  menschenwert  in  frage  komt,  so  gilt  bei  ihm: 
armen  man  mit  guoten  sinnen  sol  man  für  den  riehen  minnen  (20,  22). 
Er  preist  den,  der  sich  selbst  zu  bezwingen  vermag  und  alliu  siniu 
lit  hl  huote  bringet;    er  wird   ein   warmer  lobredner  der  freundschaft. 


ZUK  ENTWICKKLUNÜ  DKK  MUl).  LYRIK  201 

Überall  spricht  eine  reiche  und  reife  erfahruDi;-,  der  hciiif^ste  eifer  für 
die  saclio,  der  ernst  eines  grossen,  edlen,  für  die  wahren  guter  des 
lebens  erschlossenen  geistes.  Die  schönsten  und  lebensvolstcn  erzeugnisse 
seines  geistes  aber  gelten  dem  nach  sciiKM-  schiitzung  höchsten  der  guter, 
der  irdischen  wenigstens,  seinem  seit  l<aiscr  Heinrichs  tode  von  unauf- 
hörlichem  liürgerkriegc  zerrissenen  vaterlande. 

^'on  dem  engen  halbdunkeln  gcdankenlcreise  der  minnesänger 
gieng  Walther  aus,  um  ihn  durch  (dfrige  beziehung  auf  den  hörer  und 
die  fülle  und  sinlicho  anschaulichkeit  von  dingen  und  gestalten  —  den 
eigentümlichen  Vorzug  dei'  früiiesten  epoclie  lyi'iseher  dichtung —  zu  belo- 
ben, zu  bereichei'n  und  zu  erhellen,  seine  kunst  im  bcwussten  gegeusatz 
mehr  und  mehr  aus  den  schranken  geselschafllichen  gebrauchs  zu  natür- 
lichen Verhältnissen  zurückzuführen  nnd  ihr  endlich  statt  dos  bisher 
allein  üblichen  gegenständes  neue  aus  dem  ganzen  bereich  des  sitlichen 
wie  des  politischen  lebens  zu  erschliessen. 

In  der  entwickelung  unserer  lyrik  geschah  von  Kürenbei'g  zu  den 
älteren  minnesängern  der  erste,  von  ihnen  zu  AValther  dei'  zweite 
schritt.  Es  ist  schwer  zu  sagen,  welches  der  bedeutendere  gewesen; 
aber  das  unterliegt  wol  keinem  zweifei,  (hiss  Walther  mit  den  früheren 
minnesängern  mehr  gemeinsamen  boden  luiter  den  füssen  hat,  als  diese 
mit  ihren  —  volkstündichen  —  Vorgängern. 

BERLIN.  OSKAR    STREICHER. 


KEUE  BELEGE  FÜE  DEN  GEBKALTCII  VON  TRÄTE  = 
MHD.  ENTETE  BEI  LUTHEK.i 

1)  Luther  Wider  Hans  Worst  1541  bl.  M"  (in  Knaakes  neudruck 
Halle  1880  s.  54):  „</«  riel  diugs  [unsre  gegner]  selbs  jtxt  Icveii,  das 
sie  xuuor  voxJampt,  daxu.  niclds  xu  leren  Itetten,  wenn  vnscr  Bücher 
fheften''.  Die  Braunschweiger  Volksausgabe  bd.  IV  1890  s.  312  um- 
schreibt richtig:  ^^icenn  unsere  Büclier  nicht  daicären'-'']  während  der 
sonst  in  der  litteratur  des  16.  Jahrhunderts  wol  bewanderte  pf.  Bessert 
in  seiner  besprechung  dieser  ausgäbe  im  Theol.  litt,  blatt  1891  sp.  164 
—  in  unkentnis  der  jüngst  über  diesen  Sprachgebrauch  geführten  Ver- 
handlungen —  hier  völlig  irre  geht-. 

2)  Auslegung  von  Joh.  6  —  8  (1530  fgg.)  Erlangcr  ausg.  47,  230: 
^^Denn   wo  die   Verfolgung  nicht  thüte,   so   würdert  n'ir  n'ohl  so  arg 

1)  Vgl.  diese  zeitschr.  XXIII,  41.  293.  XXIV,  41.  43.  2)  Bei  der  kovrektur 
werde  ich  gewahr,  dass  diese  stelle  inzwischen  auch  von  Köstliu  XXIV,  41  mitgeteilt  ist. 


202  KAWERAU,    Tli-iTE  =  ENTETE  BEI    LUTHER 

mid  böse  sein,  als  unser  Widersacher '•'• .  Diese  schrift  erschien  gedruckt 
zuerst  1565  im  IL  bd.  der  Eislebener  supplementbände  Aurifabers; 
das  ^^nicht'-'-  ist  vielleicht  erst  zusatz  des  bearbeiters  und  herausgebers. 
3)  Yermahnung  an  die  geistlichen,  versamlet  auf  dem  reichstag 
zu  Augsburg  1530,  Erl.  ausg.  24^  s.  362  fg.  ^^ünd  hätten  tvir  ge- 
than,  ich  sorge  ivahi'lich,  cur  Gelehrten  irären  der  Sachen  zu  schiva^h 
gewesen  — ".  Auch  hier  ist  zu  erklären:  Und  wären  wir  nicht  da 
gewesen  ■ — .  Dies  beispiel  ist  besonders  dadurch  interessant,  dass  hier 
diese  bedeutung  des  verbums  tun  mit  ausgelassener  negation,  die  in 
allen  bisher  nachgewiesenen  beispielen  nur  für  den  einfachen  conj.  prät. 
belegt  war,  auch  in  dem  conj.  der  plusquamperfectumschreibung  vor- 
komt,  die  ja  almählich  in  bestirnten  fällen  für  das  einfache  präteritum 
sich  eindrängte. 

KIEL.  G.    KAWERAU. 


EIN  BKIEF  GOTTSCHEDS  AN  DEN  KÖNIGSBEEGEE 
PEOFESSOE  FLOTTWELL. 

Auf  dem  archive  der  hiesigen,  nun  fast  ein  und  ein  halbes  Jahr- 
hundert blühenden  königlichen  deutschen  geselschaft  befinden  sich  in 
einem  fascikel  „Acta  die  vermischte  Correspondenz  der  Gesellschaft  ent- 
haltend. Vol.  I"  (von  mir  fortan  K.  Y.  C.  I.  citiert)  17  briefe  Gott- 
scheds an  den  Königsberger  professor  der  weltweisheit  und  deutschen 
beredsamkeit  Coelestin  Christian  Flottwell,  der  seit  1750  zugleich 
das  amt  eines  rektors  an  der  kathedralschule  bekleidete  und  am  2.  Ja- 
nuar 1759  starb.  Der  erste  jener  briefe  führt  das  datum  des  21.  august 
1743,  der  lezte  ist  am  19.  juli  1752  geschrieben;  mit  ausnähme  von 
dreien  gehören  sämtliche  stücke  den  jähren  1744  und  1745  an.  Dass 
diese  briefe  nur  einen  kleinen  bruchteil  einer  sehr  lebhaft  geführten 
correspondenz  darstellen,  beweisen  die  zahlreichen  schreiben  Flottwells 
—  es  sind  weit  über  hundert  — ,  die  über  fast  alle  bände  der  gewal- 
tigen, auf  der  Leipziger  Universitätsbibliothek  aufbewahrten  Gottsched- 
schen  briefsamlung  verteilt  sind.  Der  lezte  brief  von  Flottwells  band 
ist  datiert  den  20.  September  1756  und  berührt  bereits  den  einmarsch 
der  Preussen  in  Sachsen.  Mit  diesem  jähre  schliesst  überhaupt  die 
22  folianten  umfassende  Leipziger  samlung.  Dass  aber  trotz  aller  kriegs- 
unruhen  Gottsched  mit  dem  Königsberger  freunde  noch  in  fernerem 
brieflichen  verkehr  gestanden  hat,  dafür  ist  ein  Zeugnis  jenes  an  Flott- 
well gerichtete  merkwürdige  schreiben  Gottscheds  vom  22.  okt.  1757 


KRAUSE,    BEIKF   GOTTSCHEDS   AN   FLOTIWELL  203 

mit  einem  postskript  vom  1.  noveraber  über  die  widerholten  und  ein- 
g-elienden  unteiTcduiigen,  deren  ihn  könig  Friodricli  der  grosse  im 
Oktober  dieses  Jahres  wenige  tage  vor  der  schlacht  bei  Rossbach  gewür- 
digt hatte.  Dieses  hochbedeutsame  dokuraent,  welches  zuerst  in  den 
Neuen  Preussischen  provinzial- blättern  3.  folge  bd.  lY.  (Königsb.  1859) 
s.  295  —  301  nach  einer  auf  der  Stadtbibliothek  zu  Elbing  aufbewahr- 
ten, von  dem  rektor  Joli.  Lange  (f  1781)  herrührenden  kopie  zum 
abdruck  gelangte,  konte  von  mir  in  meiner  schrift  Friedrich  der  grosso 
und  die  deutsche  poesie  (Halle  188-4)  s.  87  fgg.  leider  wider  nur  nach 
jener,  einige  Schreibfehler  enthaltenden  abschrift  mitgeteilt  werden.  Yer- 
gebens  habe  ich  auf  dem  archiv  der  hiesigen  deutschen  geselschaft  und 
an  anderen  stellen  dem  original  nachgespürt. 

Flottwell,  ein  mann  ohne  geistige  Selbständigkeit  und  schriftstel- 
lerische erfindungskraft,  war  ein  unbedingter  anhänger  Gottscheds.  Sein 
evangelium  war  die  „Critische  dichtkunst",  deren  regeln  auch  in  weiteren 
kreisen  zur  geltung  zu  bringen,  er  sich  eifrigst  bemühte.  Um  in  diesem 
sinne  wii'ken  zu  können  und  um  sich  zugleich  an  der  Universität  ein 
grösseres  ansehen  zu  verschaffen,  hatte  er  noch  als  magister  legens  im 
jähre  1741  eine  deutsche  geselschaft  gestiftet,  die  seit  1743,  mit  einem 
staatlichen.  Privilegium  ausgestattet,  den  titel  einer  „königlichen"  führte. 
Flottwells  beziehungen  zu  Grottsched  waren  die  engsten.  Wol  gegen 
niemand  hat  sich  dieser  in  seinen  brieflichen  mitteilungen  so  wenig 
zwang  auferlegt,  wie  gegen  seinen  Schildknappen  in  Königsberg,  da  er 
seiner  imbedingten  ergebenheit  gewiss  war.  Andrerseits  berichtet  auch 
Flottwell  seinem  meister  und  freunde  mit  der  grössten  Offenheit,  was 
in  den  kreis  seiner  Interessen  und  sorgen  tritt;  insbesondere  versorgt 
er  ihn  aber  mit  neuigkeiten  aus  der  hauptstadt  Ostpreussens ,  die  stets 
mit  lebhafter  teilnähme  entgegengenommen  werden.  Diese  oft  sehr 
umfangreichen  berichte  gewähren  einen  tiefen  einblick  in  das  littera- 
rische und  geistige  leben,  in  die  geselschaftlichen  und  akademischen 
zustände  der  Pregelstadt.  Aus  den  briefen  Flottwells  und  denen  zahl- 
reicher anderer  Königsberger  gelehrten  und  Schöngeister  an  den  berühm- 
ten landsmann  in  Leipzig  weht  dem  leser  recht  eigentlich  die  geistige 
luft  entgegen,  welche  die  Albertina  vor  der  Kantischen  epoche  erfülte. 
Übrigens  sei  hier  noch  bemerkt,  dass  Flottwell,  was  bei  einem  gelehr- 
ten jenes  Zeitalters  gewiss  auffallen  muss,  mit  verliebe  fragen  der  hohen 
politik  berührt.  Eine  besondere  anregung  dazu  gab  ihm  wol  sein  ver- 
kehr mit  vornehmen,  im  diplomatischen  dienste  tätigen  personen. 

Als  Danzel  in  seinem  buche  „Gottsched  und  seine  zeit"  den  lit- 
terarliistorischen  schätz  hob,   der  in  dem  zu  Leipzig'  befindlichen  Gott- 


204  KRAUSE 

schedscheii  briefwechsel  ruhte,  hat  er  die  nach  Königsberg  reichenden 
beziehungen,  als  ihm  zu  fern  liegend,  nur  flüchtig  gestreift.  Gottsched 
hing  an  seiner  heimat  Ostpreussen  mit  aufrichtiger  liebe,  in  diesem 
punkte  zeigt  sich  der  sonst  so  steife  lehrmeister  bisweilen  von  einer 
menschlich  liebenswürdigen  seite^.  Auch  als  er  auf  der  höhe  seines 
ruhmes  stand,  waren  seine  gedanken  und  wünsche  dorthin  gerichtet, 
wo  seine  wiege  gestanden.  Aufs  eifrigste  war  er  bemüht,  seinem 
„vaterlande"  und  seinen  landsleuten  zu  ansehen  draussen  im  reiche  zu 
verhelfen.  Neue  nahrung  gewann  diese  anhänglichkeit ,  als  er  im  juli 
1744  die  heimatsstadt  mit  seiner  „freundin"  von  Danzig  aus  besuchte. 
Das  gelehrte  paar  genoss  damals  die  gastfreundschaft  Flottwells,  der 
mit  seiner  mutter  und  seinen  Schwestern  einen  gemeinschaftlichen  haus- 
hält hatte. 

In  Königsberg  wurden  Gottsched  und  seiner  gattin  so  viele  ehren- 
bezeugungen  und  beweise  der  freundschaft  von  seinen  landsleuten  zu 
teil,  dass  die  erinnerung  an  diesen  besuch  bei  beiden  stets  mit  dem 
gefühl  der  dankbarkeit  gepaart  blieb.  Am  10.  august  1744  schreibt 
Gottsched  unter  dem  unmittelbaren  eindruck  der  Königsberger  tage  aus 
Danzig  an  Flottwell:  „Ob  ich  übrigens  gleich  Preussen  verlassen  habe, 
so  habe  ich  doch  eine  erneuerte  und  verstärkte  Liebe  gegen  mein  Va- 
terland, und  eine  wahre  Hochachtung  gegen  den  guten  Theil  meiner 
werthesten  Landsleute  mitgenommen.  Diese  werde  ich  bis  in  mein 
Grab  zu  erhalten  wissen,  und  bey  aller  Gelegenheit  mündlich  und 
schriftlich  blicken  lassen".     (K.  V.  C.  I.) 

Andrerseits  hielten  die  Königsberger  freunde  noch  an  ihm  fest, 
als  sein  ansehen  in  Deutschland  bereits  völlig  gebrochen  und  sein 
name  den  meisten  ein  gegenständ  des  hohnes  und  der  Verachtung  ge- 
worden war.  Noch  am  20.  april  1756  versichert  Flottwell  den  Leip- 
ziger freund  seiner  unwandelbaren  treue:    „Die  jungen  herrn  hüpfen 

1)  Man  vergleiche  aus  seinen  gedichten  z.  b.  die  1728  seinem  vater  zum  60. 
gebui-tstage  übersante  ekloge  (abgedruckt  in  der  Grit,  dichttimst^  s.  407),  in  welcher 
der  durch  ein   „seltnes   Schicksal"   in   „Sachsens  Paradies,   das  fette  Meissnerland " 
gebrachte  fi'emde  hirt  Prutenio  in  folgenden  „strengen  Seufzern"  sich  ergeht: 
0  dass  mich  doch  kein  Wind  nur  einen  halben  Tag 
Zu  dieser  Hiilen  Zahl  in  Preussen  führen  mag! 
Wie  munter  würde  da  mein  treues  Herze  springen! 
Wie  würde  mir  die  Lust  durch  Mark  und  Adern  dringen! 
Wie  eifrig  wollt'  ich  da  durch  alle  Hütten  gehn 
Und  mündlich  überall  die  Gunst  und  Huld  erhöhn, 
Die  mir  vor  hunderten,  die  meines  Gleichen  waren, 
In  Proben  mancher  Art,  zehn  Jahre  wiederfahi'en.  0.  E. 


BRIEF    GOTTSrHEDS    AN    FLOTTWELL  205 

zwar  um  uns  ältere  herum,  wie  die  Spechte.  Sie  verfolgen  uns  mit 
Neid,  mit  Spott,  mit  neuen  Gedanken;  und  Gott  weiss,  dass  so  wie 
aus  der  Jurisprudenz  in  Preussen,  so  besonders  nunmehr  aus  der  gan- 
zen Philosophie  eine  wächserne  Nase  gemacht  wird  . . .  Wer  nun  weder 
Zeit,  noch  Jahre,  noch  lust  hat,  diese  Tändeleien  zu  erforschen,  der 
heist  ein  Ignorant.  Und  dennoch  bleibts  daboy:  Dieses  ist  die  beste 
Welt.  Bleiben  Sie  nur  mein  alter  Gönner  und  Vertheidiger,  so  soll 
mir  diese  obgleich  unter  Arbeiten  u.  Ketten  saure  Welt  allezeit  die 
beste  bleiben".  (Gottschedsche  briefsamlung  in  Leipzig  bd.  XXI.  Ich 
bezeichne  sie  fortan  mit  L.)  Auch  in  der  deutschen  geselschaft  blieb 
Gottscheds  einfluss  im  ganzen  bestehen,  so  lange  Flottwell  ihr  als  direk- 
ter vorstand  (bis  zum  Januar  1758).  Yergebens  hatten  sich  einige  mit- 
glieder  bemüht,  einen  neuen  geist  einzuführen. 

Um  eine  probe  der  zwischen  Gottsched  und  Flottwell  geführten 
correspoudenz  zu  geben,  teile  ich  das  lezte  jener  17  auf  dem  archiv 
der  hiesigen  deutschen  geselschaft  erhaltenen  schreiben  Gottscheds  mit. 
Es  ist  vom  19.  juli  1752  und  eignet  sich  besonders  zur  Veröffentlichung, 
weil  es  einen  in  sich  geschlossenen  Inhalt  bietet.  Es  betrift  nämlich 
die  bekante  dichterkrönung  des  baron  von  Schönäich,  dessen  im  jähre 
1751  erschienenes  plattes  epos  „Hermann,  oder  das  befreyte  Deutsch- 
land" von  Gottsched  ausersehen  war,  den  Messias  Klopstocks  zu  ver- 
drängen. Der  brief,  am  tage  nach  der  feier  verfasst,  ist  ein  unmittel- 
barer gefühlserguss  des  krampfhaft  nach  einer  stütze  suchenden  diktators 
und  darum  von  eigenartiger  Wirkung.  Er  ergänzt  mehrfach  die  dar- 
stellung  des  aktes  im  „Neuesten  aus  der  anmuthigen  Gelehrsamkeit" 
IL  bd.  (1752)  s.  627  —  630. 

Hochedelgebohrner  und  Hochgel.  insonders  hochzuehr.  HE.  Professor 
sehr  werther  Herr  Gevatter  ^ 
Nun  muss  ich  E.  H.  eine  entsetzliche,  merkwürdige,  erstaunliche 
und  so  lange  Leipzig  eine  Universität  ist,  d.  i.  343  Jahre  her,  uner- 
hörte Neuigkeit  berichten,  die  sich  kein  Mensch  noch  vor  drey  Wochen, 
oder  14  Tagen  so  arg  träumen  lassen,  und  die  ich  dennoch  zum  Yer- 
gnügen  der  Stadt  und  aller  Wohlgesinneten  glücklich  ausgeführet  habe. 
Was  meynen  Sie  wohl?  Ich  habe  was  gethan,  das  noch  keiner  vor 
mir  in  Leipzig  gethan  hat:  und  Salomon  mag  sagen  was  er  will,  so 
ist  doch  gestern  was  Neues  unter  der  Sonnen  geschehen.  Kurz  und 
rund,  ich  habe  einen  Poeten  gekrönet  und  zwar  öffentlich,  prächtig, 
mit  vielen  Solennitäten,  und  Anstalten,  ja  cum  paucis  et  Trompetis, 
dass  die  ganze  Stadt  dabey  rege  geworden  ist.     Und  nun  rathen  Sie 


206  KRAUSK 

einmal,  wen?  Ich  weis  nicht,  werden  Sie  sagen.  Aber  Sie  kennen 
ihn,  und  er  geht  ihnen  so  nahe  an,  dass  Sie  mir  dafür  danken  müs- 
sen. Ich?  Ja  freylich  Sie,  nebst  der  ganzen  kön.  D.  Gesellschaft: 
Denn  es  es  {sie!)  ihr  Mitglied,  ihr  Ehrenglied,  ihre  Zierde  und  Krone, 
der  HE.  Baron  von  Schönäich!'^ 

Da  haben  Sie  nun  die  kurze  Geschichte:  mehr  werden  Sie  aus 
meiner  Einladungsschrift,  Rede,  und  den  Gedichten  vernehmen,  die 
nun  zusammengedrucket,  und  mit  einer  kleinen  Erzählung  begleitet 
werden  sollen^.  Nur  eins  müssen  Sie  noch  wissen.  Es  war  gestern 
der  hohe  Geburtstag  unsrer  Königi.  Clmr-Prinzessinn,  einer  grossen 
Beschützerion  der  Musen,  ja  der  zehnten  Muse  selbst ''^.  An  diesem 
Tage  nun,  kam  alles  was  von  unsrer  Generalität,  von  Hof  und  Kam- 
merräthen  u.  s.  w.  galant  seyn  wollte,  ins  philosoph.  Auditor:  und  die 
Menge  der  Zuhöhrcr  von  allen  Facultäten,  sonderl.  der  Studenten  war 
so  gross,  als  hie  noch  nie,  weder  bey  Magister  Promotionen,  noch  bey 
der  Buchdrucker  Jubelrede  1740.  so  gross  gewesen.  Ein  junger  Baron 
Seckendorf,  ein  Neffe  des  Eeldmarschalls  Grafen  von  Seckendorf,  der 
ihn  studiren  lässt,  und  in  meine  Aufsicht  gegeben,  vertrat  des  abwesen- 
den Dichters  Stelle,  und  las  nicht  nur  seine  Danksagungsode  ab,  son- 
dern sagte  auch  auswendig  einen  Glückwunsch  an  denselben  auf  der 
obern  Catheder,  mit  guter  Parrhesie  her*^.  Kurz  mein  ganzer  Actus, 
ist,  ringentibus  licet  collegis  quibusdam  paucioribus,  et  multa  mala  ex 
parte  Studiosorum  minantibus,  mit  der  grössten  Stille,  Aufmerksamkeit 
und  Ordnung  vorgegangen*^;  so  dass  sie  nunmehr  alle  beschämt  sind, 
und  sich  ärgern.  Sonderl.  war  mir  der  itzige  Rector  Prof.  Christ,  Prof. 
Poes,  zuwider^;  hauptsächl.  weil  er  in  der  Facultät.  da  ich  es  als 
Decanus  vortrug,  nicht  zugegen  war,  und  ob  er  gl.  Prof.  Poes,  ist, 
um  die  Krönung  eines  Dichters  nicht  eher  was  gewusst,  als  bis  ich 
schon  die  Anstalten  dazu  machete.  Hier  half  nun  sein  Einwenden 
nichts:  ich  hatte  die  Pluralität,  ja,  ausser  iluu,  die  Einhälligkeit,  und 
liess  mich  nichts  irren,  obgleich  noch  Sonntags  vorher,  der  Senior 
Facultatis  durch  ihn  auch  furchtsam  ward,  und  mirs  rieth  die  Sache 
8.  Tage  zu  verschieben,  bis  man  aus  Dresden  vom  Ober  Consist.  Ant- 
wort einholen  könnte.  Allein  ich  gab  nicht  nach,  weil  ich  es  für 
lächerlich  hielt  anzufragen,  ob  wir  etwas  thun  dörften,  wozu  uns  der 
König  selbst  als  Vicarius  Imperii,  1741.  die  Kaiserl.  Vollmacht  gege- 
ben hatte ''^.  Die  AVahrheit  zu  sagen:  so  war  dieses  von  uns,  auf  mei- 
nen Antrag,  als  ich  auch  Decanus  war,  gesuchet  worden'^  und  nun 
habe  ich  auch  in  der  Krönung  selbst  die  Jungferschaft  dieses  Rechtes 
davon  getragen. 


BIUKF    GOTTSCirEDS    AN    KI.dTTWELT,  207 

Da  nun  diese  f^-anze  Sache  der  Von.  1).  Ges.  /n  Kön.  liaupts.  mit 
zu  Ehren  gereicht;  da  der  Baron  iiir  Khrc  machet,  und  noch  ferner 
machen  wird,  da  er  sie  so  scIk'Ui  beschenlcet  hat^":  so  wäre  es  wohl 
nicht  unrecht,  wenn  man  ihm  einen  (üiickw.  im  Namen  dei-  Kön. 
(ies(>llschaft  iibei'schiekte.  den  icli  mit  /u  (h'i'  Samndung  köimte  (h-ucken 
hissen.  Dieses  ist  die  Haupt  Absicht  meines  Briefes,  den  K.  II.  geneigt 
zur  Kiiülhing  zu  hringen  bedaclit  se\  n  werch'ii:  und  zwar  je  elu.M-,  je 
lieber,  demi  die  kleine  Sammhing  muss  hier  innerhalb  1  Wochen  fer- 
tig sevn".  Man  kann  unmaassgeblich  darinn  darauf  dringen,  dass 
Lorberki'än/e  sonst  von  Kaisern  mit  eigener  Hand  gegeben  woi'den, 
und  im  griissten  Ansehn  g(>stan(len.  Nachmals  hätten  die  Comites  I?a- 
latiiii  sie  zwar  durch  den  3Iisbrauch  vei'ächtlich  gemachet*.  Daher  die 
Fürsten  sie  ganzen  Corporibus  zu  verwalten  aufgetragen  hätten:  wie 
denn  die  Phil.  Fac  zu  Wittenb.  unter  unseres  sei.  Krmiges  Vicariate  es 
erhalten,  in  (idttingen  aber  die  ganze  Universität  es  erhalten,  und 
selbst  vor  2  Jahren  in  Gegen Avart  des  Königes  ausgcübet.  Aber  mit 
solcher  Anstalt  und  Herrlichkeit  als  wir  es  gemachet,  pro  diguitate  et 
antiquitate  Academiae  nostrae,  ist  es  noch  nirgends  geschehen  i*.  Ma- 
chen Sie  doch  dem  würdigen  HEn  Präsidenten  i''  ihrer  Gesellsch.  und 
allen  Mitgliedern  meine  Empfehlung.  Versichern  Sie  HEn.  D.  Hart- 
mannen meiner  Ergebenheit,  mit  dem  Vermelden,  dass  ich  noch  nichts 
gewisses  von  der  Verkaufung  des  Cabinettes  sagen  kann,  aber  noch 
immer  Hoffnung  bekomme,  es  anzubringen i''.  Man  imiss  der  grossen 
Herrn  ihre  gute  Stunde  erAvarten:  denn  bisAveilen  ist  es  ein  blosser 
Eigensinn,  wenn  sie  was  thun.  das  gut  und  klug  ist. 

An  die  wertheste  Fr.  Gevatterinn,  und  mein  liebes  Pathchen  bitte 
ich  mich  ergebenst  zu  empfehlen  i'.  Die  wertheste  Mama,  und  Frau 
Schwester,  nebst  dem  HEn  Bruder  finden  hier  auch  von  mir  und  mei- 
ner Lieben,  die  das  kalte  Fieber  gestern  zum  dritten  male  gehabt,  die 
Versicherungen,  von  unsrer  Hochschätzung ^*:  ein  gleiches  ergebt,  an 
das  vornehme  Sahmische  ^■'  und  Lestockische  Haus-*^'.  Auf  mein  neu- 
liches ])itte  ich  mir  auch  Antwort  aus'-i.  Alle  Ihre  Mitglieder  seuf- 
zen nach  Antworten,  und  dem  Drucke  Ihrer  Schriften.  "Wie?  AVenn 
die  Gesellschaft  vierteljidnig  kleine  Sammlungen  von  0.  Bogen  her- 
ausgäbe. So  käme  jährlich  ein  Bändchen  vom  Alphabethe  auf  unsre 
Messe  --. 

*)  Dalier  hätte  ick  beynali  gestern,  (wii'  IIE.  D.Qu.'-  bey  der  Introductioii  des 
n.  Lysius  Seu.  im  Lübeiii(^ht) '•'  das  Lied  siiigeu  lassen:  O  Herre  Gott  Dein  güttl. 
Wort  ist  lang  usw. 


208 


Ich  bin,  und  beharre  aufrichtigst 


E.  Hochedelgeb. 
Meines  hochgeschätzten  Herrn  Gevatters 
Leipz.  d.  19  Jul.  treuergeb.  Diener 

1752.  Gottsched. 

NB.  Die  gestr.  Solennität  kostet  über  30  Thl.  und  kostet  dem 
Bar.  keinen  Pfennig.  Die  Facult.  thut  es  theils  gratis,  theils  trage  icli, 
theils  Breitkopf^^. 

P.  S.  Machen  Sie  doch  an  den  würdigen  Übersetzer  meiner  Rede 
von  Wien  einen  ergeh.  Empfehl.  Ich  verdiene  die  Ehre  nicht,  die  er 
mir  gethan;  ich  habe  aber  die  Zeit  noch  nicht  gehabt  sie  ein  wenig 
zu  übersehen.     Ehestens  antworte  ich  ihm  selbst  mich  zu  bedanken  ^'t. 

Aumerkung'eu. 

1)  Gottsched  war  pate  der  tochter  Flottwells,  Johanna  Cölestiue,  die  ihm, 
nachdem  er  sich  im  jähre  1746  mit  jiTiigfer  Maria  Lovisa  Lübekin  vermählt  hatte, 
1749  geboren  war.  In  einem  briefe  vom  25.  sept.  1749  teilt  er  Gottsched  dieses 
ereignis  mit  und  fügt  folgende  werte  hinzH:  „2  Tage  darauf  [nach  der  geburt]  nahm 
ich  mir  die  freyheit  in  das  Taufbuch  nebst  rmseren  HErrn  Ober  Marschall  [d.  i. 
Johann  Ernst  von  Wallenrodt,  geh.  etats-  und  triegsminister  und  obermarschall,  von 
1743  bis  1766  protektor  der  deutschen  geselschaft]  und  Oberhofprediger  [d.  i.  D.  Jo- 
hann Jacob  Qvandt,  1743  — 1772  präsident  desselben  Vereins,  s.  unten  anm.  12]  als 
zweenen  gegenwärtigen  Johannes,  den  dritten  in  der  Person  E.  M.  aufzeichnen  zu 
laßen,  und  meine  Tochter  wurde  Johamia  Cölestina  getaufet".     (L.  XIV.  bd.) 

2)  Schönäich  war  auf  anregung  Gottscheds  am  13.  april  1751  zum  ehrenmit- 
gliede  der  geselschaft  ernant  worden.  Von  seiner  hand  finden  sich  auf  dem  archiv 
derselben  vier  an  Flottwell  gerichtete  briefe  aus  den  jähren  1751  und  1752  (K.  V. 
C.  I)  sowie  eine  dichtung  „Friederich  Wilhelm",  welche  in  Königsberg  zimi  druck 
befördert  werden  solle.  Schönäich  feiert  darin  den  haushälterischen  und  tätigen  könig 
Friedrich  AVilhelm  I.  und  stell  diesem  den  ersten  preussischen  könig  gegenüber,  des- 
sen Verschwendung  und  eitelkeit  er  in  der  weise  der  Memoires  de  Brandenbourg 
scharf  tadelt.  Flottwell  konte  für  dies  poetische  machwerk  in  Königsberg  nicht  ceu- 
sui"  erhalten  und  schickte  es  an  die  Berliner  akademie  der  Wissenschaften.  „  AUein 
Mons.  Pelloutier  (der  bibliothekar  der  akademie)  antwortete  mir:  er  glaubte,  die  Ge- 
sellschaft wolle  die  Acad.  in  Versuchung  führen,  daß  sie  auf  den  Grosvater  ihres 
Stifters  gesalzene  Asche  streuen  wolle:  die  Memoires  wären  du  main  de  Maitre  und 
Keiner  würde  an  eine  Censur  denken  wenn  das  nicht  wäre".  (Brief  Flottwells  an 
Gottsch.  26.  dec.  1752.     L.  XVII.  bd.) 

3)  Noch  im  jähre  1752  erschien  bei  B.  Chr.  Breitkopf  in  Leipzig  „Der  Lor- 
berkranz,  welclien  der  Hoch-  und  Wohlgebohrne  Herr,  Herr  Christoph  Otto,  des 
H.  E.  R.  Freyherr  von  Schönäich,  von  E.  lubl.  philosophischen  Facultät  zu  Leipzig 
feyerlichst  erhalten  hat".  4"  (von  J.  J.  Schwabe).  Der  Inhalt  dieser  samlung  ist 
folgender:  1.  Die  lateinische  cinladungsschrift  Gottscheds,  des  damaligen  decans  der 
philosophischen  fakiütät,  vom  16.  juli  nebst  der  deutschen  Übersetzung.  Gottsched  gibt 
mit  aufwand  grosser  gelehrsamkeit  eine  geschichte  der  dichterkrönungen  und  teilt  das 


BRIKF    GOTTSCHEDS   AN   FLOTTWELL  209 

diplom  mit,  durch  welches  köuig  und  kurfiust  Friedrich  August  als  reichsvicar  am 
28.  december  1741  „dem  iihilosophischeii  Orden  zu  Leipzig"  die  volmacht  erteilt 
„geschickte  und  in  der  Poesie  vortreffliche  Personen  .  .  durcli  Aufsetzung  des  Lor- 
berki-anzes  und  Uebergebung  des  Ringes  zu  gekrönten  Dichtern  zu  machen  und  zu 
erklären"  (s.  41).  Elf  jähre  habe  das  recht  geruht;  da  sei  der  freiherr  von  Schönäich 
wegen  seines  heldcngedichts  Ilermann,  das  Gottsched  Tassos  befreitem  Jerusalem  und 
Voltaires  Heiiriade  an  die  seite  stelt,  von  der  fakultüt  des  lorbeers  für  würdig  befun- 
den worden.  2.  Die  von  Gottsched  bei  der  feier  am  18.  jiüi  gehaltene  rede,  latei- 
nisch und  deutsch.  Hierin  sucht  Gottsched  die  behauptung  zu  erweisen,  „daß  unsere 
Muttersprache  mit  Recht  unter  die  gelehi-ten  Sprachen  zu  zählen,  und  wo  nicht  für 
gelehrter,  doch  gewiss  für  eben  so  gelehrt  zu  achten  sey,  als  die  griechische  zu 
Alexanders,  und  die  römische  zu  Kaisers  Augusts  Zeiten  gewesen"  (s.  68).  Zum 
schluss  ruft  er  den  baron  v.  Schönäich  feierlich  „zu  einem  kaiserlich  gekrönten  Poe- 
ten" aus.  3.  Vier  auf  die  feier  bezügliche  gedichte,  deren  erstes  die  „Dauksagungs- 
Ode  des  neugekrönten  Dichters"  ist,  ein  herzlich  schwaches  poem. 

Im  Neuesten  aus  der  anmutigen  gelehrsamkeit  1753  s.  46  —  57  erschien  eine 
inhaltsangabe  jener  festsamlung  und  s.  57  —  50  zu  ehren  des  gekrönten  barons  eine 
lateinische  ode  von  D.  Erdm.  Kupitz.  Im  2.  bände  derselben  Zeitschrift  (1752)  findet 
sich  s.  627  —  30  der  bericht  „Zuverläßige  Nachricht  von  der  den  18ten  des  Heumo- 
uaths  geschehenen  ersten  poetischen  Krönung  in  Leipzig".  Schönäich  (f  1807)  erlebte 
es  noch,  dass  das  fünfzigjälmge  andenken  dieser  ki'önung  im  jähre  1802  zu  Leipzig 
feierlich  erneuert  wurde  (K.  H.  Jördens  Lexikon  deutscher  dichter  und  prosaisten, 
4.  bd.  s.  607  —  8  anm.). 

4)  Das  lob,  welches  Gottsched  hier  imd  an  anderen  stellen  dieser  fürstin  spen- 
det, war  keine  servile  Schmeichelei.  Maria  Antonia  "Walpurgis,  eine  tochter  des  kai- 
sers  Karl  VII.,  geb.  am  18.  juH  1724  in  München,  seit  dem  jähre  1747  mit  dem 
edlen  sächsischen  kurprinzen  Friedrich  Christian  vermählt,  war  eine  ausserordentliche, 
von  den  Zeitgenossen  viel  bewunderte  fimi.  An  ihr  fanden  künste  und  Wissenschaf- 
ten eine  eifrige  gönnerin,  ja  sie  trat  auf  dem  gebiete  der  musik  und  dichtkunst  mit 
eigenen  erzeugnissen  hervor,  so  dass  die  arkadische  schäfergeselschaft  zu  Rom  sie 
unter  ihre  mitglieder  aufnahm.  Daneben  zeigte  sie  für  Staatsgeschäfte  Verständ- 
nis und  geschick  und  hat  in  der  politischen  geschichte  Sachsens  eine  nicht  unbe- 
deutende rolle  gespielt.  Gottsched  ha,t  sich  um  die  gunst  der  kiu-prmzessiu  und 
ihres  gemahls  durch  überreichmig  von  büchern  und  gedichten  unausgesezt  bemüht 
und  sah  diese  bemühungen  von  erfolg  gekrönt.  Vgl.  Danzel,  Gottsched  und  seine  zeit 
s.  314  fgg. 

5)  Das  glückwmischgedicht  des  barons  von  Seckendorf  (in  der  festschriftensam- 
lung  „Der  lorberkranz"  s.  98  — 101)  feiert  zum  schluss  nach  Gottscheds  anweisung  die 
kurpriuzessin : 

„Doch,  welch  ein  lichter  Glanz  umgiebt  mich  auf  einmal? 

Mich  dünkt,  Minerva  selbst  erhellet  diesen  Saal! 

Es  ist  was  göttliches,  und  streuet  Licht  und  Schimmer: 

Antonia  erscheint,  der  Preis  von  Frauenzimmer!"  usw. 
Der  grund,  weshalb  der  dichter  des  Hermann  nicht  persönlich  in  Leipzig 
anwesend  war  um  die  ihm  zugedachten  ehren  entgegenzunehmen,  lag  an  der  eigen- 
tümlich kläglichen  Stellung,  die  ihm  von  seinen  eigensüchtigen  und  launenhaften 
eitern  zugewiesen  wui'de.  Er  wurde  wie  ein  unmündiger  knabe  behandelt  und  in 
a!len  seinen  schritten  überwacht,  so  dass  er  an  eine  reise  nach  Leipzig  nicht  zu  den- 

ZEITSCHKIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXIV.  l'l 


210  KRAUSE 

ken  wagte.  In  seinen  briofen  an  Gottsched  gibt  er  bisweilen  seinem  Unwillen  über 
die  luiwürdige  behandlung  bitteren  ausdruck.  Vgl.  Danzcl  a.  a.  o.  s.  377.  378. 
379.   381. 

6)  Li  dem  dem  Neuesten  aus  der  anmuthigen  gelehrsamkeit  1752  eingefügten 
festberichte  heisst  es  auf  s.  630:  „Die  ganze  feyerliche  Ceremonie  ist  mit  der  schön- 
sten Ordnung,  bey  ungemeiner  Stille  und  Aufmerksamkeit  einer  unzählbaren  Menge 
von  Zuhörern,  darunter  einige  vor  großer  Hitze  fast  in  Ohnmacht  gesunken,  voll- 
zogen worden,  und  hat  beynahe  zwo  Stunden  gewähret". 

7)  Johann  Friedrich  Christ  (1700  — 1756),  besonders  bekant  durch  seine  lei- 
stungen  auf  dem  gebiete  der  archäologie,  bekleidete  seit  1739  die  ordentliche  profes- 
sur  der  dichtkunst  an  der  Leipziger  Universität. 

8)  Vergleiche  anm.  3. 

9)  Davon  steht  in  den  für  die  öffentlichkeit  berechneten  berichten  nichts. 

10)  Da  nach  den  gesetzen  der  Königsberger  deutschen  geselschaft  die  Membra 
honoraria  verpflichtet  waren,  „ein  schönes  zui'  deutschen  Sprache  gehöriges  Buch  zur 
Geselschafts  Bibliothec  einzuliefern",  so  hatte  Schönäich  Chr.  G.  Jöchers  Allgemeines 
gelehrten -lexikon  (4  bände  in  4".  Leipzig  1750  —  51)  eingesant.  Dies  „prächtige 
Geschenk"  wurde  am  22.  april  1752  der  geselschaft  von  ihrem  direkter  übergeben 
(protokoU).  Noch  heute  steht  das  schöiie,  in  braunes  leder  gebundene  exemplar  in 
der  geselschafts  -  bibliothek. 

11)  Dieser  aufforderung  wurde  sofort  entsprochen.  Schon  am  7.  august  mel- 
det Flottwell:  „Ich  eyle  gehorsam  zu  seyn  und  die  freude  der  Gesellsch.  in  beylie- 
gendcm  gedieht  zu  bezeugen".  (L.  bd.  XVII.)  Der  „Glückwunsch  der  königl.  deut- 
scheu Gesellschaft  zu  Königsberg  an  den  Freyherrn  von  Schönäich  als  ihr  werthestes 
Ehrenglied"  ist  der  samlung  „Der  Lorberki-anz "  iisw.  eingefügt  (s.  102  — 104)  und 
findet  sich  wider  in  „Der  Kömglichen  deutschen  Gesellschaft  in  Königsberg  Eigene 
Schriften".  Erste  samlung.  Königsberg  1754.  S.  368  —  71.  Der  titel  des  gedichts 
stamt  von  Gottsched.  Das  gedieht  erhebt  sich  in  nichts  über  den  durchschnitt  der 
poetischen  macliwerke,  welche  aus  dem  kreise  der  Gottschedianer  hervorgiengen. 
Hier  mögen  die  lezten,  in  eine  ahnungsvolle  hofnung  ausklingenden  verse  stehen: 

„Die  Muse  feure  dich,  gekrönter  Dichter,  an. 

Schwing  dich  noch  hoher  auf,  so  hoch,  als  Marc  kann. 
Dein  seltnes  Beyspiel  wird  noch  manchen  Geist  entzünden. 
Und  Leipzigs  weise  Hand  mehr  Lorberzweige  winden. 
Sagt,  späte  Zeiten!  ihm  dafür  den  ächten  Dank! 
Sein  blühender  Parnaß  erhöh  der  Dichter  Rang. 
Der  edelste  Geschmack  wird  ferner  sich  verbreiten. 
Wer  weis,  was  bald  geschieht?  =  =  =  Auf,  schafft  uns 

neue  Seyten!" 
Der  Verfasser  war  der  senior  der  geselschaft,  M.  Johann  Gotthelf  Lindner,  spä- 
ter rektor  in  Eiga.    Er  kehrte  im  jähre  1765  als  professor  der  dichtkmist  nach  Königs- 
berg zurück  und  eröfnete  am  25.  Januar  1766  die  seit  1758  infolge  der  russischen 
occupation  aufgehobene  geselschaft  als  deren  direktor  wider.     (Protokoll  der  ges.) 

12)  Gemeint  ist  D.  Johann  Jacob  Qvandt,  preussischer  oberhofprediger 
und  erster  professor  der  theologie  zu  Königsberg,  geb.  1686,  f  1772.  Er  war  Prä- 
sident der  deutschen  geselschaft  und  mit  Gottsched  schon  von  dessen  Königsberger 
zeit  her  bekant  und  befreundet.  Er  wurde  von  seinen  Zeitgenossen  als  kanzelredner 
viel  bewundert,    besonders,    weil  er  sich  bemülite,    in  einem  reinen  und  fliessenden 


BRIEF    GOTTSCHEDS    AN   FLOTTWELL  211 

deutsch  zu  predigen.  Friedrich  IT.  erklärte  ihn  noch  1781  für  den  einzigen  redner 
Deutsehlands.  Vgl.  L.  E.  Borowski,  Biographische  nachrichten  von  dem  denk- 
würdigen preussischcu  thcologen  D.  Johann  Jacob  Qvandt  usw.  Königsberg  1794. 
G.  Krause,  Friedrich  d.  Gr.  und  die  deutsche  poesio  s.  96. 

1.3)  In  der  ersten  hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  lebten  in  Königsberg  zwei 
thcologen  namens  Lysius,  vater  und  söhn.  Der  ältere,  D.  Heinrich  L.  (1670  — 1731), 
wurde  im  Jahre  1721  theologus  primarius  an  der  Albertina  und  erhielt  zugleich  das 
pfai-ramt  der  Löbenichtschen  kirche;  vgl.  D.  IT.  Arnoidts  Historie  der  Königsbergischen 
Universität.  IL  teil.  (Künigsb.  i.  Dr.  1746)  s.  168.  Über  des  Lysius  theologische 
Streitigkeiten  s.  Arnoidts  Kirchengcschichte  des  köuigreichs  Preussen  (Königsberg 
1769)  VIII.  buch.  13.  kapitel.  Wenn  Flottwell  am  7.  august  1752  nach  Leipzig 
schreibt:  (D.  Qvandt)  „hat  ihr  Gedächtniß  recht  bewundert,  daß  Sie  noch  an  Lysii 
Einführmig  gedenken"  (L.  bd.  XVII),  so  wird  man  das  in-stauneu  des  oberhofpredi- 
gers  über  Gottscheds  gutes  gedächtnis  gerechtfertigt  finden. 

14)  Diesen  anweisungen  Gottscheds  in  bezug  auf  den  Inhalt  des  glückwunsch- 
gedichtes  haben  die  Königsberger  nicht  entsprochen.  Das  von  M.  Liudner  verfasste 
gedieht  ergellt  sich  in  mehr  algemeinen  redewendungen  zum  preise  Schönäichs  und 
seines  Aristarchs.  In  jenem  bereits  angeführten  schreiben  Flottwells  vom  7.  august 
17,52  (L.  XVII.  bd.)  heisst  es:  „hätten  wir  mehr  Zeit  gehabt,  so  hätten  wir  eine 
kleine  historie  der  Preuß.  gekrönten  Dichter  hinzugefügt;  doch  dieses  bleibt  auf  eine 
andre  Zeit  ausgesetzt".  In  der  1754  herausgegebenen  ersten  Samlung  eigener  Schrif- 
ten hat  die  geselschaft  dies  versprechen  eingelöst;  hier  findet  sich  s.  372  —  402  ein 
stück  „Kurzgefaßte  Nachricht  von  den  gekrönten  Poeten  in  Preußen". 

15)  D.  Qvandt. 

16)  D.  Melchior  Philipp  Hartmann,  professor  primarius  der  medicin  an  der 
Kömgsberger  Universität,  geb.  1685,  -f-1765,  war  hausarzt  der  alten  mutter  Gottscheds 
und  der  Flottwellschen  familie.  Er  war  im  besitz  kostbarer  samlungen  „von  Müntzen, 
Naturalien,  Börnstein  und  andern  curiosis  in  Auatomicis  und  Botanicis",  die  zum  teil 
noch  von  seinem  vater,  dem  1707  verstorbeneu  professor  der  medicin  Philipp  Jacob  H. 
stamten.  Pekuniäre  Verhältnisse  hatten  M.  Ph.  Hartmann  genötigt,  so  schwer  es 
ihm  ankam,  an  den  verkauf  der  ausserordenthcli  wertvollen  und  mit  grossen  kosten 
und  mühen  zusammengebrachten  samlungen  zu  denken,  und  er  hatte  sich,  da  Gott- 
sched so  viele  vornehme  bekantschaften  besass,  an  diesen  mit  der  bitte  gewant,  den 
verkauf  zu  vermitteln.  Diese  angelegenheit  durchzieht  seit  dem  jahi"e  1745  immer 
wider  die  briefe  Flottwells  an  Gottsched,  bisweilen  stelt  sich  auch  Hartmann  selbst  mit 
einem  schreiben  ein.  Trotz  aller  bemühungen  und  ti'otzdem  im  Neuen  büchersaal 
der  schönen  Wissenschaften  u.  freyen  künste  IX.  bd.  (1750)  s.  362  —  368  eine  „Nach- 
richt" von  diesen  samlungen  erschien,  gelang  es  Gottsched  nicht,  den  wünsch  des 
„preussischen  Galens"  zu  erfüllen.  Da  verkaufte  im  jähre  1754  Hartmann  selbst  sein 
bernstein  -  kabinet  für  800  taler  nach  England  (br.  Flottwells  an  Gottsched  25.  juni 
1754  L.  XIX.  bd.)  und  im  folgenden  jähre  das  münz -kabinet  und  die  uaturaliensam- 
lung-  nach  Petersburg  (br.  Flottwells  an  Gottsched  25.  nov.  1755  L.  XX.  bd.).  In 
I).  H.  Arnoidts  Fortgesezte  zusätze  zu  seiner  histoiie  der  Königsbergschen  Universität 
usw.  (Königsberg  1769)  findet  sich  auf  s.  13  bei  der  erwähnung  der  Hartmannschen 
samlungen  bemerkt,  dass  die  naturalien  an  die  akademie  in  Moskau  verkauft  seien. 

17)  Vergleiche  anm.  1. 

18)  Vgl.  s.  204.  Von  den  beiden  Schwestern  Flottwells  w^ar  die  eine  im  anfange 
des  Jahres  1749  gestorben,    die  andere  hatte  sich   in  eben  demselben  jähre  mit  dem 

14* 


212  KRAÜSK 

„Köü.  Eatli  liofgerichts  Secret.  u.  Botheumoister  Saud"  vermählt.  Über  die  lebeos- 
stellung  seines  bruders,  der  Theodor  hiess,  habe  ich  nichts  genaueres  ermitteln  kön- 
nen, obgleich  er  auch  sonst  in  dem  briefwechsel  zwischen  Gottsched  und  Flottwell 
erwähnt  wird. 

19)  Reinhold  Friedrich  von  Sahme  (1682  —  1753)  gehörte  seit  dem  jähre  1751 
dem  neuerrichteten  perpetuii'üchen  tribunal-  und  pupillencoUegium  an,  nachdem  er 
vorher  erster  professor  der  juristischen  fakultät  und  direkter  und  kanzler  der  Univer- 
sität gewesen.  Er  hatte  sich  des  Vertrauens  von  drei  preussischen  königen  zu  erfreuen 
gehabt  und  wichtige  und  verantwortungsvolle  ämter  bekleidet.  Eine  reihe  juristischer 
Schriften  ist  von  ihm  verfasst  worden.  Sein  haus  und  das  des  professor  Hartmann 
hatte  sich  Gottsched  und  dessen  gattin  bei  ihrem  besuche  in  Königsberg  im  jähre 
1744  besonders  freundlich  erwiesen.  In  beiden  familien  muss  ein  anregender,  geistig 
gehobener  ton  geherscht  haben.  In  beiden  bildeten  anmutsvolle,  höheren  geistigen 
bestrebungen  zugängliche  töchter  die  hauptzierde.  Frau  Gottsched  hatte  sich  dersel- 
ben bei  ihrer  anweseuheit  in  Königsberg  mit  besonderer  teilnähme  angenommen,  was 
ihr  durch  eine  schwärmerische  Verehrung  vergolten  wurde.  Die  vornehmen  fräulein 
hatten  eine  art  akademie  gebildet  und  lagen  aufs  eifrigste  der  musik  und  der  dicht- 
kunst  ob.  Flottwell  hatte  als  ein  berufener  Apollo  diese  lieblichen  museu  geleitet, 
bis  Hymens  band  den  bund  nach  und  "nach  auflöste. 

20)  D.  Johann  Ludwig  L'Estocq  (1712  — 1779),  krieges-  und  Stadtrat,  profes- 
sor der  rechte  und  ehrenmitglied  der  Königsberger  deutschen  geselschaft.  Er  war 
seit  1745  mit  „Maria  Eleonora  Hintzin  verwittibte  Eeussnerin"  vermählt,  deren  erster 
gatte  Johann  Friedrich  Reussner  der  Inhaber  der  hof-  und  akademischen  buchdruckerei 
gewesen.  L'Estocq  hatte  sich  das  alte  Reussnersche  Privilegium  übertragen  lassen, 
aber  schon  1750  die  officin  an  den  hofgerichtsrat  Cabrit  verkauft,  vgl.  (Meckelbui'gs) 
Geschichte  der  buchdruckereien  in  Königsberg  (Königsberg  1840)  s.  35.  L'Estocqs 
frau  war  Gottsched  zu  grossem  danke  verpflichtet,  da  dieser  nach  dem  tode  ihres 
ersten  mannes  in  einer  seinem  herzen  ein  höchst  rühmliches  zeugiiis  ausstellenden 
weise  bemüht  gewesen  war,  mit  hülfe  Breitkopfs  ihr  die  weiterführung  und  Verbes- 
serung der  druckerei  zu  erleichtern.  Ihre  briefe  an  Gottsched  bekunden  eine  gescheute, 
klar  denkende  frau.  Der  bekante  ostpreussische  patriot  und  schriftsteiler  Johann 
George  Scheffner,  der  als  student  eine  zeit  im  hause  L'Estocqs  gelebt,  rühmt  ihr 
„eine  für  ihre  Zeiten  ganz  ausgezeichnete  Bildung"  nach;  vgl.  Scheffner,  Mein  leben 
usw.  (Leipzig  1823)  s.  61. 

21)  Gottsched  bezieht  sich  hier  auf  ein  schreiben  vom  3.  mai  1752,  auf  wel- 
ches einzugehen  mich  zu  weit  führen  würde. 

22)  Erst  im  jähre  1754  erschienen  bei  Johann  Heinrich  Härtung  in  Königsberg 
„Der  Königlichen  deutschen  Gesellschaft  in  Königsberg  Eigene  Schiiften  in  ungebun- 
dener und  gebundener  Schreibart.  Erste  Sammlung.''  8".  Allerlei  Schwierigkeiten, 
welche  der  Verleger  bereitete,  hatten  den  druck  sehr  verzögert.  Die  dem  buche 
vorausgeschickte  widmung  an  könig  Friedrich  IL  hatte  Gottsched  auf  bitten  Qvandts 
und  Flottwells  verfasst.  Der  leztgenantc  schrieb  am  8.  märz  1754:  „Wegen  der 
Dedic.  werfen  wir  uns  in  Dero  Ai'me;  Sie  kennen  den  hoff,  und  wir  wollen  mit  ihi-em 
schönen  Witz  wuchern".  (L.  XIX.  bd.)  Gottsched  wagt  sich  in  dieser  widmung  mit 
einem  leisen  tadel  gegen  des  königs  litterarischen  geschmack  hervor:  „Eure  Köuig- 
liclio  Majestät  geruhen  aUerguädigst,  dieß  alleruntertliänigste  Opfer  einer  einheimischen 
Gesellschaft,  mit  eben  so  heitern  Blicken  anzusehen,  als  diejenigen  sind,  deren  sich 
ausländische  Musen  zu  erfreuen  haben". 


BRIEF    GOTTSCHFDS    AN    FI.OTTWF.LL  213 

2.'5)  Schluss  der  scitii;  zu  crgiiiizoii  ist  uatih-lii'h :  (lio  Kostou.  Das  nocli  fol- 
gende postscriptüin  sti-Iif;  am   raiide  derselben  soito. 

24)  Ein  mitglied  der  Xünigsberger  doutsehen  goselschaft,  Christopli  Heinrich 
von  Sehröderß,  liatto  die  lateinische  rede  Gottscheds  „Singularia  Vindobonensia"  usw. 
übersezt.  FldttNvcll  liattc  die  arlieit  nach  Leipzig  mit  folgender  iKiinerkung  gesant: 
.,IIK.  V.  Selii-üderl)  ..  hat  l»ey  ÜeilÜgcr  [^esung  Dero  Seiiriften  sieh  besonders  in  die 
trelliclu'  i\'ede  und  Keisebeschi'eibung  von  AVien  vorliebct.  Kr  liat  sie,  wie  es  scheinet, 
mit  vich'ni  (leill  übersetzet,  und  er  \v;ir  feurig  genug,  si(^  sogieicji  auf  S('in(!  K'ostiMi 
druckiMi  zu  lallen,  wenn  ei'  niclit  Norlier  die  Erlaubnis  vom  Vater  des  Kindes  iiab(_'n 
müste  und  wenn  er  nieiit  befürchtete,  dali  der  unschuldigste  Lol)Spi'uch  auf  Eramns- 
cum  in  Preufien  verdächtig  wäre".     (Brief  Flottwells  v.  11.  mal  1752.     L.  XVIl.  bd.) 

KÖNICISBERO    I.    l'i;.  Ct.    KRAUSK. 


BEl?l('nT    irP,Ei:    DIE    VERHANDLUNGEN    DER   DEUTSCH -ROMANISCHEN 

SECTIUN    DER.   XXXXI.    VERSAMLUNG    DEUTSCHER    PHILOLOGEN    UND 

SCHULMÄNNER  IN   MÜNCHEN. 

Erste   Sitzung. 

1.  Die  deutscli- romanische  sectiou  constituierte  sich  doinierstag  den  21.  mai, 
vormittags;  an  (hm  Sitzungen  beteiligten  sich  im  ganzen  etwa  30  mitglieder. 

Die  zu  gesonderter  sectionssitzung  nicht  in  erforderlicher  anzalil  erschienenen 
Ronuanisten  lassen  durch  herrn  prof.  Freymoiid  erklären,  dass  sie  deu  anschluss  an 
die  germanische  sectiou  dem  an  dii}  neuspraclüiclic  vorziehen.  Es  erfolgt  die  wähl 
der  herren  prof.  dr.  Brenner  und  i)rivatdücent  dr.  (iolther  zum  ersten,  bz.  zwei- 
ten vorstand  und  der  herren  dr.  K.  Borinski  und  ih'.  R.  Otto  zu  Schriftführern, 
von  denen  sich  der  lezte  das  romanische  gebiet  vorbehält.  Auf  den  Vorschlag  des 
herrn  prof.  Osthoff  wird  für  den  nachmittag  eine  genniünschaftliche  Sitzung  der  sec- 
tiou mit  der  indogermanisclien  angesczt  und  danach  di(j  reihenfolge  der  angemeldeten 
vortrage  bestirnt. 

2.  Vortrag  des  herrn  dr.  B.  Kahle  „über  den  altnordischen  vokalis- 
nuis  auf  grund  der  skaldeu reime''  (abschnitt  aus  einem  demnächst  erscheinen- 
den werke  über  die  spräche  der  skalden  auf  grund  der  binnen-  und  endreime).  Der 
vortragende  orientiert  über  das  material,  ausgaben  (Gislason,  Wisen,  Unger,  Gering)  und 
chronologische  begrenzung  (800  bis  mitte  des  14.  jh.),  erörtert  die  für  den  lautstand 
in  frage  konnnendcn  Verhältnisse  der  skaldenmetrik  —  gleiche  vocale  und  conss. 
(adalhending)  in  den  binnenreimen  der  geraden  zeilen,  gleiche  conss.  (skothcnding)  in 
den  binnenreimen  der  ungeraden  —  und  geht  alsdann  auf  die  erscheinungen  des  u- 
(r)- Umlauts  ein.  u  (r)  ist  erhalten  oder  geschwundmi  in  der  historischen  zeit  (bci- 
spiele  mit  geschwundenem  n  nom.  n.  pl.  von  «- stammen:  haiid  :  ntiidtt  jI'j('i{)olfr 
or  Ilvini];  nom.  sing.  v.  fem.  ff -stamm:  liall :  (lUa))  [Sighvatr];  beispiele  mit  erhal- 
tenem n:  dayr  :  fagnon  [Sighvatr],  alls  :  si/Jalhitj/  [Eiuarr  Skulason].  Bei  densel- 
ben dichtem  formen  mit  umlaut  im  reim,  wie  nud/fri/ops  :  I/niid/fni  [tjcSliolfr]). 

Die  frage  nach  dem  umfang  des  auftreteus  des  unilauts  beantwortet  Paul 
(B<utr.  VI)  für  das  gesamtgebiet  des  nordischen  und  ei-klärt  die  ausnahmen  durch 
analogie.  Kock  (Ark.  IV  =  Beitr.  XIV)  unterscheidet  zwei  poriodmi.  In  der  älteren 
bei  geschwumdenem  h  überall  eingetreten,  wird  er  in  den  ostnord.  sprachen  stark 
durch  analogie  verdunkelt.     In   der  jüngeren  wird  der   umlaut  durch  ein  noch  daste- 


214  BOEINSKI 

hendes  u  bewirkt.  Island  und  gewisse  gegenden  Norwegens  erhalten  den  umlaut. 
Dagegen  wendet  sich  "Wadstein  (in  „fornnorska  homiliebokens  Ijudlära"),  indem  er 
den  älteren  mnlaut  gleichfals  im  gesamten  gebiet  des  nordischen  annimt.  Anders  ist 
die  Sachlage  bei  erhaltenpm  u.  Bietet  Dänemark  ganz  wenige  umgelautete  formen, 
so  werden  sie  im  ostnorwegischen  zahkeicher,  im  westnorwegischen  und  isländischen 
ist  der  umlaut  so  gut  wie  ganz  durchgeführt.  Er  weist  auf  die  analogen  umlauts- 
verhältnisse  im  ahd.  bei  *',  j  hin,  wo  in  einzelnen  dialekten  gewisse  consonanten 
hindernd  einwirken,  in  anderen  nicht.  Die  hindernden  consonanten  im  altn.  hierfür 
anzugeben,  sei  man  nicht  in  der  läge. 

Der  ansieht  Wadsteins  ist  zuzustimmen.  Hinsichtlich  des  materials  sei  es 
zweifelhaft,  ob  gewisse  hss.  rein  norwegisch  sind  oder  isländische  eiuüüsse  enthalten. 
Füi'  die  spätere  zeit  sind  die  im  „  Diplomatarium  norwegicum"  befindlichen  akten- 
stücke  (testamente  u.  ä.)  für  die  wirklich  gesprochene  spräche  von  Wichtigkeit.  In 
den  kanzleien  hätte  sich  isländische  tradition  bilden  können.  Auffallend  Verbindungen 
mit  verschiedener  behandlung  des  a  {qllum  :  mannuni,  dagegen  aUum  :  mqnnuni). 
7  aktenstücke  haben  nur  <?,  13  nur  a.  Diese  aktenstücke  sind  aus  dem  westlichen 
Norwegen. 

Brenner  im  Altnord,  handbuch  meint,  der  unterschied  sei  als  flexionsmittel 
bedingt.  Wadstein  schliesst  sich  dem  -im  wesentlichen  an.  Den  tatsächlichen  Ver- 
hältnissen entspricht  das  nicht  ganz,  wie  das  vorkommen  von  acc.  plur.  =  nom.  sg. 
beweist. 

Lyngby  (Tidskr.  f.  phil.  II,  296  fg.)  widerspricht,  dass  die  ausspräche  des  a  der 
Schrift  gemäss  angenommen  werde;  a  sei  graphische  darsteUung  für  q.  Ähnlich  Bren- 
ner a.a.O.  Wie  man  sich  auch  entscheiden  mag,  ob  für  altes  oder  analogisch  wider- 
hergesteltes  a,  man  muss  annehmen,  dass  die  reime  auf  a  auch  wirkliches  a  enthal- 
ten. Unreinheit  der  reime  ist  ausgeschlossen  wegen  fülle  der  beispiele  auch  bei  form- 
strengen  dichtem. 

Unterschied  zwischen  altisl.  und  norw.  skalden  besteht  nicht.  Noch  bei  Einarr 
Skulason,  mitte  des  12.  Jahrhunderts  finden  sich  a- formen.  Nach  ihm  schwinden 
die  nicht  umgelauteten  formen  gänzlich.  Norwegische  einflüsse  sind  ausgeschlossen, 
da  grade  damals  die  «-formen  in  Norwegen  durchdringen  und  das  plötzliche  aufhören 
dieses  einflusses  nicht  zu  erklären  wäre.  In  Island  um  1000  entstandene  verse  der 
Kristni-saga  bringen  a  für  q  bei  erhaltenem  ti. 

Für  den  umlaut  von  ä  finden  sich  nur  wenige  fälle-,  (^'-umlaut  unsicher  s. 
Noreen  Altn.  gr.  §71).  Bei  e  ist  es  das  verdienst  Lefflers  auf  den  unterschied  von  v- 
und  M- umlaut  hingewiesen  zu  haben.  Sowol  altes  e  als  umlaut -e  wird  zu  o.  Gegen 
die  frühere  meinung,  dass  vi  oder  vj  den  umlaut  bewirke,  wies  Leffler  (aus  isl.  und 
norw.  hss.)  die  gesonderte  wirkmig  erst  des  i-  und  dann  des  «j-umlauts  nach,  o  ist 
überhaupt  ein  seltener  laut,  i'- umlaut  auf  e  zeigt  sich  erst  nach  1151  in  den  gedich- 
ten  des  Einarr  Skulason.  (sverps  :  gerpu  [Eilifr  GuJ)runarson] ,  gekk  :  stelckva  [BJQrn  h. 
krapphendi]).  *,  wurzclbeginnend  vor  ng  und  nk  zeigt  zuweilen  umlaut,  zuweilen 
nicht  (>2/)-  Sichere  beispiele  für  «-formen  vom  10.  — 14.  jahrh.  Daher  ist  *  wider 
einzusetzen  in  den  von  Gislason  {om  helrim)  gebrachten  beispielen  im  röim  auf  tyggi. 

Für  brechung  bringt  Noreen  (Gr.  d.  germ.  phil.  I,  446)  beispiele  aus  west- 
norw.  und  isl.  handschriften ,  io  nicht  iq  (Wadstein  aus  der  Orthographie  des  Norw. 
homilienbuches).  Brate  (Beitr.  X)  zeigt  chronologisch,  dass  im  9.  jh.  die  brechung 
noch  nicht  eingetreten  sei.  Zimmer  (Ztschr.  f.  d.  a.)  belegt  aus  irischen  Ulster -annalen 
847  crcll,  892  ierll,  917  iarla.    Die  ältesten  sicheren  beispiele  ende  des  9.  jahrhun- 


rilILOLOGKNVEi;SAMI.UiNG    1891  215 

derts  lcikhh(])S  :  /'j"[>nir.  okhjqrn  :  Mnrim  |T'Ji'»l)oltV.  |,  woraus  zuglcioli  ofsatz  des  o 
durch  o  edielt.  Eiulluss  dor  cous.  (r,  /  Noreeu)  auf  hnicliung  unsicliLT,  da  diese  an 
und  für  sicli  häufig'  an  diesen  stellen  sind. 

in  einem  excurse  am  schluss  glaubt  der  vortragende  eine  praetei'italform  mit  c 
nachweisen  zu  können  (Iiclt :  vcUan  [I'orkell  Slcallasim,  lleimskringla  021,  •_l2a]).  An 
eine  kürzung  in  i-cltan  glaubt  vortr.  nicht. 

in  dor  discussion  bringt  jirof.  Fisclier  an  dem  vorknmineii  von  dupiielfor- 
men  bei  denselben  dichtem  die  analogen  vcr]üiltniss(!  im  nihil,  zur  spräche.  Dr.  Alogk 
interpelliert  hinsichtlich  einer  frühen  Verkürzung  bei  rcttait. 

Zweite   Sitzung. 

1.  Am  21.  niai  nachmittag  3".,  uhr  hielt  vor  der  Vereinigung  der  deutsch - 
romanischen  und  di'i-  si)rachvergleichonden  scction  herr  prof.  dr.  Osthoff  einen  ver- 
trag ^ülu'r  eine  bisher  niclit  erkaute  praesensstaiubi  Idung  im  in<loger- 
man  i sehen  '■  '. 

Kr  geht  von  den  germanischen  formen  'Kstai/ddH  (got.  as.  aUnidaii ,  ahd.  sfan- 
laii.  aisl.  sfanda,  ags.  Rtoiidan),  ■/n'iidaii  (got.  as.  /r/i/daii,  ahd.  loiidaii,  aisl.  cin- 
il(i)^  " sicinddii  (ags.  s/r/udnii,  ahd.  s^'/nfcoi)  und  ''  sl/i/d((ii  (got.  fraslindau ,  ahd. 
^liiil(iii)  aus,  die  er  in  * sta-iid-an.  * /n'-i/d-tn/ ,  '■' s/r>-i/d-ni/  und  ''  sli-i/d-(üi  zerlogt 
und  der  reihe  nach  mit  den  wurzeln  "sfä-  in  lat.  .'<fa-rc.  gr.  i^-arij-r,  "in-  in  lat. 
ri-crr.  vi-iiicii,  ahd.  /r/-da  „salix'\  gr.  i-if-'i'.,  *.s/r7-  in  alid.  siri-nan,  n,p.  siri-iiia, 
■iilai-  in  gr.  ).((i-i(6^  /.(tf^-Tfia  verbindet.  Bei  sfandaii  Aveist  auf  eino,  solche  Zer- 
legung noch  das  practeritum  got.  sto-p,  altisl.  sto-ä,  ags.  as.  sind.  nlul.  (liei  Tatian) 
sl/ni-f  und  das  altisl.  jiarticip  sfa-dciui  hin,  wiihrcnd  bei  den  ül)rigeu  Wörtern  die 
liraesensstamform  auf  die  ausser})raesentischen  verbalformen  übertragen,  bei  sliiiduii 
und  iriiidaii  sogar  als  i'eine  verbalwurzol  angesehen  und  auch  zu  nominalen  ueubil- 
dungcn  wie  ahd.  mhd.  sinnt,  got.  icandus,  altisl.   roiulr  bcnuzt  wird. 

Zu  diesen  4  bcispielen  treten  einige  alileitungen  von  ;/- wurzeln,  die  aber  in 
weniger  durchsichtiger  gostalt  vorliegen.  Germanische  praesentien  wie  lat.  niiiipo 
iinidi)  piiiKjn  mit  ii  -\-  nasal  -{-  consouans  und  dem  al>laut  -uiix-  -kux  -kx  (wo  x 
einen  l)cliebigcu  gcräuschlaut  bezeichnet)  wurden  nämlich  entweder  im  anschluss  an 
die  verba  der  klasse  '■'beiidü  (got.  biiida),  mit  denen  sie  im  praeteritum  und  partici- 
liium  gleichen  ablaut  hatten,  durch  formen  juit  -c/i-  ersezt,  für  * rnii>b(j  trat  also 
'■■rcubö  ein  (altisl.  1  plur.  rj/lfoiii}]  oder  es  wurde,  nachdem  der  nasal  aus  dem  prae- 
sens in  die  ausserpraesentischen  formen  versclilept  und  die  reihe  *n(»/b-  ''raKb-  *n(b- 
durch  'ridiib-  ■'')•(! iiib-  ■'■rioiib-  ersezt  war,  eben  von  diesen  nasalierten  neubildungen 
aus  nach  dem  muster  der  klasse  '"bind-  'iicotd-  '*bund-  i  auch  ins  praesens  eingeführt 
und  *riujihö  zu  *rimhö  umgestaltet.  Gerade  diese  veralgemeinerung  von  i  auf  kosten 
von  n  zeigt  sich  im  germ.  Ja  öfter  bei  praesensbildungen,  die  wie  die  sk-,  die  mv-, 
die  nasalinfigierenden  und  die  „  aorist ''- praesentien  von  hause  aus  tiefstufigkeit  der 
Wurzel  erforderten.  So  erklart  sich.  üh^l.  trdan ,  ags.  as.  tredan  als  neubildung  neben 
got.  trudan,  altisl.  froda,  ahd.  (bei  Otfr.)  //rsjt/niit  neben  ags.  ahd.  spnrnan,  got. 
dn-rj/jinan,  ags.  ä-^/nnan ,  ahd.  as.  Ij/'-ij/ in/an  neben  mnl.  bcghomioi  (idg.  *kj,>w-, 
auch  in  abg.  -cin-q  <;  -c/nirr)^  got.  ags.  ahd.  icinnan  neben  vorauszusetzendem 
germ.  *ivHnnan  (*idg.  n-ijiv-^  vgl.  altind.  vanufi),  got.  as.  ahd.  rinnaii  neben  mnl. 
rönnen  (vgl.  altind.  rnöti  rnrati,  gr.  onwia),  —  ags.  runc  und  got.  runs  sind  dem- 
nach in  einer  zeit  entstanden,  wo  das  praeteritum  ''ran  lautete  an  stelle  von  älterem 

1)  Don  boriclit  über  diesen  Vortrag  verdanken  wir-  liorni  dr.  L.  Sütterlin. 


216  BORINSKI 

*ar  und  jüngerem  rann  — ,  ahd.  in-trinnan  neben  *trunnan,  von  der  idg.  wurzel 
der-  in  altind.  drnäti  dadära^  got.  tairan  iar,  und  endlicli  got.  priskan,  ahd.  dres- 
can  neben  einem  zu  erschliessenden ,  mit  lat.  tero  verwanten  germ.  *ßrn-skan.  In 
dieser  weise  werden  nun  auch  zu  nasalinfigiei'enden  praesentien  mit  n  neue  formen 
mit  i  geschaffen.  So  trat  ags.  ivrin^an,  ahd.  ringan  an  die  stelle  eines  älteren 
germ.  *ioru-n-gö,  dessen  wurzel  *wurg  =  idg.  *tvrgh  in  ahd.  tcurgen,  mhd.  tvürgen, 
abg.  vrügq  und  dessen  praeteritum  und  particip  in  mhd.  erivarg  ericorgen  vorliegen. 
Wurzelhaftes,  nicht  aus  r  entwickeltes  u  wurde  dagegen  in  got.  stigqan  „stossen" 
und  in  ags.  ärintan  „schwellen"  ersezt,  da  stigqan  zu  altind.  tiij-  „schlagen"  und 
S/rintan  zu  altisl.  prutenu  „geschwollen",  got.  prütsfill  „aussatz",  mhd.  nhd.  strotzen 
gehört. 

Darnach  lassen  sich  auch  einige  germ.  praesentien  auf  -indü  als  Umgestaltun- 
gen älterer  zu  ?<- wurzeln  gehörenden  formen  auf  -undö  auffassen,  bei  denen  -nd- 
wie  bei  standan  praesensbildung  war.  Das  gilt  von  ags.  äindan  „schwellen"  neben 
lat.  tu-meo,  gr.  n'-Aof,  germ.  ''tmdan  „zünden,  brennen"  (got.  tundnan  tandjan, 
ahd.  Tiunten)  neben  gr.  Saio}  St-Sav-fxevog^  altind.  dunoti  und  der  an  die  stelle  eines 
älteren  *tunnan  eingetretenen  nn-h\[Amig  mhd.  binnen,  endlich  ags.  hrindan,  altisl. 
hrinda  „stossen"  neben  gr.  xqovo)  xqoch'vü). 

Die  in  diesen  7  germanischen  beispielen  vorhandene  praesensbildung  -nd- 
geht  nach  ausweis  anderer  idg.  sprachen  auf  ursprachliches  -nt-  zurück.  Zu  den 
erwähnten  germ.  formen  gesellen  sich  nämlich  zunächst  3  aus  den  slavisch-litau- 
i sehen.  Lit.  j-u-nt-ü  „durch  das  gehör  gewahr  werden"  gehört,  da  es  prothetisches 
j  hat,  zu  gr.  «/w,  abg.  u-mü,  got.  ga-umjan,  lit.  pu-nt-ü  „schwellen"  zu  lett. 
pu-ns  „aixswuchs  am  bäum",  abg.  kretq,  das  sich  aus  krq(t)nc{ti  „drehen"  erschliessen 
lässt,  zu  lat.  cnrvtis,  gr.  xoqojvös  xvQTÖg.  Aus  dem  indoiranischen  endlich  sind 
altind.  kr-nt-dti,  av.  kere-nt-aiti  „schneidet"  neben  gr.  y.eiQO)^  ahd.  sceran  sowie 
altind.  kr-nät-ti  „spint"  zu  erwähnen,  mag  dieses  krnätti  nun  zu  dem  eben  ange- 
führten abg.  kr^ftjnqti  oder  zu  lat.  colits,  gr.  yXtoOo)  zAoicrxoj  zu  stellen  sein. 

Die  flexi on  scheint  auch  bei  unserer  praesensklasse  ursprünglich  nicht  ganz 
einheitlich  gewesen  zu  sein.  Denn  altind.  kr-ndt-ti  weist  auf  athematische  flexion 
und  einen  Wechsel  idg.  *stn-net-ini  *stn-nt-mes  hin,  während  altind.  kr-nt-ä-ti, 
av.  kere-nt-ai-ti  und  lit.  ju-nt-ü  eine  thematische  flexion  mit  -o-  -e-  voraussetzen. 
Mit  den  nasalinfigierenden  praesentien  müssen  die  «eif  -  praesentien  in  enger  berüh- 
rung  gestanden  haben.  Einerseits  wurde  das  t  der  endung  -net-  wurzelhaft,  indem 
man  nach  dem  muster  von  fällen  wie  altind.  vavarja  neben  vr-n-j-  z.  b.  zu  kr-nt- 
auch  ca-karta  schuf.  So  erklärt  sich  wol  auch  das  p  in  got.  stö-p  (für  *sto)  neben 
sta-nd-an.  Andererseits  aber  kam  bei  der  sogenanten  nasalinfigierenden  klasse  neben 
dem  lautlich  allein  berechtigten  und  erst  auch  allein  vorhandenen  eingeschobenen 
nasal  n  eine  stärkere  „infixsilbe"  ne  auf:  nach  dem  Verhältnis  *ici-nt-mes  zu  tvi-net- 
mi  bildete  man  zu  *U-n-q-mes  auch  li-ne-q-mi.  Ursprünglich  lautete  die  starke 
form  des  praesensbildenden  dementes  bei  der  7.  altind.  klasse  ganz  anders.  Nach 
dem  nebeneinanderliegen  von  n-n-d-a  und  ud-en-  Hesse  sich  vermuten,  dass  neben 
li-nq-  diese  stärkere  form  liq-en  gelautet  habe.  Aber  armenische  verba  wie  eUanem 
„verlasse"  und  die  griechischen  auf  -dvw  wie  hfinävo)  zeigen,  dass  vielmehr  -an- 
die  starke  form  des  praesensbildenden  dementes  dieser  klasse  gewesen  ist. 

In  unserer  ^ici  -  praesensklasse  ist  aber  das  suffix  mcht  auf  diese  bis  jezt  allein 
erwähnte  form  beschränkt.  Vielmehr  findet  sich  entsprechend  dem  Wechsel  von 
tenuis  und  media  im  wurzdauslaut  —  vgl.  lat.  pando  und  jxäeo,  j^ango  und  pacis- 


PHILOLOGEXVERSAMIATNG    1S91  217 

cor  —  neben  -net-  -ut-  aurh  ilor  aus^ang  -)>r(l-  -i/d-.  Lautgesetzlidi  berechtigt  wird 
dieses  d  nur  in  der  schwachen  form  -»(/-  gewesen  sein,  da  sicli  die  wurzelsehlies- 
sende  tenuis  wol  nur  zwischen  nasalen,  hier  also  nur  in  fülli'H  wie  's(ii-»f-)N<'s,  in 
die  media  verwandelte  (;*sl)UHl-}iirs).  Dann  wurde  >/  in  die  starke  i'orin  iicl  über- 
tragiMi.  So  lassen  sich  meliren-  verlia  aulTasseii:  altind.  truädmi  tnidinds  ,,durch- 
liuhre'"  von  wurzel  (rr-  in  gi'.  inji-'o  Kinf-fv;  altind.  chiiiddiiii  cliiiidiiids  „aViliaui'n", 
lat.  sri.i/du  von  würzet  nl,-///-  in  lat.  d('-sr/-sru\  altind.  hliiinidiin  hhiiidiinis  „siialte*^, 
lat.  I'iiidu  von  würzet  ^hht-  in  ahd.  hi-lial  „beil".  gr.  iinnu^,  lat.  fi-ii/'s;  avi.'st.  iiinrc- 
Tidat  „tötete"  von  würzet  tiirr-  in  lat.  iiinrinr^  gi-.  h/.-<f/.i  ){(iaM  ,,  bri'cjie  auf^  (von 
geschwüren)  neben  (jah')  f//.rrt),  lat.  Ilua:  lat.  fioido  m'ben  altind.  dhionUi  ^schüt- 
telt", gr.  (hvvtc)  Ovo),  alt.isl.  d.'ljo;  h'tr.  f^idn  „verschwinde^  (aus  ^  fiiiidii)  neljen  lit. 
xil/rn  „komme  um'";  ahg. /"ida^  (aus     //H-iid-oii/-)  neben  gr.  (/rffj.  lit.  />/(h\  abg.  hi/fi. 

Aus  diesen  praesenticn  auf  -/ni-  -nf-  und  -/trd-  -iid-  etitwii/kelten  sich,  wie 
sehoii  teilweise  ausgeführt  wurde,  in  folge  des  einfkisses  der  nasalinligierendi'n  klasse 
häufig  kürzere  formen  auf  -/  und  -d.  die  wie  ixüne  verbalwurz'dn  verwendet  wurden. 
f  liegt  abgesehen  von  dem  schon  oben  erwähnten  got.  .^tofi,  altisl.  stadrnii  z.  b.  vor 
in  gr.  y.Hn-oao.;  (für  ■  y.Hn  -  auo^  durch  beeiuflussung  von  rouög  „schneidend'"  i,  lit. 
L-niii ,  altind.  ca-kar/a  (perf.)  neben  In;-iit-uti  und  gr.  y.ei'o(»\  in  got.  skaidai/,  ahd. 
sceidni  neben  altind.  clihxidiiii .  lat.  sriiido;  d  dagegen  ist  enthalte]i  in  altind.  hhc- 
ditli.  got.  hrifcDi  und  /ni/frs.  lat.  /idi  neben  altind.  hhi)iddiiii.  Auch  wo  kein  prae- 
sens auf  -}if-  odt'r  -iid-  in  den  einzelspraclien  wirklich  mehr  nachweisbar  ist,  kann 
wurzelschliessendes  t  oder  d  in  der  angegebenen  weise  entstanden  sein;  so  vielleicht 
in  g:oi:.  tjh(-tit» .  ahd.  .7/0 um  neben  gr./«fj,  altmä.  Jidtöff]  in  ahd.  flio-\aif,  ags.fleö- 
ian.  \lt  phisf/f  }dd-dait  nelien  ahd.  ir-flror-t)/  „sjüilen.  waschen",  gr.  7///w,  lat  ]ilN/f, 
abg.  jdi)r([\  ferner  in  ahd.  .di(r,(iu.  lat.  chni-dn  neben  lat.  r/uris.  gr.  y.lti^,  in  gr. 
y'/i\l(').  got.  Idutrs  neben  lit.  s-J/'/Jn.  lat.  clot/ra.  altlat.  >-luo;  in  mnd.  ))N}fii  „das 
gesiebt  waschen'-,  gr.  ui'6'og  neben  abg.  »njj'i'  l<^tt.  inaiijii\  möglicherweise  auch  in 
gr.  TtvS«),  lat.  iondrn  neben  icmnn.  Hierher  gehören  zum  sehluss  wol  auch  die  nur 
in  einer  spraidie  vorhandenen  gr.  /yi'h'i  yj.iSiao  neben  yji")  //.ic.iv«)  und  lat.  endo 
neben  ahd.  lidHu-aii.  abg.  koni.  lit.  Liiiiju. 

2.  Es  folgt  sodann  ein  vertrag  des  herrn  dr.  Borinski  (]\Iünchen):  Grund- 
züge des  Systems  der  artikulierten  phouetik'.  Der  vortragende  erörtert  die 
notwendigkeit  rein  methodischer  Untersuchungen,  wie  sie  für  die  natui'wissenschaft 
längst  eingeführt  seien.  Er  liesiiriidit  die  princi]üelle  Unsicherheit  der  iihilologie  und 
historischen  Sprachforschung  hinsichtlii'h  ihres  niaterials  und  seiner  Wirkungen,  sowie 
die  ptlicht  der  forschung  hier  einzusetzen.  Es  handle  sieh  nieht  um  aufstellung  eines 
lieliebigen  subjectiven  Systems,  sondern  um  kritische  darstellung  der  die  phonetischen 
ausdrucksmittel  ermöglichenden  Systematik.  Hier  ti'itt  zunächst  hervor  die  notwen- 
digkeit einer  auseiuandersetzung  mit  dem  melisch-[ihonetischen  ausdruck  (musik); 
ferner  der  abgrenzung  vom  thierischen  schrei,  vorwürfe  die  den  alten  harmonikern 
und  grammatikern  viel  geläufiger  waren.  Auf  die  natur  des  artikulierten  ausdrueks 
eingehend,  erörtert  der  vortragende  die  Ursachen  einer  speciellen  lautfoi'schung,  ihres 
prolilems  und  der  in  ilir  zu  unterscheidenden  richtungen ,  der  grammatischen,  laut- 
jihysiologischen  (anatomischen)  und  physikalisch -akustischen.  Er  nimt  die  gramma- 
tische als  naive  auffassung  iles  lautmaterials  gegen  manche  der  ihr  von  den  phone- 
tikei'n  gemachten  vorwürfe  in  schütz,  zeigt  das  dilemma,  in  das  die  lautphysiologische 

1)  Der  Vortrag  erscheint  volständig  und  von  specialisierten  anmerknngen  begleitet  im  verlago  der 
G.  J.  Göschen'schen  bucliliandlaDg  in  Stuttgart. 


218  BORINSKI 

richtiuig  bei  ihroQ  beobachtungen  gerate,  iind  dass  sie  gefahr  laufe,  die  linguistischen 
aufgaben  vergessend,  sich  in  eine  algemeine  Charakteristik  im  Baconschen  sinne  zu 
verlieren.  Die  akustische  richtung,  deren  geschichte  und  resultate  kurz  beleuchtet 
werden,  sei  bisher  in  der  linguistischen  debatte  der  lautphysiologischen  gegenüber  im 
nachteil  gewesen,  obwol  sie  den  vorzug  zu  den  kriterien  der  lautauffassung  hinzu- 
leiten schon  äusserlich  aufweise.  Von  Helmholtz'  und  seiner  Vorgänger  bekanton 
Untersuchungen  über  die  der  tonempfindung  innewohnenden  Wahrnehmungskriterien 
ausgehend,  erörtert  er  die  bez.  stellimg  der  spec.  lautempfindung  und  gelangt  nach 
musterung  des  Standes  der  physiologischen  und  psychologischen  forschung  zur  Vor- 
legung einer  methode,  die  herausbildung  des  Schematismus  qualitativer  momente  in 
empfindungsreihen  (skalen)  überhaupt  zu  fixieren.  Vermittelst  dieser  theorie  beleuch- 
tet er  nun  die  Verhältnisse  der  lautskala  und  stelt  dem  die  bisherigen  auffassun- 
gen  mit  ihren  für  theorie  und  praxis  gleich  verderblichen  consequenzen  gegenüber. 
Ferner  weist  er  auf  die  möglichkeit  von  hier  aus  den  phonetischen  controvcrsen 
im  sinne  des  ausgleichs  beizukommen,  sowie  auf  den  gewinn  für  die  wissenschaft- 
liche Charakteristik  der  laute  und  ihrer  graphischen  fixierung. 

Hieran  schliesst  sich  im  zweiten  teile  des  Vortrags  die  erörterung  der  erschei- 
nungen  des  lautwandels.  Auch  hier  vom  laute  als  ausdrucksmittel  ausgehend  zeigt 
er,  wie  dem  laute  ebenso  wie  dem  tone-  das  streben  zu  neuen  stufen  überzugehen, 
innewohne.  In  parallele  mit  der  darauf  sich  gründenden  strengen  musikalischen  setz- 
kunst  erörtert  er  die  weniger  leicht  zu  fixierenden  aber  in  ihrer  beschaffenheit  durch- 
aus gleichen  normativen  lautbeziehungen  (lautgesetze) ,  mit  denen  die  Sprachwissen- 
schaft auf  schritt  und  tritt  operiert,  ohne  doch  die  objective  formel  für  sie  so  leicht 
finden  zu  können.  Die  gesetzlichkeit  im  lautwandel  wird  nun  auf  durchgehende, 
mechanische  bezw.  organische  gesetze  zurückgeführt  und  im  Interesse  ihrer  reinen 
erfassung  gegen  die  anwendung  des  terminus  „lautgesetze"  für  die  einzelnen  tatsachen 
der  historischen  Sprachänderungen  einsprach  erhoben.  Vortragender  weist  sodann  die 
in  der  lautänderung  wirksamen  anstösse  in  der  tönung  (accentuieruug)  auf,  skizziert 
ihre  hauptsächlichen  erscheinungsformen  und  zeigt  wie  der  streit  über  die  ausnahms- 
losigkeit  ihrer  Wirkung  sich  von  selbst  erledige.  Das  analogische  princip  glaubt  er 
scharf  hiervon  abtrennen  zu  müssen  und  reiht  es  den  architektonischen  principien  der 
Sprachbildung  als  leztes  und  mächtigstes  au. 

Die  Sprachbildung  als  solche  stelle  den  dritten  teil  der  aufgäbe  dar.  Man 
könne  an  ihr  nicht  vorüberschleichen  und  das  falsch  gestelte  in  ihren  problemen  nui- 
methodisch  aus  der  debatte  hinausschaffen.  Vortragender  zeigt,  wie  sie  sich  der 
historischen  Sprachwissenschaft  unablässig  aufdrängen  nicht  blos  in  dem  sie  gefähr- 
denden wissenschaftlichen  unkraut,  sondern  auch  in  ihren  eigenen  unentbehrlichen 
hülfsmitteln  (wurzeln,  erschlossene  formen,  Ursprache,  neubildungen).  In  engem 
Zusammenhang  stehen  die  schon  die  alten  lebhaft  beschäftigenden  fragen  nach  den 
facto ren  des  veränderten  wortgebrauchs.  Vortragender  zeichnet  die  hierbei  mass- 
gebenden grundanschauungcn  und  findet  ihren  wissenschaftlichen  boden  in  der  früh 
hierfür  berechneten  disciplin  der  algemeinen  poetik.  Er  schliesst  mit  einem  hinweise 
auf  den  wert  der  Wahrscheinlichkeitsbeweise  und  der  beobachtung  der  lebenden 
spräche  selbst  in  ihren  niedrigsten  oder  individuellen  erscheinungen  für  das  begreifen 
historischer  sprachiüiderungen  in  ihi'er  continuität. 

In  der  discussion  weiss  dr.  Sütterlin  sich  mit  dem  vortragenden  in  dessen 
auseinanderlegung  der  gesetzlichkeit  im  lautwandel  eins,  gibt  die  notwendigkeit  einer 
strengen  und  durchgreifenden  rücksichtnahme    auf   die   akustische   Wertung   zu   und 


PHILOLOGENVERSAMLUNG    1891  219 

nimt  schliesslich  die  spec.  indogermanische  Sprachforschung  hinsichtlich  ihrer  horan- 
ziehung  imaginärer  stützen,  sowie  einiger  als  veraltet  zu  betrachtender  werke  lingui- 
stischer palaeontologie  (Pictets  Origines)  in  schütz. 

Dritte  Sitzung. 

1.  Dr.  E.  Honrici  (Berlin)  machte  hei  beginn  der  sitzung  einige  mittcilungen 
ü1)er  den  „Jahresbericht  über  die  erscheinungen  auf  dem  gebiete  der  germanischen 
Philologie",  welcher  bei  C.  Reissner  (Leipzig)  erscheint  und  jezt  im  12.  Jahrgang  vol- 
lendet ist.  Zu  einer  gedeihliclien  fortführung  des  Unternehmens  seien  drei  dinge 
erforderlich:  eine  erhöhte  abonnentenzahl,  weil  die  gesteigerten  herstellungskosten  in 
den  lezten  jähren  den  schon  geringen  ertrag  noch  mehr  vermindert  haben;  die  regel- 
mässige Zusendung  aller  neuen  publicationen ,  weil  die  beschaffung  derselben  den  ein- 
zelnen mitarboiteru  oft  recht  schwer  falle;  endlich  der  zutritt  neuer  mitarbeiter, 
weil  die  bearbeitung  zu  grosser  gebiete  durch  einen  referenten  bedenklich  erscheine. 
In  allen  drei  beziehungen  erbat  der  redner  die  teilnähme  der  fachgenossen  wie  der 
Verleger. 

2.  Alsdann  spricht  derselbe  redner  über  „einige  grundsätze  der  Iwein- 
kritik".  Die  für  eine  textherstellung  notwendige  Untersuchung  des  handsckrifton- 
verhältnisses  ist  nach  Lachmann  (1843)  von  Paul  (1874)  und  Oscar  Böhme  (1890) 
unternommen  worden.  Der  leztgenante  geht  von  einer  vergleichung  mit  dem  Wigalois 
aus  und  gelangt  zu  der  meinung,  dass  Wiruts  handschrift  das  original  für  alle  vor- 
handenen sei.  —  Der  vortragende  zeigte  dem  gegenüber,  dass  auf  grund  des  vorhan- 
denen materials  sich  zwar  das  Verhältnis  einzelner  handschriften  zu  einzelnen  aber 
nicht  aller  zum  original  Hartmanns  feststellen  lasse,  weil  jede  an  einer  stelle  sichere 
kombination  durch  die  beobachtung  an  anderen  widerlegt  werde.  Während  aus 
gemeinsamen  Zusätzen  sich  Bb,  H,  ab,  br,  cf,  pr,  EJap  als  gruppen  erweisen  und 
ebenso  aus  starken  änderungen  Eapr,  Bz,  DJbc,  also  stets  majuskel  und  minuskel 
gemischt  erscheinen,  treten  7695  —  7702  alle  älteren  handschriften  (vor  der  mitte  des 
14.  Jahrhunderts)  zu  einer  gruppe  zusammen  und  gegenüber  den  jüngeren  Jabdlpr, 
welche  die  bezeichneten  verse  hinter  7716  stellen;  cfz  fehlen  an  der  stelle.  Eine 
ähnliche  allen  beobachteten  Verhältnissen  zuwiderlaufende  gruppierung  findet  sich 
3998,  ADEfl  gegen  Jabcdprz,  während  B  beide  lesarten  vereint!  Auch  3944  und 
3945  —  48  durchbrechen  alle  Ordnung;  bemerkenswert  sind  ferner  3372.  4110.  4583. 
4590.  4795.  6919;  die  lezte  stelle  kehrt  wider  alles  sonst  gesicherte  um.  —  Der  vor- 
tragende ist  daher  der  Überzeugung,  dass  bei  der  behaudlung  der  sinnvarianten  Lach- 
manns bevorzuguug  von  A  wol  berechtigt  war  luid  noch  die  meiste  gewähr  gibt,  des 
dichters  fassung  wider  zu  erlangen.  —  Ganz  anders  steht  die  sache  mit  der  spräche; 
dass  Lachmann  auch  diese  auf  A  gründete,  war  ein  verhängnisvoller  fehler,  wie  schon 
Paul  richtig  bemerkte:  denn  A  ist  mittel-,  zum  teil  sogar  niederdeutsch.  Dass  seine 
Schreibung  wertlos  sei,  zeigte  der  voi'tragende  an  einem  beispiel.  Lachmann  grün- 
dete auf  A  die  Unterscheidung  von  und,  tont,  uncle;  aber  die  handschrift  selber  sezt 
vn,  ^'•»,  vnd,  vnde,  vnt  je  nach  dem  räume,  der  noch  auf  der  zeile  war,  oder  ganz 
wilküiiich,  wie  691  lehrt:  hier  sezt  A  vnde  angestlicher  für  unangestlichen,  es 
löste  also  das  in  der  vorläge  gefundene  nn  oder  vn  eigenmächtig  zu  vnde  auf.  — 
Von  den  übrigen  alten  handschriften  sind  EJK  oberdeutsch  mit  verschiedener  dialekt- 
färbung,  D  vielleicht  böhmisch,  CG-  mitteldeutsch,  M  niederdeutsch;  nur  BFHNO 
bieten  des  dichters  spräche  in  sich  und  mit  den  reimen  übereinstimmend.  Es  kann 
daher  kaum  ein  zweifei  sein,    dass  i?,    die  einzige  volständige  handschrift  der  lezten 


220  BORINSKI 

gruppe,  die  grundlage  für  die  sprachliche  -widerherstelliing  des  gedich- 
tes  sein  niuss.  Diese  handschrift  hat  der  vortragende  deshalb  auch  seiner  soeben 
(Halle,  Buchhandlung  des  Waisenhauses)  erschienenen  ausgäbe  des  Iwein  zu  gründe 
gelegt. 

3.  Es  folgt  ein  Vortrag  des  herrn  dr.  "Wunderlich  (Heidelberg)  über:  ,,die 
deutsche  syntaxforschung  und  die  schule"  ^  Die  syntaxforschung  ist  ein 
Stiefkind  der  philologie.  Die  textki-itik  hält  die  roheste  satzstellung  zu  gunsten  der 
versglättung  für  angezeigt.  Es  fehlt  zwar  nicht  an  schulprogrammen  und  ebenso- 
wenig an  dissertationen  über  syntaktische  fragen.  Aber  es  bleibt  meist  bei  statisti- 
schen erhehungen  ohne  positive  resultate.  Dabei  steht  im  gespräch  und  selbst  in  Zei- 
tungen sprachliche  polemik  in  blute,  ebenso  das  schelten  auf  die  schule.  Der 
deutsche  Unterricht  aber  korat  in  ihr  zu  kurz.  Die  Orthographie  ist  zum  teil  geregelt, 
laut-  und  forraenlehre  kann  durch  germanistische  lehrer  im  einzelnen  normiert  wer- 
den; schwieriger  aber  ist  es  den  grossen  Zusammenhang  in  der  syntax  aufzuhellen. 
Die  syntaktische  Schulung  der  lehrer  lässt  zu  wünschen  übrig.  Die  kläger  selbst  sind 
in  ihrem  Sprachgefühl  oft  sehr  unsicher. 

Der  vortragende  geht  auf  die  unter  dem  titel  „  Sprachdumheiten "  in  den 
„Grenzboten"  erschienenen  artikel  ein.  Der  Verfasser  dieser  aufsätze,  offenbar  ein 
erfahrener  schulmann,  betrachte  die  spräche  als  kunstwerk. 

Demgegenüber  tritt  der,  der  die  spräche  als  Verkehrsmittel  auffasst.  Den  Vorwurf 
der  „papiersprache"  teile  der  Verfasser  mit  0.  Schröder.  Allein  man  dürfe  rede  -  und 
Schriftsprache  nicht  als  völlig  gleich  behandeln.  Die  leichte  form  der  rede  ist,  wenn 
sie  aufs  papier  gebaut  wird,  durchaus  nicht  immer  so  leicht  lesbar.  Die  natürliche 
rede  arbeitet  nicht  mit  vorausgedachten  gedanken.  Pausen  zu  vor-  und  rückschau 
sind  ihr  meist  nicht  möglich.  Sie  bevorzuge  daher  die  parataktische  satzfügung;  die 
Schrift  dagegen  könne  zur  periodischen  greifen.  Wenn  man  eine  Wortfügung,  die  das 
äuge  verlezt,  vorliest,  so  gew<ährt  das  keine  stichhaltige  vei-teidigung.  Das  ohr  prüft 
flüchtig,  das  äuge  nachhaltig.  Der  vortragende  begründet  dies  im  einzelnen  hinsicht- 
lich mehrerer  pronominal-  und  partikelformen,  berücksichtigt  die  begleituug  der  geber- 
densprache,  die  verschiedeuartigkeit  der  korrektur.  Der  redende  kann  nur  nachtra- 
gen (nachtragsfügungen).  Es  gebe  mehr  stilformen,  als  man  gewöhnlich  annehme. 
Auf  Verschiedenheit  der  stüformen  beruhe  z.  b.  komische  Wirkung.  Ein  hauptunter- 
schied sei  der  zwischen  mündlicher  und  schriftlicher  mitteilung. 

Was  das  Sprachgefühl  im  algemeinen  anlangt,  so  könne  man  ihm  nicht  so  enge 
schranken  ziehen.  Wenn  es  sich  z.  b.  gegen  die  flexionsunterlassimg  in  der  appo- 
sitionellen  bezeichnung  bei  titeln  auflehne,  so  könne  man  dies  gelten  lassen.  Gegen 
den  Vorwurf  aber,  dass  man  statt  der  alten  präpositionen  Umschreibungen  gebrauche, 
müsse  man  erinnern,  dass  auch  die  alten,  sich  abnützenden  praepositionen  Umschrei- 
bungen gewesen  seien.  So  strenge  Scheidungen  im  wortgebrauche,  wie  zwischen  her 
und  hin  lassen  sich  nicht  durchführen,  da  hierbei  das  jeweilig  herschende  Interesse 
den  ausschlag  gebe.  Gegen  die  gelenkigkeit  der  spräche  der  kinder  wird  bei  pedan- 
tischer strenge  in  solchen  dingen  gesündigt,  die  freiheit  der  ausdrucksweise  gefähr- 
det. Das  eigentümliche  in  der  mundart  werde  syntaktisch  zu  wenig  berücksichtigt  (vgl. 
Binz,  Zur  syntax  der  Basler  mundart,  diss.  Basel  1888).  Das  buch  von  Franke, 
Reinheit  und  reichtum  der  deutschen  spräche  sei  vom  Sprachverein  gekrönt,  ohne 
dass  es  das  syntaktische  berühre. 

1)  Der  Vortrag  ist  in  erweiterter  gestalt  abgedruckt  in  der  boilago  zur  Algemeinen  zeitnng  nr.  139 
vom  18.  juni  1891.  Red. 


PÜILOLOOENVERSAMLUNTr    1891  221 

In  dieser  frage  frische  mit  vernünftiger  strenge  zu  paaren,  sei  Sache  der  pädar 
gegen.  Dazu  gehöre  aber,  dass  die  deutsche  schulgrammatili  ihre  aufgäbe  besser 
erfasse.  Sie  führe  oft  sprachungeheuer  an  zur  illustration  von  regeln  und  ausnah- 
men. Den  frülieren  Schriften  zur  Schulreform  fehlte  es  noch  an  einer  darstellung  der 
deutschen  syntax.  Nun  aber  sei  das  ebenso  sehr  angegriffene  als  ausgenüzte  buch 
von  Oskar  Erdmann  vorhanden,  von  dem  die  anreguug  zu  grösserer  tiitigkeit  auf 
diesem  gebiete  erhoft  werden  könne. 

Der  vortragende  schliesst  mit  einem  hinblick  auf  die  nötige  abgrenzuug  gegen- 
über fremdsprachUchen  eintlüssen  (lateinisch  schon  bei  Otfrid).  Im  französischen  und 
englischen  Unterricht  seien  die  principiellen  unterschiede  hervorzuheben. 

In  der  discussion  interpelliert  pro  f.  Brenner  über  die  deklination  des  wertes 
hcrr  als  pronomen  in  schwäbischen  Urkunden;  dr.  Hermanowsky  über  „echte  und 
unechte"  praepositionen.  Ausserdem  erfolgen  bemerkuugen  über  die  Stellung  des 
finiten  verbs  und  die  auslassiing  der  hilfsverba. 

4.  Vortrag  des  herrn  dr.  W.  Golther:  „Are  I*orgilsson  und  seine 
werke".  Im  gegensatz  zu  Björn  Magnüsson  Olsen  (Aarböger  f.  nord.  oldkyndighed  og 
historie  1885,  341  fgg.  u.  Timarit  hins  islenzka  bokmentafelags  10,  214  fgg.)  vertrat 
der  vortragende  die  ansieht,  dass  Are  nur  zwei  werke,  eine  verlorene,  umfangreiche 
ältere  Islendingabök ,  aus  der  die  Laudnäma  und  Kristnisaga  flössen,  und  die  erhal- 
tene Ib.  verfasst  habe.  Gerade  die  von  Olsen  beigezogenen  stellen  zeugen  hiefür, 
indem  Stuiiimga  kap.  12  und  Landnäma  V,  12  (Islendmgasögur  I,  312  fgg.)  zusam- 
men den  inhalt  der  älteren  Ib.  repräsentieren,  aus  welcher  durch  kürzung  die  zwei 
stellen  der  erhaltenen  Ib.  (bei  Möbius  s.  4,  26  und  s.  13,  30)  hervorgiengen.  Olsens 
hypothese,  dass  der  Wortlaut  von  3  quellen  (der  alten  und  jüngeren  Ib.  sowie  einer 
besonderen  Laudnäma  Ares)  vorliege  ist  nicht  stichhaltig.  Abgesehen  von  gezwun- 
genen und  unrichtigen  auslegungen  im  einzelnen  sind  die  drei  stellen  von  Olsen  in 
falsches  abhängigkeitsverhältnis  zu  einander  gesezt.  Herr  prof.  v.  Maurer  erklärte 
seine  Zustimmung  zu  den  ausführungen  des  vortragenden  imter  hinweis  auf  seine 
demnächst  in  der  Germania  (30,  61  fgg.)  erscheinende  abhandlung  über  Are  und  seine 
werke.  Der  Schriftführer  der  section 

MÜNCHEN.  DR.    KARL   BORINSKI. 


LITTEEATUR 

Grundriss    der   germanischen    philologie,    herausgegeben    von    H.  Paul. 

I,  3  —  5  (s.  513  —  1024).     E,  I,  2  —  4  (s.  129  —  496).     II,  II,  2  (s.  129—256). 

Strassburg,  Trübner    1890.  1891.     12  m. 

Die  früher  erschienenen  hefte  dieses  Unternehmens  hat  referent  in  dieser  Zeit- 
schrift XXn,  462  fg.  XXni,  365  fg.  besprochen;  die  seitdem  veröffentlichten  sechs 
behandeln  gegenstände,  welche  zu  den  hauptfächern  der  deutschen  philologie  gehören. 
Die  di'ei  hefte  des  ersten  bandes  bringen  die  gi'ammatik  zum  abschluss.  Auf 
Noreens  geschichte  der  nordischen  sprachen  folgt  die  geschichte  der  deutschen  spräche 
von  0.  Behaghel.  Sie  fasst  in  knapper  und  doch  sehr  reichhaltiger  darstelluug  die 
grammatik  der  hoch-  und  niederdeutschen  sprachen  einschliesslich  der  mundarten 
zusammen,  so  dass  von  einem  construierten  urdeutsch  aus  die  einzelnen  sprachlichen 
kategorien  verfolgt  werden.     Diese  darstellungsweise  sezt  freilich  beim  leser  ein  ziem- 


222  MAHTIN 

liebes  mass  von  keutnisson  und  von  aufjnerksamkeit  voraus,  gewähii  aber  auch  viel- 
fach lehn'eiche  Übersichten.  Bei  so  viel  umfassendem  Inhalt  kann  es  nicht  fehlen, 
dass  einzelnes  bedenklich  erscheint.  Eeferent  möchte  zunächst  zwei  punkte  von  tief- 
greifender bedeutung  herv'orheben. 

S.  541  heisst  es:  „Den  meisten  ansprach  tonangebend  [für  die  bilduug  der 
mittelhochdeutschen  litteratursprache]  gewesen  zu  sein,  hätte  das  ostfränkische; 
denn  es  lässt  sich  wol  kein  fall  nachweisen,  wo  an  stelle  einer  angeborenen  sprach- 
lichen eigentümlichkeit  eine  solche  erschiene,  die  jener  mundaii  fremd  wäre".  Hier 
ist  ein  gegenzeuge  anzuführen,  der  aber  auch  wol  völlig  ausreicht:  Wolfram  von 
Escheubach.  Die  eigenheiten  seiner  spräche  sind  doch  gewiss  als  seiner  ostfränkischen 
muudart  augehörig  anzusehu:  jene  Vermischung  von  i  und  ie,  u  und  uo,  die  aus  den 
reimen  hervorgeht;  jene  Verwendung  von  tcenic,  wofür  einige  handschriften  liityc-el 
einsetzen ;  jene  construction  von  gein  mit  dem  accusativ  (Pai'z.  452,  28)  usw.  Dass  er 
in  vielen  dieser  abweichungen  vom  gewöhnlichen  mittelhochdeutsch  mit  dem  neuhoch- 
deutschen übereinstimt ,  bestätigt  nur  ihre  mundaiiliche  herkunft;  denn  das  uhd. 
richtet  sich  ja  wesentlich  nach  dem  mitteldeutschen,  wo  es  die  mittelhochdeutsche, 
d.  h.  alemannische  grundlage  verlässt:  Dass  das  alemannische  wirklich  der  boden  des 
mhd.  war,  fühlen  heute  noch  die  am  Oberrhein  heimischen:  sie  empfinden  beim  ler- 
nen des  mhd.  beständig  die  verwantschaft  ihrer  mimdart  mit  der  mhd.  Schriftsprache: 
das  wird  jeder  gehört  haben,  der  einmal  Schweizer,  Elsässer,  Badenser  im  mhd.  zu 
unterrichten  hatte.  Diese  verwantschaft  zeigt  sich  nicht  nur  in  den  lauten,  sondern 
auch  im  genus  der  substantiva,  in  Wortwahl  und  wortgebrauch,  in  der  syutax.  AVas 
wollen  diesen  zahkeichen  Übereinstimmungen  gegenüber  die  paar  volvocalischen 
endungen  alemannischer  Urkunden  besagen,  die  man  zum  hebel  gebraucht  hat,  um 
die  von  selbst  sich  aufdrängende,  schon  von  Bodmer  ausgesprochene  erkentuis  von 
der  alemannischen  grundart  des  mhd.  umzuwerfen! 

Auf  derselben  s.  541  wird  von  der  kanzleisprache ,  als  dem  ausgangspunkt  der 
neuhochdeutschen  sprachentwicklung  gesprochen,  dabei  aber  völlig  verschwiegen, 
dass  dieser  nhd.  charakter  zuerst  und  zwar  in  den  hauptpuukten  durchaus  entschieden 
um  1350  in  Böhmen  auftritt.  Das  hat  Müllenhoff  mit  volgiltigen  belegen  gezeigt; 
referent  hat  weitere  beweismittel  beigebracht.  "Wo  ist  diese  denn  doch  sehr  wesent- 
liche tatsache  widerlegt  worden?  Die  widerspruchsvollen  bemerkungen  von  v.  Bahder, 
Grundlage  des  nhd.  lautsystems  s.  3  fg.  sind  doch  keine  Widerlegung.  Referent  muss 
diese  klage  um  so  mehr  betonen,  als  sich  bereits  stimmen  hören  lassen,  welche 
geradezu  die  Vertreter  der  angeführten  wissenschaftlich  begründeten  ansichten  ver- 
höhnen. Prof.  Brenner  in  einer  recension  meiner  mhd.  gi'amm.  nebst  wöiierb.  zu  der 
Nib.  not  sagt  in  den  Blättern  für  das  bayerische  g-jannasialschulwesen  1890,  480: 
„Martin  hat  sonderbare  dinge  stehen  lassen:  das  alemannische  am  Oberrhein  soll  dem 
mhd.  am  nächsten  gestanden  haben;  am  Main  wurde  statt  tio  ü  gesprochen,  in  Böh- 
men habe  die  deutsche  bevölkerung  einen  mischdialekt  ausgebildet  ..."  Da  die 
redaction  dieses  bajTischen  schulblattes  eine  entgeguimg  nicht  berücksichtigt  hat,  so 
möchte  ich  die  gelegenheit  nicht  vorübergehen  lassen  öffentlich  zu  einer  wissenschaft- 
liclien  Widerlegung  oder  zur  anerkennung  der  auch  von  mir  vertretenen  annahmen 
aufzufordern. 

Noch  ein  priucipieller  punkt  bedarf  der  erörterung.  S.  598  sagt  Behaghel: 
„Die  theateraussprache  von  t  als  tenuis  aspirata  ist  ein  reines  kunstprodukt " ;  s.  588 
wird  das  etwas  deutlicher  und  vorsichtiger  erläutert.  Es  ist  ja  möglich,  dass  das 
bestreben,    den  orthographisch  überlieferten  unterschied  von  d  und  t  auch  phonetisch 


VliER    PAUL,    CiRUNDRISS    DV;R    GERM.    I'HIL.    I.    II  223 

geltend  zu  inaiheii,  aul'  die  asiuration  dos  .lulautondeii  /  hiugcwiikt  hat;  aber  dio 
theaterspracho  hat  dies  bestreben  gewiss  iu  keiner  weise  gefördert,  geschweige 
denn  liervorgerulen.  Überhaupt  wird  der  bülmensprache  viellaeh  eine  weit  übeilrie- 
bene  bedeutung  beigelegt.  Von  irgend  einem  einfluss  auf  die  Umgangssprache,  von 
irgend  einer  mustcrgiltigkeit  kann  höchstens  seit  Lessings  auftreten,  also  rund  von 
1750  ab,  als  von  einer  möglichkeit  geredet  worden.  In  Wahrheit  abc;r  hatte  noch 
Goethe  um  1800  als  theaterdirekter  sein(;  li(;be  iiet  (hunit  den  srhauspielcrn  di»;  aus- 
spräche der  gebildeten  kreise  beizubringen:  sielie  z.  b.  CJui'thcs  gesprileiie  herausg. 
von  W.  freiherrn  v.  liioderinann  1,  219.  Von  ausdrücklieheii  fostsetzungen  üljer  die 
biihneuaussprachc  z.  b.  des  (j  wüste  icli  erst  aus  den  70er  jähren  unseres  Jahr- 
hunderts. In  jedem  fall  folgt  das  theater  der  spräche  der  gebildeten  kreise  erst 
nac'h.  Auf  diese  und  auf  das  ganze  Volk  hat  vielmehr  ein  anderer  faktor  mass- 
gebend eingewirkt,  dei-  wcnigstriis  lici  üi'haghel  nicht  genügend  hervorg(.'hoben  wird, 
die  kanzel.  ^Man  kann  sagen:  von  lUfiO  bis  15.50  ist  das  neuhochdeutsche  kanz- 
leisprache;  von  da  bis  wenig.stens  1750  ist  es  kanzelspraehe.  Der  schulunterriclit 
schloss  sich  der  kanzel  au.  Ein  beispiel  ihrer  Wirksamkeit  ist  das  nhd.  vafcr  mit 
langem  rr,  neben  ijerdller  mit  kurzem.  Der  oberdeutsche  spricht  muudai'tlich  futrr, 
und  noch  Goethe  sprach  so,  wie  aus  Goethes  gespr.  8,  344  zu  entnehmen  ist.  Die 
Vermutung  liegt  nahe,  dass  das  lutherische  Vater  unser  die  dehuuug  auch  nach  Süd- 
deutschland brachte;  so  wird  auch  das  gieh  sein  J  erhalten  haben.  Übrigens  soll 
nicht  geleugnet  werden,  dass  gerade  im  ernsten  Schauspiel  die  dialektische  aussiirache 
besonders  störend  erschien,  wofür  i'in  lieispiel  die  iu  Dauzels  Gottsched  266  berührte 
Strassburger  aufführ ung  gibt;  nur  dass  nicht  vou  Gottscheds  Cato,  sondern  vom  Po- 
lyeuct  der  frau  Link  die  rede  ist  (s.  Jahrbuch  des  Vogeseuclulis  VII,  118).  Auch 
mögen  die  Wanderungen  guter  truppen  oder  gastspiele  hervorragender  schausiiieler  zur 
Verbreitung  der  neuhochdeutschen  musteraussprache  beigetragen  haben. 

Vou  streitigen  einzelheiten  Ijerühre  ich  nur  noch  auf  s.  009  irdnächaffrii ,  das 
allerdings  auch  Lexer  mit  d  schreibt.  p]s  ist,  wie  die  belege  zeigen,  aus  dem  nie- 
derdeutsclien  entlehnt,  wo  ivaii-  vielfach  als  negations[iartikel  erscheint:  iranliöde 
Vernachlässigung,  ivanhüp,  /rainiie//(/c/t  usw.  und  solte  ebenso  wie  iranirit\e  mit 
kurzem  a  bezeichnet  sein. 

S.  530  ist  boische  einwandcruug  wol  für  slawische  e.  gesezt.  Ebenda 
ist  die  behauptung  irrig,  dass  seit  der  Hussitenbewegung  das  deutsche  iu  Böhmen 
fortdauerud  rückschritte  gemacht  habe:  der  anschluss  der  böhmischen  brüder  an 
Luther  hat  das  deutschtum  in  Böhmen  gefördert,  die  gegenreformation  seit  1620  hat 
das  tschechische  unterdrückt,  und  zwar  mit  gew'alt  und  mit  fast  volstäudigem  erfolg, 
soweit  es  sich  um  die  litteratur  handelt. 

S.  531  wird  von  den  deutschen  eigenuamen  in  Urkunden  gesagt,  dass  sie  ausser 
St.  Gallen  in  den  deutschen  stamlanden  erst  seit  dem  9.  Jahrhundert  erscheüieu: 
AVeissenburg  uud  Mui-bach  bieten  sie  doch  schon  um  700.  —  Die  s.  335  angegebene 
abgränziuig  des  niederdeutschen  vom  mitteldeutschen  weicht  sehr  stark  ab  von  der 
durch  Eichard  Andree  im  Globus  LIX  n.  2  und  3  (mit  einer  sehr  hübscheu  karte) 
bestirnten:  wo  das  richtige  liegt,  ist  vielfach  wol  noch  zu  untersuchen.  —  S.  625 
wäre  für  die  genusübergänge  wol  zu  bemerken  gewesen,  dass  zwischen  mhd.  und 
nhd.  der  unterschied  öfters  auf  andere  mundartliche  grundlage  zurückgeht:  z.  b. 
hhane  ist  fem.  im  nhd.  wie  bei  Otfrid,  mhd.  masc.  Vergleiche  hierfüi-  namentlich  die 
reichen  samluugen  in  Weinholds  Mhd.  gramm.  §  309  —  311. 


224  MARTIN 

Von  druckfehlern  notiere  ich  die  folgenden:  s.  527  ScJimierlach  st.  Sehnier- 
lach,  539  Telft  st.  Telfs,  560  Stväbe  st.  Swäp,  ebd.  kürzung  von  st.  Idirzung  vor, 
596  hwartum  st.  hwurbum.     Öfters  ist  ä  für  d  gesezt  worden. 

Als  6.  teil  des  V.  abschnittes  scbliesst  sich  an:  Geschichte  der  niederländischen 
spräche  von  Jan  te  Winkel,  also  von  einem  Niederländer,  dem  zunächst  die  cor- 
rectheit  des  deutscheu  ausdrucks  lobend  nachzusagen  ist,  abgesehen  von  wenigen 
hollaudismen ,  wie  auscjeiviclicn  für  (jeflücläet ,  blieb  über  anstatt  blieb  übrig  u.  ä. 
Hunde  s.  688  ist  druckfehler.  Die  anordnung  lässt  zu  wünschen  übrig;  von  den  ver- 
schiedenen orthographischen  Systemen  ist  s.  641  fgg.  und  wider,  aber  ausfülii'licher, 
s.  658  fgg.  die  rede;  ebenso  wird  der  einüuss  des  französischen  mehrmals  behandelt. 
Dies  liegt  zum  teil  an  der  erweiterung  des  gesichtskreises ,  in  welchen  von  te  Winkel 
auch  Wortbildung  und  syntax  hineingezogen  werden,  während  sonst  meist  nur  laut- 
und  flexionslehre  behandelt  worden  sind.  Diese  mannigfachen  gegenstände  erscheinen 
allerdings  öfters  in  einer  unerwarteten  Verbindung  imd  reihenfolge  behandelt.  Bei  den 
differenzen  zwischen  holländisch  und  flämisch  ist  das  leidige  confessionelle  element, 
welches  auf  die  trennung  und  auseinanderhaltung  besonders  hingewirkt  hat,  nicht 
angeführt.  Einzelnes  erscheint  unrichtig.  S.  648  „In  stnoel  neben  mtiil  haben  wir 
wol  ein  späteres  westfälisches  oder  rheinisches  lehnwoii;  mit  nicht  verstandenem  s 
aus  das  mül"-.  Hier  wäre  schon  das  anstatt  dat  auch  für  die  nächsten  nachbarn  der 
Niederländer  nicht  anzunehmen.  Vielmehl-  haben  wir  ja  in  schmollen,  mhd.  smielen 
das  vprb,  zu  dem  das  nl.  Substantiv  gehört.  S.  670:  „Sehr  eigentümliche  imperative 
sind  im  mnl.  sich  von  sisn,  lach  von  laen  neben  taten,  divach  von  dwaen,  stach 
von  slaen,  doch  von  doen,  ganc  von  gaen,  stant  von  staen"-.  Hier  hätten  doch  wol 
die  aus  älteren,  im  hochd.  erhaltenen  formen  ganz  leicht  ei klärbaren  sich  usw.  von 
den  beiden  analogieformen  lach  (auch  mhd.)  und  doch  getrent  werden  müssen.  S.  682 
werden  die  weiblichen  bildungen  graefnede,  sivaesenede  und  gesetnede  auf  Zusammen- 
setzung mit  altsächs.  ides  zurückgeführt:  schwerlich  mit  recht;  lautlich  entsprechen 
vielmehr  völlig  ableitmigen  auf  mlat.  ata,  wie  mansionata  auch  mesneda  ergibt 
(s.  Ducange).  685  ^,oorlog  (aus  tirlugi)  bedeutet  das  flamme  verursachende;  vgl. 
ags.  ortege,  mhd.  urtüge  . . .";  diese  mhd.  form  ist  erst  in  jungen  quellen  und  ver- 
mutlich mit  langem  ü  überliefert;  auch  ist  die  bedeutung  des  verursachens  abzuleh- 
nen, da  mhd.  tir-  (=  got.  us)  in  den  nomina  dem  mhd.  er-  in  verben  gleichsteht, 
also  nur  hervorgehn  aus  etwas  gemeint  ist.  Dies  zu  s.  684;  ebenda  fehlt  die  ver- 
wendimg  des  praefix  tvan  zur  negation,  wie  in  tvanconnen.  686  wird  minne  als 
verstümmelt  aus  minnemoeder  bezeichnet;  aber  auch  das  mhd.  hat  minne  ohne  wei- 
tere Zusammensetzung  für  grossmutter  oder  mutter;  ebenso  steht  es  mit  den  meisten 
übrigen  Wörtern,  die  nach  dem  Verfasser  verstümmelt  sein  sollen.  704  wird  der  kel- 
tische Ursprung  von  lign  und  Nymwegen  mit  imrecht  angezweifelt.  Falsche  formen 
fremder  sprachen  s.  701  Friggadagr  und  709  n'exceptee  jjersonnc. 

Widerum  auf  laut-  und  flexionslehre  beschränkt  sich  7.  die  geschichte  der 
friesischen  spräche  von  Th.  Siebs.  Der  nicht  eben  reiche  Sprachschatz  des  frie- 
sischen wird  klar  und  übersichtlich,  vielleicht  etwas  breit  dargestelt,  mit  vorsichtiger 
betonung  des  sicheren  und  des  ungewissen.  Der  volksname  wird  aus  got.  fraisan 
erklärt:  „die  in  gefahr  (d.h.  in  wassergefahr)  schwebenden";  warum  nicht  die  erprob- 
ten? oder  die  kühnen?  der  uralte  name  wird  doch  wol  ein  auszeichnendes  lob  sein; 
und  nach  den  Zeugnissen  der  alten  lebten  die  Chauken  noch  mehr  als  die  Friesen 
in  gefährdeter  läge. 


ÜBER    PAUL,    GRUNDRISS    DER    GERM.    PHIL.    I.    II  225 

Um  SO  reicher  erscheint  dem  friesischen  gegenüber  die  geschichte  der  eng- 
lischen spräche,  von  Khige  bearbeitet,  dem  für  die  geschichte  der  französischen 
bestaudteile  1).  Behrens,  für  die  syntax  E.  Eineukel  zur  seite  getreten  sind.  Es 
ist  eine  überaus  grosse  fülle  an  tatsaohen  und,  wie  Kluge  selbst  hervorhebt,  eine 
noch  grössere  fülle  von  anregungen  zu  weiterer  forschung,  die  sich  liier  darbietet. 
Für  das  mittelenglische  ist  namentlich  ten  Brinks  buch  über  Chaucers  spräche 
benuzt  worden.  Ein  paar  mal  scheinen  nicht  alle  möglichkeiten  erwogen  worden  zu 
sein:  wenn  (s.  840)  der  niangol  der  palatalisierung  in  aengl.  sco/ darauf  zurückgeführt 
wird,  dass  lat.  scola  erst  später  als  scrinium  {shriiie  gegenüber  von  school)  u.  a. 
eingeführt  worden  sei,  so  lässt  sich  doch  wol  auch  denken,  dass  der  beständige 
gebrauch  des  fremden  wertes  in  der  klosterschule  auch  die  fremden  laute  geschüzt 
habe.  Widerholungen  sind  auch  in  diesem  beitrage  Kluges  nicht  vermieden:  s.  870 
wird  sogar  dieselbe  belegschrift  z.  9  und  z.  14  angeführt.  Der  abschnitt  über  die 
Syntax  ist  übermässig  knapp:  s.  911  heisst  es,  dass  stielte  usw.  „ihr  gescldecht 
ändern'^;  welches  sie  vorher  hatten  und  nachher  erhalten  haben,  wird  nicht  gesagt. 
Schriften  von  Rosenbauer,  Dubislav  usw.  werden  ohne  jede  nähere  angäbe  citiert. 
Zum  vergleich  mit  den  syntaktischen  eigentümlichkeiten  des  älteren  engUsch,  wofür 
übrigens  wesentlich  niu'  auffallende  Verwendungen  von  pronom^ina  und  partikeln 
angeführt  werden,  dienen  altfranzösische,  von  A.  Tobler  vermerkte;  dass  germanische 
sprachen,  insbesondere  die  niederländische,  aber  auch  das  nihd.,  viel  ähnliches  zeigen, 
hätte  in  einem  grundrisse  der  germanischen  philologie  wol  gesagt  werden  können. 

Als  anliang  zur  Sprachgeschichte  folgt  die  bearbeitung  der  lebenden  mundarten. 
Algemeine  grundzüge  schickt  Ph.  "Wegener  voraus,  mit  berücksichtigung  des  Mag- 
deburgischen für  die  beispiele  und  mit  praktischem  sinn  für  die  anleitung  zu  diesen 
forsehungen.  Für  die  deutschen  mundarten  gibt  F.  Kauffmann  eine  sorgfältige 
bibliographie.  Die  skandinavischen  behandelt  J.  A.  Lund eil,  die  englischen  J.  Wright, 
beide  mit  eignen  methodologischen  bemerkungen  über  geschichte  und  umfang  der 
mimdarten.  Vielleicht  wäre  es  nicht  unmöglich  gewesen,  irgendwo  die  germanische 
schifferkoine  zu  behandeln,  von  der  s.  937  mit  recht  die  rede  ist  und  welcher  eine 
gemeinsprache  der  romanischen  Seeleute  gegenüber  stehen  soll.  Auch  das  juden- 
deutsch hätte  doch  wol  berücksichtigung  verdient,  w^elches  —  aus  kulturhistorischen 
veiiiältnissen  erklärlich  —  auch  auf  das  gaunerdeutsch  eingewirkt  hat.  An  litteratur 
für  diese  beiden  leztgeuanten  fehlt  es  bekantlich  nicht. 

Den  schluss  des  ersten  bandes  bildet  die  mythologie,  welche  eigentlich  mit 
der  heldeusage  zusammenhängen  und  mit  dieser  den  litte  rarhistorisch  eu  teil  eröfneu 
solte;  räumliche  rücksichten  haben  wol  die  abgrenzuug  der  bände  bestirnt.  Die 
mythologie,  von  Mogk  bearbeitet,  liegt  bis  jezt  nur  zum  teil  veröffentlicht  vor,  so 
dass  ein  urteil  über  diesen  ganzen  abschnitt  besser  noch  ausgesezt  wird.  Nur  einzel- 
heiten  mögen  schon  jezt  zur  spräche  kommen.  Von  Müllenhoffs  arbeiten,  die  nach 
dem  mieil  des  referenten  die  wege  zu  einer  wissenschaftlichen  behandluug  der  deut- 
schen mythologie  überhaupt  erst  eröfuet  haben,  fehlt  auf  s.  99.5  die  zulezt,  allerdings 
nach  dem  tode  des  Verfassers  erschienene:  Frija  und  der  halsbandmy thus ,  ztsclir.  f. 
d.  a.  30,  217  —  260.  —  S.  100.5  heisst  es:  „Interessant  ist  im  hinblick  hierauf  [auf 
den  glauben  von  dem  vorleben  der  seele]  die  Vorstellung,  die  der  Schwede  im  mit- 
telalter  von  der  menschlichen  seele  hatte:  er  stelte  dieselbe  dar  als  kleines  kind,  das 
der  sterbende  aus  dem  munde  hauchte  .  .  Die  Seelen  können  also  als  kiuder  wider- 
geboren werden".  Die  augeführte  Vorstellung  ist  algemein  christlich  und  dui'ch  mit- 
telalterliche bilder  in  Deutschland  und  Italien  häufig   bezeugt:    im  Hortus  deliciarum 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHII.OLOGIE.     ED.   XXFV.  lO 


226  MARTIN 

der  Herrad  von  Laudsberg  (in  Straubs  ausgäbe  der  bilder  pl.  XXXIII);  drei  Jahrhun- 
derte später  bei  Diebold  Lauber  (Geffcken,  Bilderkateehismus  des  lo.jahrh.,  tafel  XI 
und  XII) ;  auf  dem  bekanten  ^Triumph  des  todes"  im  Campo  Santo  zu  Pisa,  der 
Orcagna  zugeschrieben  wurde,  und  noch  später  auf  itaUänischen  bildern  (Denkm.  der 
kunst,  volksausg.  tafel  62).  —  Zu  s.  1014  y,valr  =  die  leichen,  toten,  valkyrja,  väl- 
eyrie  totenwähleriu "  durfte  nicht  verschwiegen  werden,  dass  es  sich  bei  ival  nach 
allen  Zeugnissen  (wie  es  ja  jezt  noch  in  „"Walstatt"  der  fall  ist)  um  die  im  kämpfe 
gefallenen  handelt;  dass  ferner  die  verwantschaft  einerseits  mitwählen,  andrerseits  mit 
wälzen  und  wallen  auf  die  Vorstellung  von  den  im  gewaltsamen  tode  sich  ura^^'äl- 
zenden,  sich  übereinander  wälzenden  sterbenden  hinweist.  Die  Verbreitung  der  Wör- 
ter ival,  wie  sie  zumal  durch  den  gebrauch  in  zusammengesezten  namen  sich  kund- 
gibt, und  der  Zusammenhang  mit  dem  kriegerleben  geben  auch  dem  begriff  der 
Walküre  im  alten  Germanenglauben  eine  vorzügliche  stelle,  und  es  ist  wol  grund 
vorhanden  anzunehmen,  dass  erst  mit  dem  verblassen  dieser  Vorstellung  sich  die  — 
vielleicht  an  sich  älteren  —  Vorstellungen  von  dem  geistergesindel  der  maren,  tru- 
den,  hexen  usw.  wider  in  den  vordei'grund  gedrängt  haben.  Den  griechischen  keren 
vergleichbar,  stehen  die  walküren  recht  mitten  in  der  heroischen  Weltanschauung; 
die  nornen  erscheinen  ebenfals  in  solcher  besonderer  beziehung  zu  kämpf  und  tod, 
so  dass  sie  wol  als  veralgemeinerung  jenes  schicksalsbegriffes  gelten  dürfen. 

Von  Mogk  ist  auch  die  geschichte  der  norwegisch -isländischen  litteratur  ver- 
fasst,  mit  deren  beschluss  das  2.  heft  desl.  bandos,  I.  abteilung  begint.  S.  136  erhält 
Gautier,  der  dichter  der  lat.  Alexandreis,  mit  unrecht  noch  den  vornameu  Ph(ilipp?). 

Hieran  schliesst  sich  die  Geschichte  der  schwedisch -dänischen  litteratui'  von 
H.  Schuck.  S.  149  ist  Genoveva  wol  ein  Lapsus  calami  für  Griseldis.  Die  geschichte 
dieser  an  sich  weder  durch  Inhalt  noch  durch  form  anziehenden  litteratur  hätte  viel- 
leicht durch  die  besondere  rücksicht  auf  deutsche,  natürlich  meist  niederdeutsche 
Vorbilder  und  pai'allelen  noch  einen  eigenen  wert  erhalten  kömien;  dazu  wäre  s.  151 
bei  den  Dyre-rim  (vgl.  s.  432),  dem  Broder  Eus  (vgl.  s.  431)  und  sonst  gele- 
genheit  gewesen. 

Für  deutsche  leser  tritt  mit  der  althoch-  und  altniederdeutschen  litteratur, 
deren  geschichte  Kögel  geschrieben  hat,  wider  das  heimatliche  Interesse  hervor. 
Kögel  hat  die  dürftigkeit  und  lückenhaftigkeit  der  quellen  durch  ki'itische  behandlung 
aufzuheben  gesucht,  auch  manches  neue  geboten,  dem  jedoch  referent  keineswegs 
durchweg  zustimmen  kann.  S.  163  heisst  es  vom  Wiener  liuudesegeu ,  es  sei  dabei 
nicht  an  einen  hirten  zu  denken  .  .  „Auch  bleibt  der  hirtenhund  bei  der  herde  und 
läuft  nicht  durch  wald  und  feld".  Hier  gibt  aufschluss,  was  bei  Schmeller  B.  wb.  II  ^, 
902  über  die  wolfssegen  mitgeteilt  wird  und  auffallender  weise  auch  von  Müllenhoff 
in  den  denkmälern  nicht  beuuzt  worden  ist.  In  diesen  wolfssegen  wird  das  vieh  vor 
wolf  und  Wölfin  sowie  vor  dieben  in  schütz  genommen,  wenn  es  7iu  holex  und  xtt 
veld  .  .  XU  waid  und  zu  wasser  geht.  Für  die  Aveidenden  tiere  ist  also  der  wolfs- 
segen bestirnt,  und  die  einfüguug  der  hunde  und  Iiündiunen  ist  eine  Verdrehung  des 
echten  textes,  die  allerdings  wol  ein  Jäger  (oder  ein  hundezüchter?)  vorgenommen 
haben  mag.  Dass  der  h.  Martin  als  hirte  genant  wird,  stimt  zu  einem  lateinischen 
liedcheu  bei  Du  Meril,  Poesie  du  M.  A.  111:  0  Martine.,  pastor  egregie,  Nos  a 
lupi  defendas  rabie  Saerientis.  —  S.  165  fehlt  der  Züricher  milchsegen:  Germ.  22, 
352  fg.  —  S.  166  ist  die  Vermutung,  dass  die  Germanen  in  der  schlacht  den  rhyth- 
mus  ihrer  gesänge  durch  anschlagen  der  Schwerter  an  die  schilde  markiert  hätten, 
dui'ch    die    angeführten  Tacitusstellen    schwerlich    gerechtfertigt.     Dagegen    hätte   bei 


ÜBER   PAUL,    GRÜXDRISS    PER    GER>r.    rifTL.    I.    11  227 

aiifühnmg  von  Tac.  Germ.  3  der  barditus  wol  auch  erwiUiiit  und  erläutert  werden 
kiiuueii.  —  S.  168  wird  die  annähme  von  germanischen  klageliedorn  an  der  bahre 
vor  der  bestattung  durch  die  griechischen,  römischen  und  slavisclieu  beispiele  nicht 
genügend  gestüzt,  zmnal  Tacitus  ausdrücklich  den  gegensatz  gegen  die  römisclie  toteu- 
feier  hervorhebt.  —  Nach  s.  171  „liatte  Notker  der  Deutsche  über  undankbare  klo- 
sterschüler  zu  klagen,  die  verslein  auf  ihn  machten";  aber  Henrici  QF.  29,  187  zeigt, 
dass  die  als  zusatz  Notkers  bezeichnete  stelle  schon  bei  Augustinus  steht.  Auf  der 
folgenden  seite  ist  die  Übersetzung  von  ersaxta  durch  „sezte  an",  die  MüUenhoff  gege- 
ben und  durcli  beispiele  gestüzt  hatte,  sehr  burschikos  durch  verweis  auf  das  setzen 
(„pouieren")  doi-  Studenten  abgetan  worden.  Für  die  spotlieder  hätte  auf  Ztschr.  f. 
d.  a.  18,  2G1  fg.,  33,  437  fgg.  verwiesen  werden  sollen;  ebenso  wegen  der  rätsei  und 
Sprichwörter  auf  Voigt  Ztschr.  f.  d.  a.  30,  260  fgg.  352,  sowie  auf  dessen  ausgäbe 
(,1er  Fecunda  ratis  von  Egbert  von  Lüttich  (Halle  1889).  —  Besonders  ausführlich 
ist  das  Hildebrandslied  behandelt;  aber  refereot  bedauert  sagen  zu  müssen,  dass 
er  gerade  hier  viel  zu  beanstanden  jBndet.  Zunächst  hätte  unter  den  hilfsmitteln  hier 
wie  sonst  auch  das  facsimile  in  Könnekes  bilderatlas  angeführt  werden  sollen.  S.  176 
behauptet  Kögel:  „Die  herschende  meinung  ist  seit  Holtzmann,  dass  ein  Niederdeut- 
scher habe  hochdeutsch  schreiben  wollen".  Referent  kann  versichern,  dass  alle  ihm 
persönlich  bekanteu  germanisten  diese  meinung  nicht  geteilt  haben;  und  wenn  K. 
auf  die  inzwischen  gestorbenen  keine  rücksicht  nehmen  will,  so  leben  doch  noch 
Rieger,  Heinzel  u.  a.,  die  sich  für  den  niederdeutschen  Ursprung  des  liedes  aus- 
gesprochen haben.  Kögel  uent  Müllenhoifs  beweisgründe  für  diesen  Ursprung  dürf- 
tig: uns  schienen  sie  sclilagend.  Was  sonst  schon  Lachmann  über  die  niederdeutsche 
syntax  des  liedes  gesagt  hat,  verschweigt  er;  ebenso  die  behandluug  des  lautstandes 
und  Wortvorrats  durch  Socin,  Schriftsprache  s.  54  fgg.,  während  doch  bei  diesem  mit 
recht  auch  das  bemerkt  ist,  was  vom  sächsisch -niederdeutschen  ab-  und  auf  einen 
grenzdialekt  hinweist.  Dazu  komt  übrigens  noch  der  gebrauch  der  praep.  in,  die 
as.  durch  an  vertreten  ist.  —  Kögel  behauptet,  dass  urhettun  als  „kämpfer"  aus  dem 
ahd.  nicht  verständlich  sein  würde,  wol  aber  aus  dem  niederdeutschen  sprachkreise, 
wenn  es  aucli  im  as.  zufällig  rdcht  belegt  wäre.  Warum  soll  nun  das  fehlen  der 
bedeutung  im  ahd.  nicht  auch  zufall  sein?  Die  in  den  Gl.  Ker.  251,  29  überlieferte 
bedeutiuig  von  urheizTio  =  suspensus  kann  übngens  doch  nur  ebenso  tropisch  verstan- 
den werden,  wie  in  dem  unmittelbar  vorhergehenden  pikeizit  =  susj)endit,  pollicehtr; 
oder  wie  soll  die  sinlichc  bedeutung  von  „hängen"  dem  mit  heixxan  zusammengesez- 
ten  werte  zugekommen  sein?  urheixxo,  als  „kämpfer"  gefasst,  führt  auf  den  begriff 
des  woxdi.  he it  strenrija,  worüber  Grimm,  RA.  900  zu  vergleichen  ist  und  wovon,  ohne 
die  speciell  nordischen  formen,  Beowulf  676  fgg.  ein  beispiel  gibt.  "Wie  es  aber  mög- 
lich war,  diesen  begriff  lat.  durch  suspensus  wider  zu  geben,  darüber  möge  eine 
Vermutung  gestattet  sein.  Manche  ausdrücke  und  gebrauche  des  germanischen  fech- 
terwesens  sind  uralt  und  können  schon  bei  den  römischen  giadiatoren  üblich  gewesen 
sein,  welche  grossenteils  Germanen  waren.  (Seneca  sagt  ep.  70  §20  in  einer  überaus 
drastischen,  hier  nicht  mitteilbaren  geschichte:  in  Indo  hestiariorum  unus  e  Germa- 
nis cum  ad  matutina  spectacula  pararetur).  Ein  beispiel  für  diesen  Zusammen- 
hang bietet  der  iimstand,  dass,  wie  der  besiegte  gladiator  um  sein  leben  flehend  einen 
linger  emporreckt,  so  auch  im  rosengailen  die  besiegten  riesen  es  tun:  Grimms  ausg. 
1174  11  f  recket  im  die  fmger  der  rise  Püsolt.  Ebenso  könte  es  auch  altgerma- 
nischer brauch  sein ,  den  ich  freilich  nur  aus  ritterlicher  poesie  (Uhich  Lanz.  5429  fgg.) 
nachweisen   kaim,    dass   der  sich   zuni  kämpf  erbietende  einen  schild  aushängte,    wie 

15* 


228  MARTIN 

noch  später  die  meistersiuger  zum  wctsingen  aufforderteu ,  indem  sie  einen  kränz 
aushängten  (Wackernagel  LG.-  §  74,  13).  So  würde  der  urheizxo  insofern  stispen- 
sus  genant,  als  er  einen  schild  oder  ein  sonstiges  zeichen  der  herausforderung  auf- 
gehängt hat;  und  ebenso  würde  sich  die  giosse  piheizit  =  suspcndit  erklären.  Vgl. 
übrigens  auch  unten  II,  2,  185,  wonach  der  dingfrieden  durch  einen  aufgehäng- 
ten Schild  bezeichnet;  als  „ding"  wurde  ja  auch  der  gerichtliche  Zweikampf  auf- 
gefasst  (ivchadinc).  Ich  könte  schliesslich  mich  noch  auf  die  heutige  Studenten- 
sprache berufen,  welche  „mit  einem  hängen"  von  einem  zum  duell  bestimten  ge- 
braucht; ich  würde  damit  dem  beispiel  Kögels  folgen,  dessen  deutung  von  ersaxta 
s.  172,  wie  oben  bemerkt,  sich  ebenfals  auf  die  heutige  Studentensprache  stüzt.  — 
S.  177  heisst  es  zu  v.  20,  dass  bür-  als  „kammer,  frauengemach"  nicht  hochdeutsch 
sei.  Aber  hat  es  hier  diese  bedeutung?  Kann  es  nicht  bedeuten:  haus  (so  übersezt 
Lachmann,  Kl.  sehr.  s.  425)  oder  auch  wohnort?  vgl.  zu  der  lezten  annähme  He- 
iland 196  barn  an  burgun  und  205  M.  —  Für  z.  2G  vonnutet  Kögel  dehUsto  mit 
Verweisung  auf  ahd.  glossen  derotus  =  kideht;  also  liier  soll  das  ahd.  für  das  nie- 
derdeutsche mit  gelten.  Allein  wie  erklärt  sich  kideJtt  etymologisch?  Graphisch 
leichter  ist  auf  jeden  fall  die  conjectur  dcncJnsio,  welche  Scherer,  Ztschr.  f.  d.  a.  20, 
380  eingehend  begründet  hat,  und  deren  ableitung  keine  Schwierigkeit  bereitet.  ■ — 
Zu  s.  35  dat  bemerkt  Kögel:  Dass-säfze  ohne  vorhei-gehenden  hauptsatz  begegnen 
zwar  auch  sonst,  aber  nicht  in  dem  hier  durch  den  Zusammenhang  geforderten 
sinne".  Demgegenüber  verweise  ich  auf  Lachmanns  anmerkuug,  die  ich  Ztschr.  f.  d. 
a.  34,  281  mitgeteilt  liabe,  und  wozu,  wie  J.  Stosch  mich  mit  recht  erinnert,  ich 
auch  auf  Beneckes  anm.  zu  Iwein7928,  Haupts  zu  Erek  4068,  sowie  auf  Priestereid 
(Denkmäler  -  LXVIII)  besonders  mit  dem  schluss  der  dazu  gehörigen  anmerkuug  mich 
hätte  beziehen  sollen.  Auch  die  heutige  Volkssprache  kent  Versicherungssätze  mit 
„dass"  ohne  vorhergehendes  verbum:  Arnold  Pfingstmontag  III,  2  (Bcrwcl)  dass  ich 
ne  ivurr  verwitsche !  IV,  5  (Lizeuziat)  dass  ich  als  %eUe  wäj  rJ  Nachts  nimm  iviirr 
gehn!  IV,  6  (Mehlbrüh)  dass  ich's  (jewiss  nit  lyd.  Die  textveränderung  Kögels 
huat  ist  somit  übei-flüssig.  —  Noch  weniger  zu  billigen  ist  die  freilich  schon  von 
anderen  vorgeschlagene  abänderung  der  alliteration  in  v.  48  r'tclir  :  recclieo.  Mit  sol- 
chen gewaltsamen  mittein  die  folgerung  Lachmauus,  dass  das  lied  in  einem  nieder- 
deutschen grenzdialekt  gedichtet  sei,  beseitigen  ist  nichts  als  eine  petitio  princi- 
pii.  —  In  bezug  auf  die  sage  vermutet  Kögel  s.  180,  dass  Theodorich  als  verbauter 
an  die  stelle  des  von  Odoaker  abgesezten  Eomulus  getreten  sei:  aber  wenn  selbst  die 
grösten  römischen  kaiser  und  feldherrn  von  der  deutschen  heldensage  volständig  ver- 
gessen worden  sind,  so  hatte  sie  für  eine  derartige  puppe  doch  erst  recht  kein 
gedächtnis.  —  Schliesslich  wird  das  gespräch  von  Hildebrant  und  Hadubrant  als  das 
tragische  gegenstück  zu  dem  von  Glaukos  und  Diomedes  bezeichnet:  wem  ist  mit  sol- 
chen ganz  fern  abliegenden  vergleichen  etwas  gedient? 

Bogreiflicherweise  kann  im  übrigen  Kögels  litteraturgeschichte  nicht  ebenso 
eingehend  kritisiert  werden.  Nur  noch  zu  den  ältesten  und  wichtigsten  deukmälern 
seien  folgende  bemerkungen  gestattet.  Für  den  altsächsischen  Ursprung  des  AVesso- 
brunner  gebets  wird  s.  196  geltend  gemacht,  dass  ahd.  want  nur  paries  bedeute, 
nicht  wie  as.  '''went  grenze,  wofür  als  beweis  as.  giivand  angeführt  wird.  Aber  aus 
mild,  (jeivende  neben  getvande  „ackermass"  ist  für  das  ahd.  simplox  dieselbe  bedeu- 
tung zu  erschliessen,  und  das  aus  den  Nib.  1280  bekante  wende  komt  ebenfals  in 
betracht.  So  ruht  der  beweis  Kögels  für  den  mittelteil  des  denkmals  auf  schwacher 
stütze.  —    Für  das  Muspilli   wird  s.  212  trotz  des  im  as.  überlieferten  mudspelli 


i'UEK    r.M'L,    GRIXDRISS    DKR    ÜERM.    l'IUI..    I.    II  229 

eine  Zusammensetzung  des  \vortes  mit  »iti-  angenommen,  das  sonst  nur  in  ludiccrf 
mauhvurf  erscheint  und  wofür  keinerlei  verwantschaft  nachzuweisen  ist,  so  dass  auch 
hier  zweifei  bleiben.  Uass  das  gedieht  vom  muspilli  rein  bairischen  dialekt  habe 
(s.  212),  ist  auch  zu  viel  behauptet:  s.  Piper,  Ztschr.  f.  d.  pb.  XV,  89  fgg.  und  jezt 
II.  Garke,  QF.  69,  33  fg. 

Bei  Otfrid  ist  in  der  anm.  zu  s.  210  der  gel)raueh  grammatist-li  falscher  for- 
men im  reim  den  Schreibern  zur  last  gelegt  worden:  aber  da  eine  handschrift  sicher, 
zwei  andre  vermutlich  untei'  den  äugen  des  dichters  entstanden  sind,  -durften  sich 
die  Schreiber  da  wol  solche  wilkür  erlauben'.-'  —  Die  auf  derselben  seite  (nach 
Olsen)  beliauptete  gleichzeitigkeit  der  drei  rhythmischen  Widmungen  wird  dadurch 
sehr  in  frage  gestelt,  dass  die  widmung  an  Salomo  gleich  der  an  könig  Ludwig  das 
akrostichon  aucli  in  den  schlussconsonanten  der  vorlezten  reimzeile  durchaus  rein 
iiiilt,  während  die  au  die  S.  Galler  ungenau  bindet:  42.  62.  108  thax,  —  tvas,  48  in  — 
finiim,  72.  130  ein  —  heim,  129  forn  —  fol.  Das  deutet  doch  auf  ältere  abfas- 
sung;  oder  soll  es  Otfrid  mit  der  metrik  seinen  freunden  gegenüber  minder  genau 
genommen  haben,  als  gegen  seine  vorgesezten?  —  S.  216  soll  Otfrid  seine  freunde 
in  S.  Gallen  sicher  besucht  haben:  woher  wissen  wir  das?  kennen  lernte  er  sie  ja 
in  der  klosterschule  zu  Fulda.  —  S.  217  heisst  es:  Otfrid  habe  („nach  fremdem 
muster,  wie  man  jezt  glaubt")  die  zahl  der  hebungen  des  halbverses  auf  vier  erhöht: 
das  man  ist  doch  nur  von  einem  teile  der  germanisten  zu  verstehen.  "Wenigstens 
rcferent  hält  die  Lachmannsche  lehre  von  der  ursprünglichkeit  des  vierhebigen  kurz- 
vei"ses  für  durchaus  nicht  erscliüttert  und  weiss  sich  auch  hier  mit  vielen  fachgenos- 
sen eines  sinucs.  —  Endlieh  ein  beispiel,  wie  Kögel  sogar  die  in  dem  grundrisse 
selbst  ausgesproclienen  ansichteu  und  angaben  anderer,  vielleicht  unabsichtlich ,  über- 
sieht: s.  186  wird  mit  berufmig  auf  T\'attenbach °  I,  319  fg.  die  bekante  stelle  der 
Quedlinburger  annalen  über  die  sage  von  Ermanrich  und  Dietrich  als  wertloses  zeugnis 
abgewiesen,  während  s.  34  Sijmons  doch  schon  bemerkt  hatte,  dass  die  angefochtene 
echtheit  von  H.  Lorenz  (Germ.  31,  137  fgg.)  mit  guten  gründen  verteidigt  worden  sei. 

Mehrere,  allerdings  kleinere  und  minder  wichtige  denkmäler  sind  ganz  über- 
gangen worden:  so  das  Abecedarium  Nortmannicum  MSD.  V,  die  Baseler  recepte 
MSD.  LXn,  der  ordo  ad  d au  dam  poenitentiam  MSD.  LIIT,  Ztschr.  f.  d.  a.  21, 
273  fg.,  der  piiestereid  MSD.  LXYIII,  die  Hamburger  und  "Würzburger  markbeschrei- 
bnng  (eb.  LXIII.  LXIY),  die  Essener  und  Freckenhorster  heberollen.  Die  über- 
gehung der  glossenlitteratur  wird  man  ebenso  bedauern.  Geschahen  diese  aus- 
lassungen  zur  raumersparnis?  Aber  dann  hätte  doch  lieber  s.  189  der  jezt  volkommen 
gleichgiltig  gewordene  streit  über  die  z.  56  des  Ludwigsliedes  übergangen  werden 
sollen,  deren  lesung  längst  vöUig  sicher  gestelt  worden  ist.  Ebenso  hätten  von  den 
lateinischen  gedichten  historischen  inhaltes  aus  der  Merowinger-  und  KaroUngerzeit 
(s.  191)  diejenigen  wegbleiben  können,  die  keine  deutsche  grundlage,  nicht  einmal 
einen  deutschen  dichter  haben. 

S.  199,  z.  4  ist  anstatt:  .,zu  Yorkshire  geboren"  zu  lesen  „in  Y.  g."  S.  200 
heifst  es  von  Eeinwald,  er  sei  durch  sein  freundschafts Verhältnis  zu  SchiUer  bekant; 
warum  nicht  kurz:  Schillers  Schwager?  Die  frage,  von  wem  die  Glossae  Lipsianae 
Ztschr.  f.  d.  a.  13,  335  fgg.  herau.sgegeben  seien,  ist  durch  den  hinweis  auf  den  dama- 
ligen herausgeber  der  Zeitschrift  selbst  leicht  zu  beantworten. 

Den  erwaitungen ,  die  wenigstens  der  referent  einem  grundrisse  gegenül)er  hegt, 
entspricht  die  behandkmg  besser,  welche  F.  Vogt  der  mittelhochdeutschen  litteratur  hat 
angedeihen  lassen  (s.  245  —  418).     Knapp  und  doch  anschaulich  werden  die  resultate 


230  MARTIN 

der  bisherigen  forscliung  vorgelegt  und  durch  den  hinweis  auf  eine  gut  ausgewählte 
zahl  von  belegsteilen  und  belegschriften  die  einzeluntersuchung  weiter  gewiesen.  Die 
Stellung,  die  der  Verfasser  den  einzelnen  Streitfragen  gegenüber  einnimt,  könte  refe- 
rent  nicht  immer  teilen;  doch  freut  er  sich  namentlich  darüber,  dass  Vogt  in  der 
frage  nach  dem  ursprünglichen  text  der  Nibelungen  die  handschrift  A  bevorzugt 
(s.  316):  damit  ist  ein  gemeinsamer  boden  gefunden,  von  dem  aus  die  verschiedeneu 
hypothesen  über  die  entstehung  dieses  gedichts,  unter  denen  referent  die  Lachmaims 
und  Müllenhoffs  noch  immer  für  die  einzig  wahrsclieinliche  hält,  gegen  einander 
abgewogen  werden  können.  Hoffentlich  nimt  Paul  in  einer  späteren  neuen  aufläge 
des  grundrisses  (bei  s.  133  des  I.  bandes)  rücksicht  auf  die  Stellung  seines  mit- 
arbeiters. 

Nur  auf  zwei  stellen  möchte  referent  kritisch  eingehn.  S.  251  wird  die  ent- 
stehmig  des  Annoliedes  bald  nach  dem  tode  des  heiligen  (1075)  angesezt.  Referent 
hält  die  zuerst  von  Kettner  eingehend  begründete  annähme  einer  abfassung  im  jähre 
1106  für  sicher.  Die  absieht  des  dichters  ist  unzweifelhaft,  die  nach  dem  uuervvar- 
teten  tod  Heinrichs  IV.  zur  Unterwerfung  unter  die  geistliche  Obergewalt  gezwimge- 
nen  Kölner  mit  diesem  loos  auszusöhnen.  Daher  wird  die  Stadt  Köln  und  Anno 
zugleich  gepriesen;  ja  der  einzige  fleck,  der  die  brüst  des  heiligen  verunziert  hat,  ist 
sein  unversöhnlicher  hass  gegen  die  stadt.  Der  schwung  des  liedes  entspricht  der 
edlen  grossmut,  welche  der  dichter  seiner  siegreichen  partei  anempfiehlt,  eine  gross- 
mut,  welche  gewiss  zugleich  die  höchste  klugheit  genant  werden  muss.  So  lange 
Köln  noch  kämpfte,  wäre  eine  solche  milde  leicht  als  zeichen  der  schwäche  erschie- 
nen; auch  müste,  bei  früherer  abfassung,  irgendwo  eine  bcdingung  ausgesprochen 
sein,  irgendwo  das  subjektive  moment  der  meinung  des  dichters  hervortreten.  Zu 
diesem  zeitansatz  passt  es  nun  auch  vortreflich,  dass  v.  505.  6  Mainz  als  ort  der 
königsweihe  bezeichnet  wird:  nicht  bloss  Eudolf  von  Schwaben  ward  hier  gekrönt, 
sondern  auch  Heinrich  V.  erhielt  hier  1106  die  reichsinsignien  und  ward  von  den 
legaten  noch  besonders  durch  handaufleguug  geweiht:  Giesebrecht,  Kaiserzeit  3'*,  747. 

Sodann  behauptet  Vogt  s.  325,  dass  die  lyrik  der  vaganten  erst  mittels  der 
lyrik  der  vulgärsprachen,  der  deutschen  volksmässigen  wie  der  französisch -pro  venza- 
lischen  die  ausbildung  erfahren  habe ,  in  der  sie  uns  aus  der  Beurener  handschrift  ent- 
gegentritt. Man  wird  unterscheiden  müssen:  einzelne  lateinische  stücke,  auch  solche 
die  bereits  die  volle  kunst  zeigen,  sind  sicher  älter,  und  sie  müssen  uns  als  Zeugnisse 
dienen  für  die  priorität  der  lateinischen  lyrik,  die  von  der  kii-chlichen  dichtung  aus- 
gegangen, an  den  mustern  der  antike  sich  entwickelt  hatte.  Doch  das  bedarf  wei- 
terer ausführung,  als  sie  hier  möglich  ist.  Für  jezt  nur  noch  die  bemerkung,  dass 
Vogt  s.  326  mit  unrecht  die  Strophenform  des  Eckenliedes  als  vorbild  für  die  latei- 
nische Carm.  Bui'.  nr.  180  bezeichnet.  Abgesehen  davon,  dass  die  Übereinstimmung, 
wie  Vogt  selbst  hervorhebt,  nur  „fast  ganz  genau"  ist:  warum  soll  nicht  das  umge- 
kehrte Verhältnis  obwalten  V  die  bildung  der  Strophe  stimt  weit  mehr  zu  lateinischen, 
französischen,  niederländischen  formen  als  zu  deutschen.  Ähnlich  sind  z.  b.  in 
Bartschs  Pasturellen  135,  22.  306,  1.  Zwei  punkte  sind  dabei  massgebend:  einmal 
die  reimstellung  aabccb,  von  welcher  F.  Wolf,  Scijuenzen  und  leiche  s.  33  sagt: 
„Natürlich  gieng  eine  so  durchaus  volksartige  form  auch  sehr  bald  von  der  mittel- 
lateinischen in  die  vulgarpoesie  über  und  erscheint  aucli  hier,  was  wol  zu  beachten 
ist,  am  häufigsten  in  geistlichen  moralisch -ascetischeu  und  volksmässigen  gedichten". 
Die  deutsche  volkspoesie  hat  sie  auf  jeden  fall  erst  später  und  gewiss  durch  die 
dichtungen  in  anderer  spräche  erhalten;  und  zwar  liegt  es  weit  näher  an  die  latei- 


ÜBEK   PAUL,    GRUNDRISS    DER    GKRM.    l'HIJ-.    I.    II  231 

nische,  geistliche  zu  denken  als  an  die  romanische,  ritterlii-he.  Zweitens  ist  das  ein- 
schiebsei der  jambischen  dipodie  vor  der  lezten  reimsilbe  der  lateinischen  Strophe 
in  der  lateinisch -romanischen  dichtung  Ijcliebt  und  ursprünglich,  nicht  aber  in  der 
deutschen;  man  begreift,  dass  der  deutsche  dichter  sie  durch  eine  dreihebige,  klin- 
gende zeile  ersezte. 

Die  mittelniederdeutsche  litteratur  ist  von  II.  Jellinghaus  bearbeitet  worden 
(s.  419  —  452),  der  mit  recht  darauf  hinweist,  dass  er  sich  kaum  auf  Vorgänger 
stützen  kann,  wenn  er  das  ganze  reiche,  aber  nur  selten  ästhetisch  wertvolle  Schrift- 
tum Niederdeutschlands  zusanimcnfasst.  Die  abluingigkeit  von  Oberdoutschland,  vom 
Verfasser  fast  unwillig  geschildert,  macht  ein  einheitliches  bild  ziemlich  unmöglich. 
Um  so  nützlicher  wird  für  die  weitere  einzelforschung  die  gebotene  Übersicht  sein. 
S.  430  war  anstatt  Jan  Deckers  zu  lesen:  Jan  de  Clerc  (oder  Boendale :  s.  471).  S.  451 
wird  Eulenspiegel  „der  die  Städter  verhöhnende  abenteurer  aus  dem  bauernstande " 
genant:  ist  nicht  vielmehr  anzunehmen,  dass  die  spässe  über  die  einzelnen  hand- 
werke  aus  der  misgunst  dieser  selbst  gegeneinander  herstammen? 

Für  die  von  Jan  te  Winkel  geschriebene  geschichte  der  niederländischen  lit- 
teratur lagen  dagegen  zahlreiche  und  teilweise  vortrefliche  vorarbeiten  vor.  Das 
16.  Jahrhundert  ist  hier  mit  in  den  kreis  der  darstellung  hineingezogen  worden,  wie 
schon  die  mnd.  litteraturgcschichte  (und  diese  zwar  noch  in  weitergehendem  masse) 
die  neuzeit  einbegriffen  hatte. 

Mit  dem  anfang  der  friesischen  litteratur,  deren  geschichte  Th.  Siebs  über- 
nommen hat,  schliesst  das  4.  heft  des  IL  bandes,  1.  abteilung  ab. 

Von  der  2.  abteilung  des  II.  bandes  ist  inzwischen  nur  ein  heft  erschienen, 
worin  zunächst  Amira  das  recht  zu  ende  bringt  (s.  129  —  200):  eine  reichhaltige, 
wolgeordnete  arbeit,  für  den  ref.  sehr  lehrreich.  Zu  s.  137,  wo  als  isländischer  aus- 
druck  für  kinder  der  geschwisterkinder  „andere  bräder"  angeführt  wird,  kann  bemerkt 
werden,  dass  auch  das  Elsässische  (gegend  von  Colmar)  's  anderc(n)  kinder  für  das- 
selbe Verhältnis  gebraucht. 

Dagegen  ist  der  XII.  abschnitt:  kriegswesen  von  A.  Schultz  überaus  sum- 
marisch behandelt  worden  (201  —  207).  Das  empfohlene  buch  von  Jahns  dürfte  phi- 
lologisch betrachtet  nicht  befriedigen. 

Der  XIII.  abschnitt:  sitte  fasst  zunächst  die  skandinavischen  Verhältnisse  ins 
äuge  (208  —  252).  Der  Verfasser  dieser  abtheilung.  Kr.  Kälund,  bringt  ein  reiches 
material  zusammen,  bei  dem  man  nur  gern  die  einzelnen  Zeiträume  noch  mehr  unter- 
schieden sähe,  da  nur  so  der  wert  der  einzelnen  nordischen  Zeugnisse  für  die  erkent- 
nis  der  urgermanischen  zustände  geprüft  werden  kann.  Und  auf  diese  ergänzung 
scheint  doch  die  2.  abteilung,  worin  A.  Schultz  die  deutsch  -  englischen  Verhältnisse 
bespricht,  sehr  zu  rechnen,  da  er  nach  wenigen  Vorbemerkungen  nur  auf  die  ritter- 
lichen Zeiten  näher  eingeht.  Vielleicht  bringt  auch  die  fortsetzung  noch  die  wün- 
schenswerte darstellung  der  altgermanischeu  sitte  nach. 

STRASSBURG.  E.    INIARTIN. 


Prolegomena  zu  einer  urkundlichen   geschichte  der  Luzerner  mundart, 
von  dr.  ß.  Brandstetter.     Einsiedeln  1890.     88  s.     8. 

Der  Verfasser  der  vorliegenden  schritt  hat  im  jähre  1883  in  seiner  dissertation 
„Die  Zischlaute  der  mundart  von  Bero- Münster"  (kanton  Luzem)  behandelt.  Diese 
schritt  bewies  bereits  gründliche  kentnis  des  weitern  gebietes,    das  nun  gegenständ 


232  TOBLER 

der  vorliegenden  ist  und  eine  noch  ausführlicliere  behandlung  erfahren  soll.  Die  Pro- 
legomena  zeigen,  dass  der  Verfasser  auch  der  grössern  aufgäbe,  die  er  sich  stelt, 
durchaus  gewachsen  ist,  und  erwecken  günstige  erwartungen  von  dem  künftigen 
werke,  dem  der  Verfasser  vielleicht  nur  etwas  zu  viel  schon  vorweggenommen  hat; 
denn  er  bespricht  nicht  nur  plan,  methode  und  quellen  desselben,  sondern  er  gibt 
auch  schon  zahlreiche  proben  des  Stoffes  und  der  bearbeituug  und  einen  ausblick  auf 
ziele  und  resultate  (s.  80  —  88).  Wir  kennen  die  dimensionen  und  proportionen,  in 
denen  der  bau  errichtet  werden  soll,  noch  nicht,  möchten  aber  dem  Verfasser  raten, 
denselben  nicht  zu  weitläufig  anzulegen  und  auszuführen;  denn  wenn  vor  kurzem 
Kaufmann  über  die  geschichte  der  schwäbischen  mundart  ein  buch  schreiben 
konte,  so  handelt  es  sich  hier  um  ein  viel  engeres  gebiet.  Andrerseits  kann  freilich 
ausführliche  behandlung  eines  solchen  um  so  gründlicher  und  erschöpfender  sein  und 
einzelheiten  von  besonderm  Interesse  ans  licht  ziehen;  nur  wird  es  ratsam  sein  auch 
beim  kleinsten  immer  das  Interesse  der  gesamtwissenschaft  im  äuge  zu  behalten  und 
in  der  fülle  des  Stoffes  zufälliges  von  wesentlichem  zu  unterscheiden. 

Beschreibung  lebender  schweizerischer  mundarten  haben  wir  seit  15  jähren 
eine  ganze  reihe  erhalten,  darunter  sehr  gute,  aber  vorläufig  wol  auch  genug;  ge- 
schichte einer  mundart  noch  keine.  Es  ist  also  ein  wirkliches  verdienst,  einmal  das 
Verhältnis  aufzusuchen  und  darzustellen,'  in  welchem  die  gesprochene  Volkssprache 
der  gegenwart  zu  der  geschriebenen  der  altern  zeit  steht.  Dabei  erhebt  sich  aber 
sogleich  die  frage:  wie  kann  aus  schritten  der  altern  zeit  die  damalige  (jeweilige) 
mundart  herausgelesen  werden?  welches  sind  die  quellen,  aus  denen  die  ältere 
mundart  geschöpft  werden  kann,  und  nach  welchen  grundsätzeu  müssen  sie  zu  jenem 
zwecke  verwertet  werden?  Die  art,  wie  der  Verfasser  dabei  zu  werke  geht,  ver- 
dient volle  Zustimmung  durch  die  vorsieht  und  umsieht,  die  er  anwendet  (s.  64  fgg.); 
denn  dass  wir  auf  einem  unsichern  boden  stehen,  verhehlt  sich  der  Verfasser  keinen 
augenblick.  Vor  allem  muss  in  der  geschriebenen  spräche  der  altern  zeit  eine  kanz- 
1  e  i  Sprache  (s.  29  fgg.)  unterschieden  werden  von  Schriftstücken  oder  stellen ,  in  denen 
Volkssprache  mehr  und  weniger  unmittelbar  zu  tage  tritt  oder  zu  gründe  liegt.  Es 
sind  darnach  primäre,  secuudäre  und  tertiäre  quellen  der  ältei'n  mundart  zu  unter- 
scheiden (s.  39  fgg.). 

Richtig  und  wichtig  ist  innerhalb  der  mundart  die  Unterscheidung  zweier 
schichten,  algemein  üblicher  und  bloss  von  den  gebildeten  gebrauchter  Wörter  (s.  14). 
Weniger  tiefgehend  ist  der  unterschied  zwischen  gewöhnlichen  und  euphemistisch 
entstelten  oder  nur  in  formelhaften  Verbindungen  vorkommenden  Wörtern  (s.  15  fgg.). 
Bemerkenswert  sind  die  angaben  über  eine  absichtlich  entstelte  sprachweise,  welche 
vom  Verfasser  (s.  17)  Rotwelsch  genant  wird,  dergleichen  doch  auch  in  harmloser 
weise  bei  kindern  vorkomt. 

Die  ältesten  sichern  belege  von  mundart  findet  der  Verfasser  (s.  26)  in  Orts- 
namen aus  dem  ende  des  XII.  Jahrhunderts;  die  mundart  soll  aber  „natürlich  lange 
vorher  bestanden  haben"  (s.  28).  Dieser  zusatz  hätte  wol  wegbleiben  dürfen,  da  zeit 
und  art  jenes  altern  bostaudes  uns  unbekant  sind.  Die  erste  periode  der  mundart 
soll  von  dem  genanten  Zeitpunkt  bis  gegen  ende  des  XIV.  Jahrhunderts  reichen;  die 
zweite  von  da  bis  auf  die  reformatiou;  die  dritte  bis  heute.  Diese  ausätze  mögen 
aus  algemein  geschichtlichen  gründen  richtig  sein;  was  der  Verfasser  von  sprach- 
lichen merkmalen  anführt,  würde  kaum  genügen.  Den  auffallenden  mangcl  an 
abstrakten  Substantiven  in  der  heutigen  mundart  erklärt  er  (s.  27)  als  folge  der  Stag- 
nation   und   verrottung   aller  Verhältnisse    im  XVII.    und  XVIII.  Jahrhundert;    aber 


ÜBER    BKANDSTKTTEK,    LUZICRNEK    MlTNIiAKT  233 

jenor  niangel  liegt  wol  im  woseii  dvv  iiuuuiart  und  di's  gcinoinoii  vullvslolicns  über- 
liauiit.  Zwischen  vulks-  und  kaiizli'is|iracli('  soll  (naidi  s.  iiO)  /.u  aiirn  zciicu  „ciiio 
tiefe  klid'f'  bestanden  halien  und  doeb  (nai'h  s.  .'il  )  eine  stai'ke  gegenseitige  bceintlus- 
stmg  -  ■  was  kaum  viM'i'inbar  ist.  K'ielilig  wird  sein,  dass  die  kanzleispracho  der 
mittcliioeiideutsrhen  srliriftspraejic  (wi'uii  edei'  snweil  eine  selelu;  bestand  s.  .'iL',  vgl. 
1)^)  näber  stand  als  der  mundart.  IM-kunden  des  XIII.  jahriiuiideils  zeigiMi  nueli 
endungen  mit  \  eilen  \rd<a!en,  \\;ihi'end  diesi'  in  andern  abgeseliwädit  sind;  sebrill- 
stüeko  der  ersteu  art  liaiien  zuglei(;li  mehr  luundartlieln'n  Charakter.  Fein  beobaclitet 
und  wichtig  sind  die  für  die  vokale  dev  liildungssilben  aut'gestelten  gesetzo  (s.  öOfgg.); 
(h'nnncli  \ei'h;ilt  sieh  diT  Verfasser  zu  dei'  IVage  der  lautgesetze  uneiitsi-birden  (s.  lil), 
wie  er  denn  aueh  s.  17  in  der  Luzerne'i'  mundart  zwei  furnie'n  und  s.  (i'J  zw(M  vokale 
nelien  einander  lii^steliend  lindet.  —  S.  öf)  gibt  ein  hübsches  l)eisjiiel  eines  rücksidibis- 
ses  von  vfdiahiuahtät  auf  consouantische.  Merkwürdig  ist  die  auch  in  anderu  inund- 
arteii  vorkommende  schwäcliuug  von  vokah'n  liaupttoniger  silbeu  im  ersten  teil  von 
Zusammensetzungen;  dagegen  sclieiid  das -.v  als  durchgängige  ('ndung  des  gen(^tiv  auch 
im   plural  und  weiiilicher  Wörter  der  Luzernisidien  mundart  eigen  (s.  71). 

Zum  schluss  einige  orgiinzuugen  und  vielleicht  berichtigungcn.  Der  Verfasser 
zeigt  scharfe  phonetische  iinterscheidungiMi,  z.  Vi.  s.  10  ä  stufen  von  fortis,  welche 
ihm  nicht  jedermann  leicht  uachempiinden  wird;  wenn  er  (s.  11)  in  nhd.  iiacli))iitt(iti 
alle  ;>  Silben  gleich  starktonig  findet,  kann  ich  ihm  nicht  Iieistiuimen,  da  ich  dii' 
dritte  merklich  stärker  finde  als  die  zweiti'.  —  Das  auf  s.  '_'(^  in  frage  gestelte  wort 
tlnotlicriiig  kann  wol  nur  den  thuufisch  l»edeuten,  der  vom  liäi'ing  zwar  in  der  grosso 
sehr  verschieden  ist,  aber  wie  jener  eingesalzen  schon  im  XV.  jahiinmdert  importiert 
worden  sein  wird.  —  trau  s.  4*2  ist  das  verkürzte  nihd.  iraiitlc^  weil.  —  S.  48  wird 
ristcr  als  nelieuform  von  ct'sfii/  genommen  und  riiisilar  eine  ungeheuerliche  form 
genant;  abei'  s.  7(1  wird  dies  richtig  dem  nhd.  hin/tcn/i/r  gleich  gesezt,  und  wir  haben 
im  Idiotikon  |I,  i')32)  keine  andere  erklärung  zu  geben  gewusst.  —  S.  ü8  wird  das  -is 
von  rrr(jch/.s  dem  von  I/iirbscI//s  gleichgestelt ,  und  in  der  tat  ist  es  beide  mal  aus 
-nies  entstanden,  doch  mit  dem  unterschied,  dass  im  ei'sten  der  geuetiv  eines  part. 
[irät.  zu  gründe  liegt,  im  zweiten  der  des  infiuitiv,  also  eigentlich  -ciiiics.  —  Üb 
flcfrcJd  z=  lärm  (s.  7(3)  auf  mhd.  (jcrrlite  beruht,  ist  fraglich;  s.  Id.  I,  (544.  —  S.  8(3 
werden  (fsfoloi  und  (/'s/nliii;/  dop|)elforinen  des  part.  perf.  genant;  aber  das  zweite 
ist  doch  nur  erweiterung  des  ersten  dui'ch  -///,  in  adjecti vischer  bedeutung.  — 
8.87.  ^^'arum  die  ausspi'ache  ai  von  a/f  in  hlati.  ;/r</H  usw.  einst  herschend  gewesen 
sein  müsse,  verstehe  ich  nicht.  —  Die  erklärung  von  (jrliifjclle  s.  77  fg.  scheint  mir 
sehr  fraglich,  bzw.  der  unterscliied  der  Schreibung  mit  l  oder  11  nicht  unwesentlich. 
Im  l-'ei'ner  oberland  wird  allerdings  das  /  der  diminutivbildungcn  verdoppelt,  aber  für 
die  Luzeruer  mundart  gilt  dies  nicht.  Ich  sehe  in  dem  fraglichen  wert  eine  Zusam- 
mensetzung mit  dem  im  Idiot.  II,  '210  besprochenen  alten  ijcUe ,  pcUcx.  —  8.81. 
fn  •.'hrat  tönte  '.  allerdings  =^  (h,  das  sein,  wo  der  artikel  wirklich  so  lautet,  nicht 
zu  blossem  s  verkürzt  ist.  Da  aber  die  foiincl  -.'best  rede  auch  in  niundartcn  vor- 
komt,  wo  der  artikel  nur  '.s  lautet  (z.  li.  in  Zürich),  so  muss  die  annähme  der  prä- 
[losition  offen  bleiben;  der  casus  wäi'e  aufzufassen  wie  in  \'lefsi,  zulezt.  —  S.  82 
scheint  der  Verfasser  wirkliche  Umschreibung  des  dativ  durch  die  präposition  //a  anzu- 
nehmen; ich  verweise  aber  auf  Idiot.  1,  200. 

ZÜRICH,    OKTOBER      1890.  L.    TOBLER. 


234  sociN 

Blattner,  H.,  Über  die  mundarten  des  kantons  Aargau.  (Leipziger  disser- 
tation.)    Brugg  1890. 

Die  vorstehende  abbandliing  zerfält  in  drei  teile:  einteilung  der  mundarten  des 
kantons  Aargau,  pbonetik,  voealismus  der  Scbinznacher  muudart.  Die  niundart  des 
ortes  Scbinznach,  aus  welchem  der  Verfasser  stamt,  repräsentiert  ihrer  geogi'aphiscbeu 
läge  nach  ungefähr  das  mittel  unter  den  dialekten  des  kantons  Aargau.  Der  Verfas- 
ser unterscheidet  sechs  gi'uppen,  deren  umfang  ein  übersichthch  gehaltenes  kärtchen 
veranschaulicht.  Die  südwestliche  gruppe,  die  mit  dem  dialekt  der  angrenzenden 
kantone  Bern  und  Solothurn  ziemlich  übereinstimt,  teilt  Blattner  dem  „  deutsch  -  bur- 
gundischen"  sprachstamme  zu;  er  glaubt  sogar,  es  könte  aus  den  heutigen  mund- 
arten ein  beweis  für  oder  gegen  die  Zugehörigkeit  der  Burgunden  zu.  den  Ostgermanen 
erbracht  werden.  Von  den  sechs  charakteristica,  die  Blattner  s.  17  für  das  aleman- 
nisch -  burgundische  aufführt,  können  indes  fünf  ebensogut  rein  alemannisch  sein, 
und  es  bleibt  als  wesentli<;h  nur  die  vocalisierung  des  /  zu  ii.  Aber  diese  komt  auch 
anderwärts  vor:  sie  ist  nichts  als  eine  folge  schwerfälliger  articulation.  Ich  muss 
gestehen,  dass  ich  mich  gegen  die  methode,  aus  diesem  moinent,  wie  Blattner  es 
tut,  einen  schluss  auf  altgermanische  dialektverhältnisse  zu  ziehen,  skeptisch  ver- 
halte. Auch  die  möglichkeit,  jene  palatalisierung  durch  romanischen  einfluss  zu 
erklären,  ist  principiell  abzuweisen.  Die  Sprachgeschichte  lehrt,  das  es  schon  weit 
gediehen  sein  muss  mit  der  gegenseitigen  durchdringung  zweier  sprachen,  bis  das 
lautsystem  davon  inficiert  wird.  Die  westlichen  dialekte  der  deutschen  Schweiz  sind 
nun  aber  durchaus  keine  bastardsprachen,  sondern  im  gegenteil  sehr  altertümlich. 

Blattner  scheint  die  beiden  arbeiten  von  Ludwig  Tobler:  „Ethnographische 
gesichtspunkte  der  schweizerischen  dialektforschung "  und  „  Die  lexikalischen  unter- 
schiede der  deutschen  dialekte"  nicht  zu  kennen.  Hier  ist  ganz  besonders  der  eigen- 
artige Wortschatz  der  schweizerischen  südwestgruppe  herausgehoben;  aber  auch  er  ist 
nicht  durchschlagend  für  die  annähme  eines  deutsch- burgundischen  sprachidioms. 

Wir  wollen  damit  nicht  a  priori  die  möglichkeit  von  der  band  weisen,  dass 
eine  deutsch  -  burgundische  spräche  sich  wirklich  entweder  rein  oder  mit  dem  ale- 
mannischen vermischt  erhalten  habe;  aber  vom  boden  der  heutigen  dialekte  aus  ist 
dieser  beweis  nicht  zu  führen.  Erst  wenn  uns  aus  der  geschichte,  aus  dem  recht, 
aus  gewissen  gruppen  von  orts-  und  personennamen  und  namentlich  aus  dem  häuser- 
bau  die  notwendigkeit  dargetan  sein  wird,  für  die  deutsche  "Westschweiz  burgimdische 
elemente  anzunehmen,  können  wir  uns  dazu  verstehen,  auch  ihre  sprachlichen  abwei- 
chungen,  sofern  sie  sich  als  alt  erweisen,  auf  diese  quelle  zurückzuführen.  Dass 
man  aber  gar  noch  für  die  Scheidung  von  ost-  und  westgermanisch  hieraus  material 
gewinnen  könne,  ist  eine  utopie.  Die  altburgundischen  sprachreste  geben  ims  ja  nicht 
einmal  einen  sicheren  bescheid,  und  es  scheint  mir,  dass,  abgesehen  vom  nordischen, 
seit  dem  6.  Jahrhundert  die  Unterscheidung  von  ost-  und  westgermanisch  überhaupt 
gegenstandslos  geworden  ist. 

Im  zweiten  abschnitte  „phonetik"  unterscheidet  Blattner  für  die  Spiranten  f,  s, 
seh,  ch  die  drei  stufen  lenis,  longa,  fortis.  Das  verhalten  der  Frickthaler  mundart 
(s.  36  und  37)  zeigt,  dass  es  besser  gewesen  wäre,  in  Übereinstimmung  mit  anderen 
dialektai'beiten  zu  sagen:  lenis,  fortis,  geminata.  —  „Die  longae  stehen  ohne  rück- 
sicht  auf  die  quantität  des  vorhergehenden  vocals  im  Innern  der  silbe  als  erste  com- 
ponenten  doppelter  oder  dreifacher  consonanz,  z.  b.  luvd,  ha«d,  rosd,  rosd,  wa/d, 
rä/d".  Richtiger  und  iimfassender  ist  dieses  gesetz  von  Heusler:  „Consonautismus 
von  Basel -Stadt"  §27  formuliert  worden:   „Treffen  zwei  oder  mehr  stimlose  laute 


ÜBER    HLATTNEK,    AARUAUKK    MUNIiAKTKN  235 

zusammen,  so  crhalton  ihre  rirtiimlationi'n  ciiii'  ^fwissc  itiitlcrc  intonsiliit,  kräftiger 
als  die  der  leiiis.  .scliwiiclicr  als  die  der  Inrtis.  Wir  kiuincii  für  diese  lauto  die 
hezeichniing  neutrale  lirauelien".  Die  sonoren  ii,  in.  I  ninit  llrusirr  alli'rdinus  von 
dieser  rcgel  aus;  es  kaini  da  dialektverseliiedenheit  \or!iet;;cn. 

Manches  zum  kaiiiti'i  di'r  piioneük  kiinte  p'lci'nt  werden  aus  der  lieuliaddung 
der  art  und  weise,  wie  dir  von  L-Hit|iliysiiilnuiselii>n  tlieni-ien  uiilieeintlusstcn  dialekt- 
sehriftsteller  sicli  die  inuiidartlirlie  ortiiouraiihii'  /.nrc.'idit  inarhi'n;  eiienso  aus  dun 
typischen  schreibefi'iilern  der  schiiljuyvnd.  aus  dci'  landcsülilirheii  ausspracdie  des 
selirii'tdeutsehen,  lateiniseh(>n   usw. 

Der  ..voealisnuis '•  endlieh  i;iiit  zu  wcniu'  und  zu  viel.  Zu  weni^^,  wenn  man 
iliu  mit  dei'  i^icichzeitiii,'  ersriiicnrncn  disscrfation  von  K.  liol'fmann:  .,  Dri-  muml- 
artliehe  vocalisinus  von  IJascd -Stadt"  vi'r.uleieiit  -  don  voealisnuis  dei-  unbetontiMi 
sill)en  tut  ülattner  auf  zwei  si'iten  ali  -  -;  zu  viel  im  liinMick  dai'anl'.  dass  doi-  \iic;i- 
lismus  der  Seliinznaeiiri-  mundarl  sirli  von  di'mji'ni'j,en ,  dm  Winteler  und  Stii-kellier- 
i;er  dargestelt  halien,  nicht  wcsentlidi  utitcrschcidct.  lüaftnci'  liiittc  venlii'ustlii'hcr 
getan,  von  <lcr  ganzen  lautlehre  nur  das  aliwcichcndc  anzugehen  und  (hd'iir  die 
fle.xions-  odei'  die  wortiiihlungslelire  ausluhrlich  zu  lieliandeln.  Dass  auf  (hesen  g(;hie- 
ieu  noeli  wenig  liand  angelegt  worden,  ist  um  so  he(lauerlichi'r.  als  gerade  hier  die 
mundart  in  raschem   zerfall  liegriffcn  ist. 

A'on  einzellieitcn  liabe  ich  folgendes  notiei't:  der  ausdruck  s.  S  rii/u's  iiiul  s/ii- 
/lis  ..mit  stumpf  und  stiel"  kaiui  nicht  aus  .,rauchi'nd  und  staubend"  erklärt  werden; 
die  synonyme  wendiuig  in  anderen  dialekti.'u  „mit  rinnpf  uml  stumjif"  düi'ft<^  auf  die 
riclitige  fährte  füiiren.  S.  II:  die  [lalatalisierung  des  eh  zum  /V7/-iaute  im  <lialekt 
des  westlii'lu'U  liernci'  obei'landes  erfolgt  nicht  nach  vocal,  sondern  im  anlant:  / 
fli'inm  ich  koinnu',  rhia  kann  (Stalder,  iMalektolouie  s.  (i'J),  (h'acs  käse,  ch'iirchl, 
knccht  (üachmann,  tiutturallaute  s.  11).  S.  13:  das  spätere  bui'gundische  gebiet  hat 
sieh  weit  über  das  .■\aretlial  hinaus  erstreckt,  dcmi  im  lO./ll.  Jahrhundert  wai"  nach 
dem  Zeugnis  Wi|)po's  Basel  eine  l)urgundisehe  stadt.  S.  17:  In  iUs  „uns",  n'/.sr"-  „un- 
ser" ist  /;■/  doch  ei'satzdehnung,  wie  die  zwischenfoi'm  Uns  lieweist,  deren  umlaut 
von  der  ai/cusativform  /nisih  herzurühren  scheint.  S.  lil:  rri-ii/i>il,-rii  und  rcrsrlnui'ii- 
hr'i-  sind  zwi'i  ganz  verschiedene  werter;  das  erste  hängt  mit  iiifiiflichi  zusannuen, 
das  zweite  mit  nihd.  rersuiicijcii.  8.27  z.  7  v.  u.  lies  ..nachfolgende''  st.  „vorange- 
hende"'. 

S.  fjlj:  aus  ilem  offenen  h  in  sinitiinr  ,,s(unmer"  lässt  sich  nicht  schliessen, 
dass  tlie  längung  der  consonanz  in  diesem  werte  besondei-s  früh  ci-folgt  sei.  da  Ja 
alle  mhtl.  i'i  zu  i(  geworden  sind.  S.  72:  .,erulung  -/  aus  ahd.  -ida"  seheint  irtüm- 
lich  in  den  te\t  gei-aten  zu  sein. 

S.  73:  iqAs  aus  rfrn-.xz  ei-klärt  sich  nicht  aus  analogie,  s<uidern  aus  einer 
eigentümlichen  alemannischen  erliöhung  von  nebentonigem  c  zu  /  wie  in  der  dui'ch 
das  unterscheidungsbedürfnis  erhaltenen  form  Irhfi  <i.  lehrlr  rircrcf.  Vgl.  über  die- 
ses gesetz  die  eitierte  abhandlung  von  Hoflinann  §  222  fgg. 

S.  74:  ein  Wick  in  AVeinholds  mhd.  gramm.  und  auf  den  angienzenden  dialekt 
der  landsidiaft  Basel  hätte  dem  Verfasser  sofort  gezeigt,  dass  die  Verwendung  der 
conjuncti\-form  ,s^//^  für  siiit  längst  etwas  ganz  gewöhnliches  ist. 

Die  Untersuchung  moderner  dialekte  hat  luich  unserer  anschauung  vor  allem 
zwei  Zielpunkte  ins  äuge  zu  fassen:  1)  in  principieller  hinsieht  aufschluss  über  die 
bediugungen,  unter  denen  die  Sprachentwicklung  sieh  volzii^ht;  2i  in  h  istoi'ischer 
hinsieht  rückschlüsse  auf  fnihere  sprachperiodeu.     Es  ist  klar,    dass  das  Studium  der 


236 


BERNHARDT 


lautphysiologischen  Untersuchungen  von  Winteler,  Kräuter,  Sievers,  Trautmanu  hie- 
für allein  nicht  genügt.  Wie  man,  ohne  sich  auf  i^honetische  subtilitäten  einzulas- 
sen, aus  der  vergleich ung  der  heutigen  mundart  mit  der  urkmidensprache  über- 
raschende resultate  für  die  Sprachgeschichte  des  mittelalters  gewinnen  kann,  zeigt  die 
[s.  231  fg.  besprochene  Red.]  ausgezeichnete  Schrift  von  E.  Brandstetter:  „Prolego- 
mena  zu  einer  lu-kuiidlichen  geschichte  der  Luzerner  mundart"  (Einsiedelu  1890). 
Der  Verfasser  unserer  abhandlung  verrät  durch  seine  einleitenden  bemerkungen  über 
das  schwinden  echt  mundartlicher  redeweise,  über  die  eigenheiten  der  einzelnen  dia- 
lektgruppen,  über  zufällige  einflüsse  auf  die  lautgestaltung  eines  ortes,  über  den 
unterschied  von  stadt-  und  landmundart  (§  13)  eine  scharfe  beobachtungsgabe;  aber 
es  mangelt  ihm  noch  an  kentnis  der  eigentlichen  philologischen  litteratur  und  an 
belesenheit  in  den  älteren  Sprachdenkmälern.  Für  das  historische  hätte  er  unbedingt 
Jahn 's  „Geschichte  der  Burgundiouen "  und  die  Fontes  rerum  Bernensium  benützen 
sollen.  Werden  diese  lücken  ausgefült,  so  soll  es  uns  freuen,  ihm  auf  dem  felde  der 
mundai'tenforschimg  wider  zu  begegnen. 

BASEL,    DEC   1890.  ADOLF    SOCIN. 


A  comparative  glossary  of  the  G^otliic  language,  with  especial  refe- 
rence  to  English  and  German,  by  ii.  H.  Balg,  Ph.  D.  With  a  preface 
by  Prof.  Francis  E.  March.     Mayville,  Wisconsin  1887  —  1889. 

Dies  buch,  ein  statlicher  band  von  667  selten  in  vorzüglichem  druck,  liefert 
einen  erfreulichen  beweis,  dass  jenseits  des  Atlantischen  oceans  das  Studium  germa- 
nischer Sprachgeschichte  im  aufblühen  begriffen  ist. 

Prof.  March  sagt  darüber  in  seiner  vorrede  folgendes:  ,,  T/iis  ylossary  is  largely 
occupied  ivith  comfarativ  etyvwlogy,  but  it  should  not  he  judycd  as  a  scientific 
dietionary  7nerely,  but  also  as  a  practical  handboolc  to  illtistrate  and  ground  the 
study  of  English  by  etymological  study  of  its  Gothic  relations,  and  to  aid  in 
making  comparativ  filology  interesting.  Hense  the  large  niimber  of  English  deri- 
vativs  fully  explaind,  the  cxplanation  not  being  eonfii/ed  to  the  Gothic  elemcnts  of 
the  Etiglish  words". 

Die  einrichtung  des  buchs  wird  diu-ch  ein  beispiel  am  besten  dargelegt  wer- 
den. Unter  hiaifs  werden  zuerst  von  56  bibelversen  und  stellen  der  Skeireins,  wo 
das  wort  erscheint,  12  in  der  reihenfolge  der  biblischen  Schriften  angeführt.  Sie  ent- 
halten belege  für  sämtliche  casus,  auch  für  die  zwei  nominativformen  hiaifs  und 
hJaibs;  ein  beleg  für  den  accusativ  hlaib  wird  vermisst;  auch  ist  die  nominativform 
hlai/js  nicht  erwähnt.  Der  dativ  und  accusativ  des  plurals  sind  je  dreimal  belegt. 
Nun  folgen  die  entsprechenden  alt-,  mittel-  und  neuenglischen,  sowie  die  alt-,  mit- 
tel- und  neuhochdeutschen  formen;  altnord.  hleifr  ist  nicht  erwähnt.  Sodann  wer- 
den die  englischen  Zusammensetzungen  hldf-irard  =  lord,  hläf-dige  =  lady,  hläf- 
mresse  =  lamnias  besjjrochen.  Das  lezte  wort  gibt  dem  Verfasser  anlass  zu  einem 
excurs  über  nuesse,  neuengl.  n/ass,  nhd.  messe,  lat.  missa.  Die  zweite  bedeutung 
des  deutschen  messe  =  Jahrmarkt  führt  ihn  auf  engl,  fair,  feriae,  feicr. 

Am  Schlüsse  des  buches  sind  zehn  Verzeichnisse  der  besprochenen  griechischen, 
lateinischen,  alt-,  mittel-,  neuenglischen,  altnordischen,  altniederdeutschen,  alt-, 
mittel-,  neuhochdeutschen  Wörter  beigegeben. 

Das  glossar  ist  gewiss  geeignet  das  Verständnis  des  englischen  zu  fördern  und 
die  teilnähme  an  diesem  Studium  zu  beloben   und  zu  verbreiten,    und  der  von  dem 


ÜiKi;    liAI.C,    GLOSSAKV    Ol"    TIIK    liuTlIir    I.ANOUAGK  237 

Verfasser  auf  seine  sainluu^eii  verwaute  lleiss  venlicut  um  so  mehr  auorkennung,  da 
die  boschalfunf;  der  Iitteraris''lu'n  liiilfsmittel  für  ihn  mit  grossen  sdiwicrigkoiten  ver- 
Ijuiidt'ii  war,  s.   lutroductory  remarks  s.  XI. 

Für  uns  in  Iteutseliland  wäre  oline  zwi'Hcl  i'in  neues  gotisdics  glossar  mit  vol- 
stäudigen  belegstollen,  oindrinp:ndcr  lieliandinng  dei-  wortliedeutungen,  anf/.itliiuug  der 
entsprechenden  wnrtfurmen  in  dm  ülnigcn  germanischen  sjirachen  eiiu;  erwünschte 
gahe.  Solclie  rnrdi'runi;iMi  erfült  nun  fVeilirh  Ualgs  (ili)ssary  nii'lit  in  ausreichendem 
luasse.  Die  helegstellcn  sind,  wie  wir  sahen,  iiidit  v<dstiuidig  aufgefüiiil;  in  der 
zweiten  hälfte  des  Werkes  (von  \\i>  anV)  sollen  sie  i's  nadi  des  Verfassers  angäbe 
nu^ist  ifiir  Ihr  ///us/  jtriii.'i  sein;  ersl  ein  für  später  vi'rsprdclii'ncr  anhang  s(.ill  die 
fehlenden  eitate  naelihringen.  Was  die  iM'handlung  dei'  wui-tbi'dcntungen  betriff,  so 
versichert  der  Verfasser  gi'osse  niüiu;  auf  genaue  Übersetzung  der  gotischen  Worte 
verwant,  ausser  den  vui-liandenen  lexikalischen  hüll'smittehi  den  gi'iechischeu  text, 
sowie  die  englischen  und  deutsclien  bilielül)ersetzungen  zu  rate  gezogen  zu  haben. 
Das  lezte  wai'  eine  üliertlüssige  mühe;  neben  dem  griecliisciu;n  toxt  kommen  zur 
feststellung  der  Ijcdeutungen  mir  die  Itahr  und  A'ulgata,  einige  kii'(dienv;iter,  und 
hiiciistens  noch  die  ältesten  deutsclien  versioncsu  resp.  (;vangeli(uduarmoiiien  in  Ijctracht. 
Kin  tieferes  eindringen  in  die  liedeufung  der  gotischen  wolle  vermisse  i<-h  nicht  sel- 
ten. Was  bedeutet  z.  b.  af  m  <ifi/r/n//:ji/ .  (ifVfJd.  iiiip  in  inlfisutjait  I.  Kor.  XIII,  2? 
Wie  kommen  fninininn ,  iixii'niinu  zu  den  bedeutungen  „verzehren'^,  „  biten  •'  und 
der  dativrection?  Wie  liäiigen  die  lieiilen  bedeutungen  von  dis  in  dixlairnn ,  (//n- 
11/11/111/  zusammen'.-'     Was  bedeutet  i//i/r/i//'li/"f 

Die  aufzäliluug  der  entsprechenden  werte  in  den  übrigen  germanischen  spra- 
chen iiedarf  ebenfals  der  vervolstäudigung.  AV^ir  sahi'ii  dien,  dass  zu  l/btlß  das  alt- 
nordische l/lcifr  \\\c\\i  angegeben  ist;  zufällig  ist  mir  uoch  das  fehlen  von  altnord. 
fii(ll  luiter  f/ifil'-i  aufgefallen;  im  buchstaben  P.  vtu'misse  ich  die  altnoi-dischen  paral- 
leji/n  zu  hitdi.  (ii/(Uii/l/l.'< .  hn'/njui/,  hi/'/rijul/ii ,  hu/irijH,  hulrl/ts,  h/n/ji/ ,  husl,  l/af/\(i, 
hiiljd//  usw. 

Die  vorstehenden  bemerkungeii  würden  ihren  zweck  verfehlen,  wenn  sie  den 
Verfasser  entmutigten.  Müge  iliin  erfulg  und  amu'kennung  in  seiuer  heimat  nicht 
fehlen  und  eine  neue  ausgäbe  des  (Uossary  recht  bald  die  vorhandenen  mängel 
beseitigen ! 

ERFURT,    IM    SKPT.    1S!)0.  E.    liERXHARUT. 


Hartmaiin    von    Aue   als   lyriker.      Eine   litterarhistoriscli  e   Untersuchung 
von  F.  Saniii.     Halle  a.  S..  Niemeyer.    ls89.     112  s.     2,40  m. 

An  litterarhisturischen  Untersuchungen  über  Hartmann  von  Aue  haben  wir  eher 
überlluss  als  maiigel.  Die  wenig  zahlreichen  und  wenig  sicheren  anhaltspuukte,  die 
für  den  lebensgang  des  diditers  und  die  reiiienfolge  seiner  werke,  insbesondere  auch 
der  lyrischen,  bisher  in  lietracht  kamen,  sind  so  vielfach  bespi-ochen  und  so  ver- 
schieden verwertet,  dass  wd  alles  vorgdiracht  schien,  was  einen  für  diesen  oder 
jenen  Standpunkt,  vielleicht  auch  für  die  überzc^igung  einzunehmen  vermochte,  dass 
wir  über  das,  was  der  eine  so,  der  amlere  so  entschieden  zu  haben  meinte,  über- 
haupt nichts  wissen  können.  Eine  neue  behandlung  dahin  gehöriger  fragen  wird  daher 
ihre  berechtigung  vor  allem  durch  die  beibringung  neuer,  bisher  nicht  bekanter  oder 
wenigstens  nicht  beachteter  tatsachen  zu  erweisen  haben.  Solciie  aufzudecken  und 
auszunutzen  hat  sich  der  Verfasser  der  vorliegenden   schritt  bemüht.     Im  vorhanden- 


238  F.    VOGT 

sein  oder  fehlen  des  auftaktes  bei  den  lyrischen,  der  Senkungen  hei  den  reimpaar- 
gedichten  glaubt  er  ein  kriterium  für  die  spätere  oder  frühere  abfassungszeit  der  ein- 
zelnen werke  Hartmanns  gewonnen  zu  haben. 

Die  Zeitbestimmung  der  lieder  geht  natürlich  von  den  auf  den  kreuzzug  bezüg- 
lichen aus,  wobei  angenommen  wird,  dass  Hartmann  sich  der  fahrt  Barbarossas 
angeschlossen  habe,  da  für  diese  nach  des  Verfassers  meinung  auch  die  beziehungen 
zwischen  den  betreffenden  liedern  und  den  predigten  sprechen ,  welche  gerade  zu  die- 
sem 3.  kreuzzuge  auffordern.  Das  beim  antreten  der  fahrt  gedichtete  ick  var  mit 
iuivern  hulden  MF  218,  5,  in  welchem  der  auf  Saladin  bezügliche  vers  nun  natür- 
lich im  anschluss  an  Grimm  und  Paul  gedeutet  wird,  gehört  demnach  in  den  anfang 
des  Jahres  1189;  vor  ihm  liegen  die  einzelne  kreuzzugstrophe  211,  20  und  die  imter 
dem  frischen  eindruck  der  kreuznahme  gedichteten  Strophen  209,  2öfgg.,  die  etwa  in 
den  april  des  Jahres  1188  zu  setzen  sind.  Vor  diesen  widerum  ist  str.  206,  10  ver- 
fasst,  welche  den  tod  des  herren  erwähnt,  jedoch  ohne  das  ereignis  schon  mit  dem 
entschlusse  zur  kreuznahme  in  Verbindung  zu  bringen.  Zugleich  wird  in  ihr  der  auf- 
lösung  eines  liebesverhältnisses  gedacht,  auf  welche  sich  auch  die  übrigen  strophen 
desselben  tones  beziehen;  und  da  die  erste  unter  ihnen  im  winter  abgefasst  sein  muss, 
so  wird  die  eutstehung  des  ganzen  tones  in  den  winter  von  1187/88  zu  verweisen 
sein.  Auf  das  nächste  verwant  sind  diesen  strophen  die  MF  207,  11  mitgeteilten, 
welche  die  aufsage  des  minnedienstes  in  einer  weise  behandeln,  die  voraussetzen 
lässt,  dass  sie  nicht  lange  vor  den  ersteren  verfasst  wurden;  und  da  nun  endlich 
andi-erseits  die  str.  207,  11  eine  direkte  beziehung  auf  eine  strophe  des  tones  206, 
19  —  207,  10  enthält  (vgl.  v.  207,  11  mit  206,  28),  so  wissen  wir,  dass  206,  19  fgg. 
vor  2(>7,  11  fgg.  gedichtet  sein  muss,  und  wir  haben  somit  für  6  töue  eine  bestimte, 
vom  beginn  des  Jahres  1189  rückwärts  zu  verfolgende  reihe  gewonnen.  Dieser  rei- 
henfolge  nun  entsjjricht  eine  almähliche  Veränderung  in  der  behandlung  des  auftak- 
tes: in  dem  lezten  gedichte  (218,5)  fehlt  dieser  nirgends,  in  einigen  der  früheren  fehlt 
er  schon  hie  und  da;  augenscheinlich  ist  hier  eine  almähliclie  vervolkonmung  der 
kuust  des  dichters  festzustellen,  welche  geeignet  ist,  auch  auf  die  reihenfolge  der 
ausserhalb  jener  gruppe  von  6  tönen  liegenden  lieder  hcht  zu  werfen.  Sie  alle  zeigen 
in  dieser  bezieliung  erhebhch  mehr  Unregelmässigkeiten  als  eben  jene  kurz  vor  den 
kreuzzug  lallende  gruppe,  und  andrerseits  lassen  sie  auch  widerum  unter  sich  beträcht- 
liche abstufungen  wahrnehmen.  Darauf  gründet  der  Verfasser  ihre  chronologische 
bestimmung.  Das  Verhältnis  der  fälle,  in  welchen  innerhalb  eines  tones  der  auftakt 
fehlt,  zur  gesamtzahl  der  verse  dieses  tones  drückt  er  in  procenten  aus,  gibt  eine 
genau  nach  diesen  procentzahlen  geordnete  tabellarische  Übersicht  über  Hartmanns 
sämtliche  lieder,  nimt  an,  dass  ihi-e  abfassungszeit  ganz  dieser  Ordnung  entspreche 
und  sucht  dann  schliesslich  in  einem  besonderen  kapitel  auch  den  dichterischen  ent- 
wickelungsgang  imseres  Sängers  durchaus  diesem  Schema  gemäss  zu  konstruieren. 

Die  Untersuchung  ist  zunächst  recht  geschickt  an  einen  festen  punkt  angespon- 
nen; aber  sie  verliert  sich  schliesslich  in  so  unsichere  combinationen ,  wie  sie  nur  je 
über  die  reihenfolge  der  lieder  Hartmanns  angestelt  sind.  Das  mathejnatische  aus- 
sehen, welches  die  grundlage  der  chronologischen  aufstellungen  des  Verfassers  zeigt, 
darf  über  den  grad  ihrer  Zuverlässigkeit  nicht  täuschen.  Einmal  sind  schon  die  zah- 
len, auf  welchen  die  procentberechnungen  fussen,  viel  zu  gering,  als  dass  diese  ein 
richtiges  bild  von  dem  wechselnden  gebrauche  des  auftaktes  bei  unserm  dichter  geben 
könten.  Es  ist  ja  schon  verwirrend,  wenn  z.  b.  von  dem  nur  7  verse  enthaltenden 
liede  211,  20 fg.  gesagt  wird,  die  zahl  der  auftaktlosen  verse  betrage  hier  O,00prozent; 


i'l!EK    SA1;AX,    If.VKTMANN    V.    AUK    ALS    LVKIKKU  239 

di'iiu  iiiflit  auf  100,  SDinlorn  auf  7  vcrse  limlrt  sicli  Iüit  kein  vers  uliiu'  auftakt,  und 
nuxu  kann  durc-haus  nicht  beliaupten,  dass  der  dichter,  AvtMui  er  dios  lii'il  auf  100 
verse  gebracht  liütto,  audi  den  iihrigeii  9'.",  versen  stets  den  auftakt  gegeben  liabeu 
niüste,  nur  deshalb,  Aveil  er  ihn  den  7  ersten  gali!  Damit  hiingt  zusamnieii,  dass  die 
dittercuzen  zwischen  den  einzehien  gediehten  naeli  dei-  tal)elie  des  Verfassers  viel 
grösser  orsc'heinen  als  sie  tatsjlehlich  sind.  So  stehn  in  ilir  den  O,0O  proeent  des 
genanten  tones  2,2'J  proei'iit  des  1.  tones  gegenülicr;  alicr  iii(tht  diese  zaid,  sotidern 
die  zaid  0,  iil  würde  die  diiferenz  der  beiden  im  gebrauch  der  auftaktlesi^n  versi^  aus- 
liniekeu;  denn  da  in  dem  \')  vers(i  undassenden  !.  tone  zweimal  der  auftakt  fehlt,  so 
würde  das  gleiche  veriiiiltnis  in  einem  gedi(;hte  von  7  versen  imaginär  dunjh  die  ange- 
gebene zahl,  faktisch  eher  durch  das  fehlen  als  durch  das  vorkommen  eines  solchen  fal- 
les  seinen  ausdruek  linden.  Den  erwähnlen  L','--  [ireeeut  des  1 .  tones  (iMFL'Or),  1)  folgen 
als  näciisthriehste  zalil  !t,00  proeent  des  10.  tones  (MF  214,  12).  l)(>r  Verfasser  sieht 
darin  .,einen  ganz  auffaUeniliMi  Sprung,  der  nach  di^r  sonst  zu  beoliaehtenden  stetigen 
zunähme  der  proecntzahlen  in(dit  natiirlieli  unil  organisch  sein  kann"'.  Kr  glaubt, 
these  Kicke  in  der  fortschreitenden  kunst  des  dieiders  dadurcli  ausfüllen  zu  müssen, 
dass  er  vielleicht  die  abfassuug  d(.'r  verlorenen,  von  (Jliers  ei'wiihuten  leiche,  „ohne 
zweifei"  aber  das  1.  büchlein  (soweit  der  Verfasser  dasselbe  für  e(;lit  hält)  zwischen 
die  der  so  sehr  verschiedenen  beiden  tone  sezt.  Und  woi'in  bestellt  denn  nun  tat- 
sächlich dieser  grosso,  ganz  auffallende  unterschied?  In  den  45  vei'sen  des  einen 
tones  fehlt  der  auftakt  zweimal,  in  den  22  versen  des  andern  fehlt  er  ■ —  auch 
zweimal!  Dies  das  wirkliche  Verhältnis,  weL'hes  lediglieh  dundi  die  hier  ganz  ver- 
fehlte proceutrechnung  zu  dimensioneii  aufgebauseht  wird,  die  den  Verfasser  wie  den 
leser  in  die  irre  führen. 

Aber  damit  uocli  nicht  genug;  der  Verfasser  hat  bei  der  aufstellung  seiner 
taltelle  entweder  ganz  vergessen,  dass  dieselbe  die  fortschreitende  regelung  des  auf- 
taktes  veranschaulichen  soll,  oder  er  sieht  tliese  regelung  ausschliesslich  in  dem  gleich- 
massigen  setzen,  nicht  auch  in  dem  gleichmässigeu  fehlen  des  auftaktes,  und  elienso- 
wenig  in  dem  bestirnten  Wechsel  von  versen  mit  und  ohne  auftakt;  denn  nach  seiner 
Übersicht  steigen  unterschiedslos  mit  der  zahl  der  auftaktlosen  verse  eines  tones  auch 
jene  proceutzahlen,  deren  almälüiches  anwachsen  uns  immer  weiter  zurück  auf  die 
stufen  geringerer  kuustfertigkeit  des  dichters  führen  soll;  die  denkbar  niedrigste  stufe 
derselben  würden  wir  demnach  mit  der  denkbar  hiichsten  procentzahl  erreichen,  d.  h. 
in  einem  eonsei|uent  ganz  ohne  auftakt  gebauten  gedi(;hte!  Ein  solehi.'S  findet  sich 
nun  allerdings  bei  Hartmann  nicht,  wol  aber  gebraucht  er  stropheuschemeu,  welche 
das  fehlen  des  auftaktes  an  bestirnter  stelle  erheischen.  So  erfordert  das  grund- 
scliema  des  tones  213,  29  augenscheinlich  4  auftaktlose  stollenverse,  während  von 
dem  siebenzeüigen  abgesang  gleichfalls  5  verse  ohne  auftakt  bleiben,  2  dagegen, 
nämlich  der  zweite  als  der  einzige  zweihebige  und  der  schlussvers,  sich  durch  auf- 
takt abheben.  Die  erste  strophe  zeigt  diese  reguläre  form  (denn  z.  37  statt  des 
handschriftlichen  (la\  ni(;ht  mit  Haupt  deich,  sondern  mit  Saran  i/<i\  si  einzusetzen, 
haben  wir  keine  veranlassung);  die  zweite  weicht  darin  ab,  dass  sie  ausser  den  ange- 
gebenen auch  zwei  anderen  versen  des  abgesanges  noch  den  auftakt  verleiht;  das 
auftaktschema  wird  also  hier  in  einem  liede  von  22  versen  zweimal  vernachlässigt; 
das  ist  genau  dasselbe  Verhältnis,  wie  es  in  dem  vorhin  besprochenen  liede  214,  12 
vorlag.  Nach  des  Verfassers  berechnung  steht  dagegen  213,  29  mit  nicht  weniger 
als  68,20  proeent  als  ein  gedieht,  in  welchem  „das  gefühl  für  die  bedeutung  des 
auftaktes  noch  gar  nicht  existiert",   ganz   am  anfang,  214,  12  nüt  9  proeent  ganz  am 


240  F.    VOGT 

ende  der  vor  der  „grossen  liicke"  liegenden  liederreihe.  —  Und  so  wie  hier  werden 
denn  auch  in  einem  gedieh te,  welches  regelmässig  verse  ohne  und  mit  auftakt  wech- 
seln lässt,  die  auftaktlosen  ganz  mechanisch  zu  einer  zahl  zusammenaddiert,  die  uns 
den  grad  der  Unregelmässigkeit  des  auftaktes  veranschaulichen  soll.  Es  ist  das  lied 
212,  13,  dessen  versanfänge  folgendes  streng  geregelte  Schema  zeigen:  -^,  X— ,  — , 
X-^;  _^,  x-i,  x-i,  x-i.  Die  einzige  imregelmässigkeit  zeigt  die  dritte  strophe 
(die  nach  dem  Verfasser  übrigens  ganz  selbständig  sein  soll)  darin,  dass  sie  im  anfange 
des  abgesanges  den  vers  mit  auftakt  dem  auftaktlosen  nicht  wie  in  den  beiden  ersten 
Strophen  folgen,  sondern  vorangehen  lässt.  Das  kann  uns,  bei  der  im  übrigen  beson- 
ders künstlichen  gestaltuug  des  auftaktes,  natürlich  nicht  hindern,  dies  lied  imter 
diejenigen  zu  zählen,  in  welchen  der  dichter  dem  auftakte  am  meisten  aufmerksam- 
keit  zugewant  hat;  es  würde  von  dieser  seite  aus  gar  kein  bedenken  dagegen  vor- 
liegen, das  gedieht  noch  hinter  die  kreuzzugsheder  zu  setzen.  Nach  des  Verfassers 
tabelle  dagegen  folgt  es  mit  87  procent  auftaktloser  verse  unmittelbar  auf  die  beiden 
töne,  in  welchen  sich  noch  gar  kein  gefiUil  für  die  bedeutung  des  auftaktes  vorrät!  — 
Die  beigebrachten  proben  werden  genügen,  um  zu  zeigen,  dass  des  Verfassers  berech- 
nungen  und  die  auf  diese  gegründete  hypothese  von  der  reihenfolge  der  Hartmann- 
schen  lieder  durchaus  verfehlt  sind.  Gewiss  wird  es  richtig  sein,  wenn  man  die  lie- 
der  mit  strenger  regulierung  des  auftaktes  für  jünger  hält  als  die  mit  freier  behaudlung 
desselben;  aber  Illusion  ist  es,  wenn  man  glaubt,  dass  man  auf  grund  eines  ganz 
minimalen  mehr  oder  weniger  in  der  einen  oder  in  der  andern  richtung  nun  auch 
jedem  einzelnen  gedichte  seinen  bestimteu  platz  in  der  gesamtreihe  anweisen  könne. 
Und  wenn  man ,  von  der  Chronologie  ganz  absehend ,  lediglich  zur  vei'anschaulichung  der 
grösseren  oder  geringeren  regelmässigkeit  des  auftaktes  eine  übersichtliche  reihe  der 
lieder  aufstellen  wolte,  so  müste  diese  doch  ganz  anders  ausfallen  als  die  vom  Ver- 
fasser construierte. 

Neben  dem  fehlen  des  auftaktes  kommen  nach  dem  Verfasser  noch  zwei  (in 
seiner  tabelle  jedoch  nicht  berücksichtigte)  metrische  Unregelmässigkeiten  in  betracht: 
zweisilbiger  auftakt  und  zweisilbige  Senkung.  Beides  stelt  er  in  näherem  anschluss 
an  die  handschriften  gegen  Haupts  text  mehrfach  her.  Ich  bin  gewiss  weit  davon 
entfernt,  diesen  nicht  für  verbesserungsfähig  zu  halten,  und  sicherlich  verdient  beson- 
ders die  frage  erwogen  zu  werden,  ob  die  metrischen  rücksichten,  welche  Lachmann 
und  Haupt  veranlassten,  von  der  Überlieferung  abzuweichen,  überall  berechtigt  sind; 
aber  es  muss  zu  diesem  zwecke  im  zusammenhange  geprüft  werden,  welchen  grad 
von  zutrauen  denn  die  handschriften  bei  den  hier  in  betracht  kommenden  dingen 
verdienen,  inwiefern  sie  sich  durch  verschiedenen  gebrauch  in  analogen  fällen  selbst 
corrigieren  usw.  Nur  so  lassen  sich  sichere  grundsätze  gewinnen,  imd  diese  müssen 
dann  consequent  angewendet  werden.  Aber  in  dieser  beziehung  lässt  des  Verfassers 
verfahren  gar  manches  zu  wünschen  übrig.  Warum  stelt  er  z.  b.  210,  33  den  auf- 
takt ich  ivil  gegen  Lachmann  im  anschluss  an  die  Überlieferung  her,  nicht  dagegen 
209,  36  der  sin  und  210,  2  beid/u?  gerade  in  dem  vom  Verfasser  hergestelten  verse 
haben  BC  sicherlich  nicht  an  zweisilbigen  auftakt,  sondern  fälschlich  an  4  hebungen 
statt  dreier  gedacht,  ebenso  wie  in  den  beiden  unmittelbai'  vorangehenden  210,  31/32; 
so  gut  wie  diese  war  auch  33  zu  bessern.  Hält  auch  der  Verfasser  den  vers  diu 
werlt  lachet  mich  triegent  an  metrisch  für  unmöglich,  da  er  er  hier  stilschweigend 
die  änderang  hinnimt?  eine  bemerkung  darüber  schiene  doch  notwendiger  als  die, 
dass  hier  trieyende  mit  elision  des  e  zu  lesen  sei.  AVarum  schliesst  er  sich  nicht 
den  handschriften  auch  da  au,    wo  sie  eine  Senkung  fehlen  lassen,   wie  205,  4;    und 


ÜBER    SARAX,    IIARTMANN    V.    AUE    ALS    LYRIKER  241 

warum  stelt  er  die  zweisilbige  Senkung,  die  sich  doch  ITartmann  gestatten  soll,  so 
wenig  cousequent  her  wie  den  zweisilbigen  auftakt?  Zu  217,  21  ist  gegen  Haupt 
und  gegen  das  motruin  iraTc  angeblich  nach  C  liorgestelt,  aber  in  C  steht  Haupts 
ir<vr  entsprecliend  wer;  auch  zu  218,  2G  ist  eine  das  metrum  versclilcchternde  lesart 
als  aus  C  stammend  aufgenommen,  während  dort  tatsächlich  etwas  ganz  anderes 
steht  usw.  Alles  in  allem  fühlt  man  sich  bei  den  kritischen  bemerkungon  des  Ver- 
fassers —  trotz  der  Sicherheit,  mit  der  auch  sie  vorgebraclit  werden  —  doch  nicht  auf 
sichererem  boden  als  bei  seinen  aufstelluugeu  über  die  reihenfolge  der  lieder. 

Das  auseinanderlegen  der  strophen  eines  toucs  in  verschiedene  einzelne  lieder 
treibt  dei'  Verfasser  sehr  weit;  entschieden  zu  weit,  wenn  er  —  abgesehen  von 
äusseren  kriterion  —  mehrstrophige  lieder  nur  da  anerkennini  will,  wo  (;in  klarer 
und  ungezwungener  gedankenfortsehritt  statfuulet,  dagegen  niclit,  wo  sich  oline  sol- 
chen die  einzelnen  strophen  eines  toues  um  denselben  gedanken  drehen.  Die  wider- 
Iiolung  eines  und  desselben  gedankens  in  verschiedener  form  ist  nun  einmal  der  alten 
dichtkunst,  der  epischen  sowol  wie  der  lyrischen,  in  weit  grösserem  umfange  geläufig, 
als  es  dem  inoderuen  geschmack  entspricht;  sie  diesem  zuliebe  durch  allerlei  kritische 
mittel  möglichst  einzuschränken,  ist  ein  zwar  herkömliches,  aber  darum  noch  nicht 
berechtigtes  verfahren.  Anders  steht  es  natürlich,  wenn  die  strophen  eines  tones 
ganz  verschiedene  dinge  behandeln,  augenscheinlich  aus  imvereinbaren  Situationen 
entsprungen  sind  usw.;  doch  muss  mau  auch  hier  behutsamer  als  der  Verfasser  zu 
werke  gehen,  der  an  der  vermeintlichen  Verschiedenheit  der  strophen  ebenso  oft  ohne 
grund  anstoss  nimt  wie  an  ihrer  Übereinstimmung.  Was  er  z.  b.  über  abweichende 
Voraussetzungen  in  den  einzelneu  strophen  des  liedes  206,  19  fg.  sagt,  ist  entscliie- 
den  hinfällig.  Mehrfach  hat  er  in  der  abtrennung  einer  und  der  andern  strophe  schon 
Vorgänger  gefimden,  und  er  treibt  dann  durch  isoliermig  jeder  einzelnen  strophe  die 
Sache  auf  die  spitze,  während  ich  in  einigen  fällen  schon  jene  teilweise  loslösung  für 
unbegründet  halte.  So  z.  li.  bei  diMU  sechsstrophigen  liede  207,  11.  Hier  hätte  nicht 
eitunal  die  6.  strophe  abgetrent  werden  sollen,  wie  es  in  MF  geschehen  ist;  deim 
diese  palinodie  der  1.  strophe  bildet  meines  erachtens  gerade  die  schlusspointe,  zu 
welcher  sich  die  almählich  fortschreitenden  gedanken  zuspitzen.  (1)  ,,Mein  verspre- 
chen, ihr  mein  ganzes  leben  zu  widmen,  kann  ich  nicht  halten;  ich  halie  mein  herz 
von  ihr  gewendet;  von  einem  unbesonnenen  gelübde  muss  man  sich  befreien,  ehe 
man  in  nutzlosem  ringen  seine  jähre  verzehrt;  so  auch  ich;  ich  räume  ihr  das  feld 
und  werde  in  Zukunft  meinen  dienst  anderswohin  wenden.  (2.)  (Man  darf  mich  des- 
halb nicht  treulos  schelten:)  untreue  wai-  mir  stets  verhasst;  lediglich  meine  treue 
liat  mich  nicht  schon  eher,  soviel  ich  auch  zu  leiden  hatte,  aus  ihrem  dienste  schei- 
den lassen.  Jezt  schmerzt  mich,  dass  sie  mich  ohne  lohn  lassen  will;  und  doch  will 
ich  auch  jezt  nichts  als  gutes  von  ihr  reden;  ehe  ich  sie  betrübe,  will  ich  lieber 
zum  schaden  auch  die  schuld  auf  mich  nehmen.  (3.)  "Was  solte  ich  auch  der  jezt 
böses  nachsagen,  die  ich  bisher  immer  nur  gelobt  habe?  Ich  kann  ja  meinen  kum- 
mer  klagen,  ohne  sie  deshalb  schlecht  zu  macheu,  meinen  kummer,  dass  sie  viele 
jähre  meinen  dienst  hinnimt  und  meinem  werben  um  ihre  minne  doch  nur  mit  feind- 
seligkeit  antwortet.  Dass  ich  nie  erfolg  bei  ihr  hatte,  muss  ich  mir  selbst  zum  Vor- 
wurf machen;  hätte  sie  mich  dessen  für  würdig  erachtet,  so  würde  sie  mir  besser 
gelohnt  haben.  (4  =  207,  33)  Da  ich  also  auf  lohn  von  ihr,  der  ich  doch  so  lauge 
gedient,  verzichten  muss,  so  bitte  ich  gott,  dass  er  mir  doch  eins  gewähre:  dass 
es  nämlich  ihr  stets  wol  ergehen  möge;  das  sei  meine  räche,  dass  ich  bessere  wün- 
sche für  sie  hege  als  irgend  ein  anderer,  ihr  leid  betraure,  ihres  glückes  mich  freue. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.      BD.   XXIV.  1" 


242  F.    VOGT 

(5  =  208,  20)  Jene  jähre,  die  ich  ilir  gewidmet  habe  (vgl.  208,  12  fg.  207,  18) 
sind  doch  nicht  verloren:  fehlte  mir  auch  der  minnelohn,  so  tröstete  mich  doch 
freundliche  hofnuug.  Ich  wünschte  nichts  weiter,  als  dass  ich  sie  wider  wie  ehedem 
meine  herrin  nennen  möchte!  manchem  manne  geht's  so  bis  an  sein  ende,  dass  ihm 
niemals  liebes  widerfährt,  dass  ihn  aber  doch  immer  die  hofnung  darauf  froh  macht. 
(G)  (Nun  so  will  ichs  denn  auch  so  halten:)  um  ihretwillen,  der  ich  bisher  gedient 
habe,  will  ich  froh  sein,  wenn  mir  der  dienst  auch  nichts  geuüzt  hat;  ich  weiss, 
dass  meine  herrin  edel  ist;  wer  die  seine  fahren  lässt,  der  mag  das  haben:  ilm  ver- 
driessen  die  nutzlos  verzehrten  jähre;  wer  so  minnet,  ist  falsch;  ich  habe  es  besser 
im  sinne,  ich  will  niemals  von  ihr  lassen".  So  wird  hier  das  gedankeuspiel  von  der 
aufkündiguBg  des  dienstes  aus  durch  eine  Stufenleiter  versöhnlicher  betrachtungen 
hindurch  zur  förmlichen  zurücknähme  jener  aufsage  geführt.  Str.  207,  23  ordne  ich 
wie  Paul  und  Biu-dach  ein.  Str.  208,  23  wird  (st.  tröstet  A  froestet  BC)  zu  lesen 
sein  tröste,  denn  es  geht  aus  den  vorhergehenden  wie  aus  den  folgenden  versen  her- 
vor, dass  es  sich  um  den  zustand  des  dichters  in  den  vergangenen,  jezt  zurück- 
gewünschten Jahren  vergeblichen  und  doch  hofnungsfrohen  dienstes  handelt.  208,  39 
schliesse  ich  mich  (wie  Saran)  der  handschriftlichen  Überlieferung  an;  aber  die  jähre 
sind  nicht  als  die  zukünftigen,  sondern  als  die  verflossenen  aufzufassen:  diese  ver- 
driessen  den,  welcher  den  dienst  (wegen  mangelnder  gewährung)  aufgibt,  natürlich 
weil  sie  nun  vergeblich  hingebracht  sind,  während  sie  demjenigen,  der,  wie  jezt  der 
dichter,  zur  ei'kentnis  gekommen  ist,  dass  nicht  nur  die  gewährung,  sondern  scliou 
die  hofnung  beglückt,  und  der  deshalb  auch  den  dienst  festhält,  vil  imverlorn  sind. 

Ein  weiteres  eingehen  auf  des  Verfassers  auflösungsversuche  muss  ich  mir  hier 
versagen;  so  weit  wie  er  wird  in  dieser  beziehung  schwerlich  sonst  jemand  gehen. 
Übrigens  schi'änkt  er  selbst  in  einer  nachträglichen  anmerkung  seine  ursprüngliche 
aufstellung  etwas  ein,  indem  er  die  Strophen,  welche  sich  ohne  gedankenfortschritt 
um  dasselbe  thema  drehen,  wenn  auch  nicht  ein  lied,  so  doch  einen  strophenkreis 
bilden  lässt,  dessen  einzelne  teile  sich  der  entstehungszeit  nach  nahe  standen,  nach- 
her auch  alle  zusammen  vorgetragen  sein  werden  (also  doch  wol  auch  von  den  her- 
ausgebern  als  zusammengehörig  zu  bezeichnen  sind?  dass  bei  den  so  bezeichneten 
deshalb  die  gedankenentwickelung  und  strophenverknüpfuug  dieselbe  sein  müsse  wie 
in  der  neueren  kunstlyrik,  hat  doch  niemand  behauptet?).  Freilich  meint  der  Ver- 
fasser, dass  auch  die  ganz  verschiedenen  Situationen  entsprungenen,  untereinander 
unvereinbaren  Strophen  eines  toues  sich  zeitlich  doch  immer  wenigstens  insofern  nahe 
standen,  als  Hartmann  zwischen  solchen  niemals  strophen  eines  anderen  tones  gedich- 
tet hätte.  Daraus  leitet  der  Verfasser  auch  das  recht  ab,  bei  seinen  Untersuchungen 
über  die  auftaktverhältnisse  jeden  ton  als  ganzes  zu  betrachten,  auch  wenn  er  alle 
seine  strophen  als  selbständige  einzellieder  ansieht.  Das  war  allerdings  notwendig, 
wenn  eine  bestimmung  der  Zeitfolge  der  lieder  auf  grund  der  behandlung  des  auf- 
taktes  möglich  bleiben  solte;  denn  zwischen  jenen  kleinen  einzelliedern  dessel- 
ben tones  würden  sich  in  dieser  beziehung  nach  der  vom  Verfasser  angewendeten 
proceutrechnung  teilweise  ganz  riesige  differenzen  ergeben,  welche,  auf  entsprechende 
differenzen  in  der  abfassungszeit  zurückgeführt,  ein  sehr  wunderliches  chronologisches 
durcheinander  von  einzelnen  bestandteilen  verschiedener  töne  zur  folge  gehabt  haben 
würden.  Aber  wenn  die  abweichungen  im  auftakt  zwischen  den  einzelnen  liedern 
desselben  tones  für  deren  zeitliches  auseüianderliegen  nichts  beweisen,  welche 
beweiskraft  bleibt  ihnen  dann  in  dieser  beziehung  noch  für  die  verschiedeneu  töne? 
So  dichtet  z.  b.  Hartmanu  im  ersten  tone  vier  einstrophige  neunzeilige  liedchen  mit 


ÜBER   SARAN,    IIARTMANN   V.    AUE    ALS   LYRIKER  243 

regelmässig  aiisgefültein  auftakt,  eines  dagegen,  in  welchem  zweimal  der  auftakt  fehlt; 
müsten  wir  demnach  nicht  das  leztere  von  den  vier  anderen  zeitlich  noch  weiter 
abrücken  als  das  zweistrophige  lied  214,  12,  in  welchem  auf  die  22  verse  der  bei- 
den zusammengehörigen  Strophen  nur  2  verse  mit  fehlendem  auftakt  kommen?  Aber 
in  einem  falle  sollen  sich  die  liedcr  trotz  jener  difforcnz  zeitlich  nahe  stehen,  im 
andei-en  falle  wird  ihr  so  grosses  gewicht  beigelegt,  dass  sie  nur  durch  eine  längere 
Unterbrechung  in  Hartmanns  lyrischer  dichtung  erklärt  werden  kann.  Nach  des  Ver- 
fassers weise  würde  die  nicht  zu  berücksichtigende  differenz  sogar  durch  die  procent- 
zahlen  0  gegen  22,  die  berücksichtigte  durch  2,22  gegen  9  auszudrücken  sein.  Auch 
von  dieser  seite  zeigt  sich  wider,  wie  wilkürlich  und  haltlos  dieser  ganze  chronolo- 
gisclie  aufbau  ist. 

Besser  steht  es  mit  der  Statistik  der  in  den  reimpardichtungen  fehlenden  seu- 
kmigcn,  insofern  hier  die  zahlen  gross  genug  sind,  um  eine  geeignete  gnuidlage  für 
procentberechnungen  abzugeben  und  nicht  alzugrossen  zufalsschwankungen  ausgesezt 
zu  sein.  Mit  recht  unterscheidet  der  Verfasser  dabei,  ob  die  Senkung  zwischen 
zwei  verschiedenen  werten  oder  zwischen  zwei  silben  desselben  wortes  unterdrückt 
wird.  Er  sieht  in  dem  ersten  falle  eine  grössere  härte,  welche  von  den  genaueren 
dichtem  mehr  imd  mehr  gemieden,  von  einzelnen  schliesslich  ganz  beseitigt  wird, 
während  sie  sich  die  zweite  freiheit  noch  gestatten.  So  lässt  sich  auch  von  Hart- 
manns epischen  dichtungen  eine  reihe  aufstellen,  in  welcher  die  erste  freiheit  etwas, 
die  zweite  verschwindend  wenig  abnimt,  nämlich:  Erec,  Iwein,  Gregor,  armer  Hein- 
rich. In  dieser  folge  sind  deim  auch  nach  des  Verfassers  meinung  diese  gedichte 
entstanden. 

Vom  ersten  büchlein  betrachtet  der  Verfasser  den  in  reimpaaren  gehaltenen 
hauptteil  für  sich;  derselbe  würde  nach  der  gesamtzahl  der  fehlenden  Senkungen  hinter 
sämtliche  epen  gehören,  nach  der  zahl  der  zwischen  zwei  Worten  fehlenden  zwischen 
Iwein  und  Gregor,  so  dass  also  natürlich  der  andere  faU,  das  fehlen  der  Sen- 
kung zwischen  zwei  silben  desselben  Wortes,  widerum  seltener  ist  als  in  allen  epen. 
Das  stimt  nun  allerdings  nicht  zu  des  Verfassers  sonstigen  chi'onologischen  Voraus- 
setzungen; denn  er  sezt,  wie  wir  bereits  sahen,  diesen  echten  teil  des  ersten  büch- 
leins  mitten  zwischen  die  lieder  in  jene  „grosse  lücke",  die  gesamte  lyi'ik  Hartmanns 
aber  sezt  er  noch  vor  den  Erec.  Aber  jener  widersprach  lässt  sich  nach  seiner 
meinung  durch  die  annähme  ausgleichen,  dass  Hartmann  sich  in  dem  büchlein  mit 
seinem  nicht  der  epik,  sondern  der  lyrik  aufs  nächste  verwanten  inhalt  durch  die 
glättere  form  des  minnegesanges  beeinflussen  liess.  Ich  halte  nun  zwar  diese  datierung 
für  entschieden  unrichtig;  denn  was  es  mit  jener  grossen  lücke  auf  sich  hat,  haben 
wir  gesehen,  und  Hartmanns  lyrik  auch  in  ihrer  am  meisten  ausgebildeten  kunst- 
form für  älter  als  sein  episches  erstlingswerk  halten,  heisst  meines  erachtens  auf 
die  Verwendbarkeit  der  zwischen  den  einzelnen  werken  waltenden  kunstunterschiede 
für  die  bestimmung  ihrer  Zeitfolge  verzichten.  Dennoch  kann  man  ja  an  sich  dem 
Verfasser  zugeben,  dass  ein  gedieht  wie  das  erste  büchlein  auch  im  versbau  dui'ch 
die  lynk  beeinflusst  werden  konte;  nur  muss  dann  dieser  einfluss  von  vornherein  in 
viel  höherem  grade  in  dem  lezten  teile  dieses  gedieh tes  vermutet  werden,  der  nicht 
nur  inhaltlich,  sondern  in  der  künstlichen  reimweise  und  in  der  gruppierung  der 
verse  auch  formell  schon  der  lyrik  näher  steht  als  der  epik.  Es  kann  uns  daher  gar 
nicht  wundern,  wenn  in  diesem  stücke  die  Senkungen  überhaupt  und  ganz  insbeson- 
dere die  Senkungen  zwischen  zwei  verschiedenen  Worten  seltener  fehlen  als  in  allen 
übrigen  gedichten  Hartmanns;    und   es   ist  ungerechtfertigt  und   entspricht  jener  vom 

16* 


244  F.    VOGT 

Verfasser  bezüglich  der  metrik  des  ersten  teiles  gegebenen  erklärung  keineswegs,  wenn 
er  hier  diesem  umstände  eine  so  hervorragende  bedeutung  beimisst,  dass  er  allein 
schon  die  iinmöglichkeit  beweise,  Hartmann  als  Verfasser  dieses  Stückes  anzuneh- 
men. Auch  was  sonst  für  die  annähme  beigebracht  wird,  dass  dies  ^schlussgedicht" 
(v.  1645  — 1914)  nicht  von  Hartmaun  verfasst,  ja  mit  den  versen  1  — 1644  nur  durch 
Zufall  zusammengeraten  sei,  hält  nicht  stich.  Der  Verfasser  meint,  die  verse  1645  fg. 
könten  unmöglich,  wie  Haupt  meinte,  als  rede  des  leibes  zu  denken  sein,  der  1642  fg. 
vom  herzen  aufgefordert  war:  nu  solt  du  Itp  hin  %ir  unser  für  spreche  sin;  das 
beweise  v.  1679  min  Up  vor  leide  nach  versivant  und  v.  1911  ich  hän  in  dtnen 
geicalt  ergeben  die  sele  %uo  dem  libe,  die  emphäh  .  .  .  (vgl.  auch  noch  1903  fg.); 
denn  hier  rede  doch  sicher  nicht  der  leib,  sondern  der  dichter,  und  der  den  versen 
1  — 1644  ZU  gTunde  liegende  gedanke  von  einer  trennung  des  leibes  und  der  seele 
und  von  einem  dialog  zwischen  beiden  als  selbständigen  personen  verrate  sich  im 
Schlussgedichte  nirgend.  Dem  gegenüber  ist  zu  bemerken,  dass  nach  den  ausdiück- 
lichen  Worten  der  verse  1642  fg.  der  leib  ja  von  jezt  an  eben  nicht  mehr  ausschliess- 
lich als  leib,  sondern  als  Vertreter  von  leib  und  herz,  also  im  namen  der  gesamten 
persönlichkeit  sprechen  soll ;  es  ist  also  keine  sonderliche  ungenauigkeit ,  wenn  Hartmann 
ihn  schliesslich  nicht  anders  reden  lässt,  als  wenn  er,  der  dichter,  selbst  spräche.  Aber 
selbst  in  dem  vorangehenden  dialog  v.  1- — 1644  ist  die  trennung  keineswegs  in  dem 
vom  Verfasser  angegebenen  sinne  durchgeführt.  Denn  erstens  steht  ja  dem  leibe  keines- 
wegs die  seele,  sondern  das  von  dieser  ausdrücklich  unterschiedene  herz  gegenüber, 
und  zweitens  deckt  sich  der  Itp  hier  durchaus  nicht  mit  dem  begi-iffe  „körper",  son- 
dern er  umfasst  auch  einen  teil  der  geistigen  kräfte  mit;  ja  wie  im  gewöhnlichen 
sprachgebrauche  Up  die  ganze  persönlichkeit  bezeichnen,  mi7i  Up  für  ich  gesagt  wer- 
den kann,  so  spricht  auch  Hartmann  in  jenem  dialoge  oft  genug  einfach  selbst,  wo 
der  Up  das  "wort  hat.  So  sagt  denn  der  Ujj:  ich  bin  ein  freudeloser  man  334,  wird 
vom  herzen  ebenfals  man  genant  595,  spricht  öfter  dem  herzen  gegenüber  von  sei- 
nem muot  und  gemüete,  von  den  (jedanken,  mit  denen  er  der  geliebten  nahe  ist, 
132  fg.,  von  seinem  sin  1086,  seiner  ctrmen  sele  1431  —  ja  er  spricht  sogar  von 
seinem  leibe:  dax  ich  .(der  Up!)  üz  al  der  werlt  ein  zvrp  xe  froioen  über  mtnen 
li])  für  st  hcete  niht  erkorn  107  fg.  Damit  dürfte  jenes  bedenken  wol  endgültig 
beseitigt  sein.  Dass  1644  einen  befriedigenden  schluss  gebe,  kann  ich  niclit  im  min- 
desten zugestehen;  die  aufforderung  1642  fg.,  in  der  fürspreche  nur  als  fürsprecher, 
Wortführer  verstanden  werden  kann,  hat  nur  zweck,  wenn  sie  die  Schlussapostrophe 
einleiten  soll,  zu  der  sich  nun  herz  und  leib  verbinden  und  die  widerum  mit  dem 
hiuweis  auf  die  Vereinigung  der  beiden  im  dienst  der  geliebten  (1903  fgg.)  passend 
endigt.  Was  endlich  die  abweichungen  des  Schlussgedichtes  von  Hartmauus  sonsti- 
gem spracligebrauch  betrift,  so  erklären  diese  sich  wol  ausreichend  aus  der  imgewöhn- 
lichere  ausdrücke  und  Wendungen  heischenden  reimhäufung. 

Auch  das  zweite  büchlein  erklärt  der  Verfasser  füi'  unecht,  indem  er  die  schon 
von  anderen  für  diese  ansieht  vorgebrachten  gründe  hauptsachlich  widerum  durch 
seine  die  fehlenden  Senkungen  betreffenden  beobachtungen  zu  verstärken  sucht.  Nach 
diesen  würden  die  Senkungen,  besonders  zwischen  zwei  verschiedenen  Worten,  im 
zweiten  büchlein  weit  seltener  ausgelassen  sein  als  in  allen  übrigen  dichtungen  Hart- 
manns (s.  51  fg).  Ich  bin  zu  einem  anderen  ergebnisse  gekommen.  Nach  meiner  Zäh- 
lung fehlt  die  Senkung  in  den  826  versen  des  zweiten  büchleins  zwischen  zwei  ver- 
schiedenen werten  88 mal,  zwischen  zwei  silben  eines  wertes  138 mal;  in  den  826 
ersten  versen  des  ersten  büchleins  komt  der  erste  fall  87 mal,   der  zweite  91  mal  vor. 


ÜBER  SARAN,  HARTMANN  V.  AUK  ALS  LYRIKER  _      245 

Danach  zeigt  sich  also  in  jenem  sogar  eine  inerkwiirdigo  üljoi-eiustiminiing  zwischen 
den  beiden  büchloin;  in  diesem  dagegen  stellt  das  zweite  büclüein  dem  Gregor  und 
Iwcin  näher,  wo  in  der  gleichen  verszahl  zwischen  zwei  silbcn  eines  wertes  die  Sen- 
kung llOmal  beziehungsweise  141  mal  unausgefült  bleibt.  Icli  kann  also  in  diesen 
Verhältnissen  keinen  griiiid  gegen  die  abfassung  des  zweiten  büclüeins  durdi  Ilart- 
mann  finden.  Vielmehr  halte  ich  dieselbe  nacli  wie  vor  für  das  wahrschcinliclLste, 
weil  das  gedieht  für  einen  plagiator  zu  gut  ist,  weil  sich  auffällige  übereinstimnuin- 
gen  mit  .sicher  llartmannischem  eigentum  auch  in  iiebendingcn  zeigen,  l)ei  denen  an 
entlchuuug  niclit  zu  denken  ist,  und  weil  die  entlchnung  aus  Ilaiimanns  sämtlichen 
werken  (und  nicht  allein  aus  seinen  epcn,  sondern  auch  aus  seiner  keineswegs  wie 
jiMie  mafsgebenden  lyrik)  in  augenfälliger  weise  statgefunden  haben  müstc,  während 
von  anderen  diciitcrn,  insbesondere  auch  von  den  grösten  und  bekantesten  lyrikern, 
nichts  entlehnt  worden  wäre;  deim  dass  die  verse  büchlein  720/20,  auf  deren  über- 
einstinnnung  mit  lUirkhart  v.  IIoluMifels  ^ISII  I,  205  str.  3  Saran  hinweist,  ursprüng- 
lich niclit  dem  l)üchlein,  sondern  lUirkhart  gcliören,  kann  man  natürlicli  nur  aiinoli- 
inen,  wenn  man  den  siiäteren  ursiirung  des  büclilciiis  schon  aus  anderen  gründen  für 
erwiesen  hält. 

Von  den  licdern  werden  212,  37fgg. ,  214,  84  fgg. ,  320,  1  fgg.  auf  ihre  echt- 
heit  untersucht  luul  die  beiden  Icztcn  Hartmann  abgesjirochen;  eine  sehr  wesentliche 
riille  spielt  daliei  wider  des  Verfassers  olien  gekcnzeichnetc  auffassung  der  auftaktver- 
iiältinssc.  Ein  aljscluütt  „/.ui'  textkritik  dos  schhissgedichtcs  und  des  (2.)  liüchleins " 
enthält  einige  liemcrkiMiswerte  licsserungsvorschläge.  Dankenswert  ist  der  nachträg- 
liche, zur  erklärung  von  sclpiccyc  dienende  hinweis  auf  Rud.  Credm^rs  beobachtuu- 
gen  über  eine  ähnliche  üuterscheiuung,  die  an  der  Üstseeküste  der  seebär  genant  wird. 

BRESLAU.  F.    VOÜT. 


Die  lieder  Neidharts  von  Reuenthal  auf  grund  von  M.  Haupts  herstel- 
lung,  zeitlich  gruppiert,  mit  erklärungen  und  einer  einleituug  von 
Friedrich  Keiiiz.  Mit  einem  titelbilde.  Leipzig,  Hirzel.  1S89.  14G  s.  2,8(1  m. 
Es  war  ein  sehr  dankenswertes  unternehmen,  Haupts  grosser  Neidhartausgabe 
eine  wolfeile,  nur  mit  den  notwendigsten  beigaben  versehene  textedition  zur  Seite  zu 
setzen.  Durch  eine  kurze  einleituug,  welche  die  in  den  Müuchener  Sitzungsberichten 
von  ISSTy'SB  veröffentlichten  Xeidhart- Untersuchungen  des  Verfassers  voraussezt,  wird 
der  leser  zunächst  über  Neidharts  lebeu  und  die  gattungen  seiner  dichtuug  in  klarer 
und  knapper  form  unterrichtet.  Dann  folgt  der  text  in  einer  von  Haupt  abweichen- 
den anordnung.  Die  lieder  werden  in  sechs  verschiedene  gruppen  gesondert,  die  der 
von  Keinz  angenommenen  entstehungszeit  gemäss  aufeinander  folgen,  nämlich:  I.  Ju- 
gendlieder, n.  Jiutel  und  ihre  gespielinnen.  III.  Kreuzlieder.  lY.  Friderun.  Y.  Bai- 
rische  lieder  der  späteren  zeit.  YI.  Österreichische  lieder.  Dieser  Ordnung  fehlt  ja  nicht 
ilie  tatsächliche  gruudlage.  Wir  wissen,  dass  Neidhart  einige  lieder  auf  dem  kreuz- 
zuge,  dass  er  andere  in  Baiern  und  dass  er  widerum  andere  später  als  diese  in  Öster- 
reich dichtete;  wir  können  ferner  einigen  wenigen  der  bairischen  zeit  mit  bestimtheit 
entnehmen,  dass  sie  vor,  einer  weit  grösseren  anzahl,  dass  sie  nach  dem  Zerwürfnis 
mit  Engelmar  verfasst  sind,  ein  ereignis,  dessen  dann  auch  in  österreichischen  liedern  noch 
gedacht  wird.  Aber  darüber  hinaus  wird  der  boden  sehr  unsicher.  Es  besteht  meines 
erachtens  kein  genügender  anhält  dafür,  gerade  die  unter  I  gebrachten  lieder  und  nur 
sie  als  Jugendgedichte  zusammenzufassen,  die  unter  n  gesezten  alle  um  ein  liebes ver- 


246  F.    VOGT 

hältnis  zu  Jiutel  (ein  name,  der  auch,  nachher  in  einem  österreichischen  gedichte 
(m-.  63)  vorkomt),  die  unter  IV  um  ein  Verhältnis  zu  Friderun  zu  giaippieren ;  in  nicht 
wenigen  fällen  sind  auch  die  grenzen  zwischen  V  und  YI  nicht  sicher,  und  seihst 
oh  die  kreuzlieder  aus  dem  jähre  1219  chronologisch  gerade  uuter  III  au  der  rich- 
tigen stelle  stehen,  ist  zweifelhaft.  Mit  recht  ist  schon  im  Litterar.  centralbl.  1889 
s.  477  das  bedenken  erhohen,  dass  hei  der  von  Keinz  angenommenen  Zeitfolge  Wolf- 
rams bekante  beziehung  auf  Neidharts  dichtung  ("Willehalm  312,  11),  für  die  doch 
nach  1219  entstandene  lieder  nicht  mehr  in  betracht  kommen  können,  keine  aus- 
reichende erklärung  finden  würde.  Die  dem  gegenüber  von  Keinz  im  nachtrag  zu 
seiner  ausgäbe^  s.  6  aufgeführten  stellen  aus  liedem  seiner  zweiten  gruppe  (18,  11 
und  21,  11),  in  denen  Neidhart  seine  freunde  einmal  wegen  des  tanzlokals,  das 
anderemal  wegen  des  gegen  seine  geliebte  zu  beobachtenden  benehmens  um  rat  bit- 
tet, kann  doch  Wolfram  nicht  im  sinne  gehabt  haben,  wenn  er  sagt,  Neidhart  würde 
es  seinen  freunden  klagen,  sähe  er  ein  so  ungefüges  schwert  wie  das  des  Kenne- 
wart über  seinen  gauhügel  ti'agen.  Das  sezt  schon  Neidharts  feindschaft  gegen  die 
bauern  voraus,  klagen  über  die  plumpen  und  gewalttätigen  dörper,  wie  sie  nur  in  lie- 
dern  der  V.  und  VI.  gruppe,  an  stellen  wie  den  a.  a.  o.  angezogenen  (46,  45.  49%  58. 
58,  63)  sich,  finden.  Aber  noch  mehr:  dass  Wolfram  gerade  bei  der  beschreibung 
von  Rennewarts  riesenwaife  auf  diese  bemerkung  kam,  lässt  sich  nur  erklären,  wenn 
er  an  ein  Neidhartsches  lied  dachte,  in  welchem  ausserdem  auch  die  Schilderung 
eines  besonders  ungeschlachten  Schwertes  vorkomt.  Nun  wird  aber  überhaupt  in  kei- 
nem der  lieder  aus  Ks  gi'uppe  I  —  IV  ein  schwert  erwähnt;  erst  in  gruppe  V  und 
VI  geschieht  es  mehrfach.  Die  eingehendere  Schilderung  eines  besonders  grossen 
Schwertes  zugleich  mit  der  klage  an  die  freunde  aber  findet  sich  nur  in  dem  einen 
liede  K  42  (gnippe  V).  Hier  wünscht  Neidhart  den  rat  seiner  freunde  in  dem  bit- 
tern leide,  das  ihn  bedrückt:  die  geliebte  ist  ihm  feind;  die  meiste  schuld  an  seinem 
Unglück  trägt  ein  getclinc  mit  einem  gewaltigen  Schwerte,  so  gross  wie  eiue  hanf- 
schwinge;  dies  noch  weiter  beschiiebene  sch.wert  bildet  den  mittelpunkt  einer  durch 
zwei  Strophen  hingezogenen  scene,  und  dann  folgt  wider  die  klage  lät  in  mere  kün- 
den mmer  su-cere,  die  tumben  getelinge  tnont  mir  aller  leidecUcli.  Ich  glaube 
daher,  dass  Wolfram  auf  dieses  ganz  bestimte  lied  Neidharts  anspielt;  in  ihm  aber 
wird  V.  28  fg.  der  raub  von  Frideruns  Spiegel ,  also  auch  die  feindschaft  mit  Engeknar 
schon  vorausgesezt.  —  Bedenklich  ist  doch  auch  die  beschränkung  einzelner  perioden 
hier  auf  sommerlieder,  dort  auf  winterlieder,  so  dass  in  gruppe  I  und  IV  nur  die 
erstere,  in  gruppe  V  dagegen  mu-  die  leztere  gattung  vertreten  ist.  Soll  denn  Neid- 
hart in  der  doch  10  jahi-e  umfassenden  lezten  bairischen  periode  nur  noch  im  winter 
gesungen  haben?  oder  sollen  aus  einer  periode  alle  sommerlieder,  aus  einer  anderen 
gerade  die  winterlieder  verloren  gegangen  sein?  Ich  glaube,  diese  bedenken  nicht 
zurückhalten  zu  sollen,  da  sich  in  unserer  litteratm-geschichte  traditionen  über  die 
Zeitfolge  von  werken  leicht  in  fällen  festzusetzen  pflegen,  in  denen  clironologische 
anhaltspimkte  erwünscht,  aber  im  gründe  nicht  vorhanden  sind,  wobei  denn  auch  wol 
imterschiede  der  gattung  auf  solche  der  abfassungszeit  übertragen  werden.  Dagegen 
will  ich  nicht  behaupten,  dass  die  vorliegende  ausgäbe  durch  die  gewählte  an  Ordnung 
etwas  an  brauchbarkeit  eingebüsst  hätte;  der  hauptsache  nach  steht  in  den  einzelnen 
gruppen  verwantes  beisammen. 

1)  München  1889.  8.  18  s.    Keinz  sozt  sich  hier  mit.  dorn  kritiker  des  litterarischen  centralblattes 
und  mit  ü.  Puschmanu  (die  liedor  N'oidharts  v.  R.  Stofsborg  i.  Westpr.  Pragr.)  auseinander. 


ÜBER    .NEIDHART    ED.    KEINZ  247 

ßezüglicli  (1er  vcrliültuismiissig  weuigcii  stelltMi,  an  wclchmi  Keinz  einen  ande- 
ren text  bietet  als  Haupt,  kann  ich  ilim  meist  zustimmen;  so  auch  in  der  strophcn- 
ordnung  von  nr.  ~)2  und  (34;  niclit  dagegen  in  derjenigen  von  nr.  '2'2,  sowie  in  der 
lesung  von  52,  ()3.  Gl',  37  (so  zu  lesen  statt  35  in  den  lesartrn,  wo  aucli  die  angäbe 
felilt,  dass  Haupt  hier  K  folgt).  Xr.  32,  2  scdieint  mir  doch  die  von  AVilmanns 
befürwortete  lesart  von  c  strichen  st.  ttclioi  ganz  zweifellos.  Der  zu  20,  32  fg. 
erwähnte  besserungsvorsehlag  Pauls  b(>steht  nur  darin,  dass  man  hier  den  haml- 
schriften  C  lic/.w.  c  folgen  soll,  und  das  scluMut  mir  in  der  tat  das  richtige;  wenig- 
stens wäre  die  mitteilung  dieser  lesai't  hier,  wo  Keinz  sell)st  bemerkt,  dass  der  sinn 
des  nacli  nau[it  widorgegebencn  textes  unklar  sei,  docb  angezeigt  gewesen.  Ebenso 
hätt(>  auch  zu  der  im  texte  unausgcfiilt  gebliebenen  zeile  22,  50  der  Wortlaut  der 
liandsciiriften  angegeben  werden  sollen.  In  einzelnen  fällen,  wo  Keinz  bemerkt, 
(hiss  in  einer  handschrift  stroplien  fehlen  oder  dass  die  strophenordnung  in  der  hand- 
schriftlichen Überlieferung  oder  bei  Haupt  aliweiclit,  iiätte  ohne  belastuiig  des  kri- 
tischen apparates  angegeben  werden  kiMinrn.  welebi?  struphen  dei't  fehlen ,  liezw.  wie 
die  stropluMi  dort  geordnet  sind.  Sonst  kann  ich  ivcinzs  enthaltsamkeit  in  der  angäbe 
von  Varianten  nur  billigen.  Für  (b.'u  .,weit"i'en  leserkreis",  auch  für  die  näidisten 
zwecke  der  studierenden,  genügt,  was  er  gibi ;  für  kritische  Übungen  aber  muss  man 
doch  den  volständigen  ap])arat  herbeiziehen,  wie  ihn  Haupts  in  jeder  Seminar-  und 
universitätsbililinthek  vorhandene  ausgäbe  bietet. 

Das  für  den  „weniger  geübten  loser''  bei'echnete  Wörterverzeichnis,  welches 
ursprünglich  nur  das  Xi'idhart  eigentündiche  umfassen  solte,  winl  bei  einer  zweiten 
auJlage  um  wöiier  wie  hu(\  tricL  liuppcr,  \ügelbycclic,  vcrr'tiloi,  yüffcn  (37,  44), 
(jrjiltiKf'fc  und  einige  andere  zu  vermehren  sein;  auch  den  von  anderer  seitc  schon 
ausgesprochenen  wünsch  nacli  einem  namenverzeichuisse  (natürlich  mit  volständigen 
stellenangabeu)  werden  wir  dann  hoffentlich  erfült  sehen.  Möchte  eine  schnelle  Ver- 
breitung des  verdienstlichen  werkchens  dazu  beitragen! 

BRESLAU.  V.    VOGT. 


Unechtes    bei    Xeifen.     Von    dr.  'Wilheliii   Ulli.      Paderliorn,    Schöningh.     1S88. 

222  s.    3  m.     (Tiöttinger  beitrage  zur  deutschen  philologie  herausg.  von  M.  Heyne 

und  AV.  Müller  IV). 

Für  dii'  Scheidung  von  echtem  und  unechtem  bietet  die  ülierlieferung  der 
gedichtc  Gottfrieds  von  Xeifen  insofern  keinen  anhält,  als  diese,  von  8  in  späteren 
bandschriften  vorliegenden  Strophen  abgesehen,  bekantlich  allein  in  C  auf  uns  gekom- 
UK'u  sind.  Alicr  die  beschaff enheit  dieser  handschrift  selbst  lässt  nach  Uhls  meinung 
gewisse  stücke  der  Xeifenschen  liedersamlung  schlechter  beglaubigt  erscheinen  als 
andere.  In  der  regel  ist  nämlich  hinter  denjenigen  liodorn,  welche  weniger  als 
5  Strophen  umfassen,  vom  Schreiber  ein  räum  freigelassen,  der  gerade  ausreichen 
würde,  um  sie  auf  5  strophen  zu  bringen.  Das  ist  bei  20  liedern  der  fall\  Avährend 
andere  20  wirklich  füufstrophig  sind.  Aus  dieser  saclüage  schloss  man  l:>isher,  dass 
jene  ei'steren  unvolstäudig  überliefert  seien,  dass  aber  <J  durch  jene  zwisi/henräume 
für  ihre  dereinstige  ergänzung  aus  reicheren  ijuellen  Vorkehrung  getroffen  habe.     Uhl 

1)  Xicht  bei  10 ,  wie  auch  Thl  noch  nach  Hanpt  anijibt.  Nach  Apfclstoilt  (Germania  XXVI,  216) 
sind  nach  20,  24,  wo  Haupt  (einleitunic  s.VIi  das  Vorhandensein  einer  lüclve  leut,'uolo  ,  8  zeilon  freigelas- 
sen. Unrichti'j;  ist  es  auch,  -womi  Uhl  s.  6  von  21  fönJstrophiLi-en  liodorn  in  C  spricht;  es  ist  da  28,  17 
igg.  mitgcrochiiet ,  dessen  5.  stropho  nicht  in  C ,  sondern  nur  in  p  überliefert  ist. 


248  F.   VOGT 

dagegen  hält  die  fraglichen  lieder  für  volständig  und  meint,  dass  die  auf  sie  folgen- 
den lücken  nicht  für  die  nachtragung  echter,  sondern  für  die  aufnähme  neu  hinzu 
zu  dichtender  Strophen  bestirnt  waren,  durch  welche  dem  von  dem  saniler  der  hand- 
schrift  C,  nicht  aber  von  Gottfried  als  bindend  erachteten  princip  der  fünfstrophigkeit 
rechnimg  getragen  werden  solte.  Daraus  folgen  dann  aber  weiter  bedenken  gegen 
die  echtheit  der  lezten  strophen  derjenigen  lieder,  welche  nach  der  Überlieferung 
wirklich  jenen  vorschriftsmässigen  umfang  haben;  bei  ihnen  allen  ist  von  vornherein 
mit  der  möglichkeit  zu  rechnen,  dass  sie  der  normalzahl  zuliebe  schon  Zusätze  erhal- 
ten haben,  wie  die  anderen  sie  noch  erhalten  selten,  und  daran  lässt  sich  dann  die 
Untersuchung  von  Interpolationen  anderer  art  anschliessen. 

Diese  neue  hypothese  mag  von  vornherein  natürlicher  erscheinen  als  die  alte; 
dass  sie  aber  besser  begiündet  sei,  bezweifle  ich.  Uhl  fragt:  „wenn  der  Schreiber 
der  handschrift  C  wüste,  dass  dies  oder  jenes  lied  fünfstrophig  war,  so  hatte  er  doch 
die  fünf  strophen  desselben  schon  einmal  hinter  einander  gelesen  oder  singen  gehört; 
was  hinderte  ihn  nun,  das  ganze  lied  mit  seinen  5  strophen  niederzuschreiben"? 
Dagegen  ist  denn  doch  zu  bemerken,  dass  jemand,  der  ein  lied  einmal  volständig 
gehört  hat,  bei  einer  unvolständigen  niederschrift  desselben  sehr  wol  wahrnehmen 
kann,  dass  eine  und  die  andere  strophe  fehlt,  ohne  dass  er  deshalb  im  stände  zu  sein 
braucht  den  Wortlaut  des  fehlenden  zu  ei-gänzen.  Aber  hier  bei  Neifen  liegt  die 
Sache  noch  viel  einfacher.  Der  Schreiber  oder  sein  auftraggeber  braucht  nur  gewust 
oder  auf  grund  einer  in  sängerkreisen  herschenden  tradition  geglaubt  zu  haben,  dass 
der  berühmte  dichter  die  regel  der  fünfstrophigkeit  befolgte;  grund  genug  um  anzu- 
nehmen, dass  lieder,  die  in  der  vorläge  diese  zahl  nicht  erreichten,  unvolständig 
seien  und  sich  einst  aus  anderen  quellen  ergänzen  lassen  würden.  Dass  mm  C  im 
algemeinen  seine  jeweilige  hauptvorlage  möglichst  aus  anderen  handschriften  zu  ver- 
volständigen  bemüht  war,  ist  ja  eine  bekante  tatsache,  die  Uhl  bei  seinen  algemeinen 
ausführungen  über  die  entstehung  der  samlimg  C  hätte  berücksichtigen  sollen.  So 
ist  es  doch  erwiesen,  dass  C  beim  abschreiben  der  älteren,  bereits  mit  bildern  ver- 
sehenen samlung  BC,  deren  Uhl  freilich  auch  mit  keinem  werte  gedenkt,  nicht  nui" 
ganze  lieder,  sondern  auch  einzelne  strophen  aus  einer  anderen  alten,  A  verwanten 
samlung  einschob.  Danach  ist  es  schon  an  sich  höchst  wahrscheinlich,  dass  die 
lücken  in  C  für  entsprechende  vervolständiguugen  ausgespart  wurden;  und  das  wird 
zur  gewisheit,  wenn  wir  z.  b.  sehen,  wie  einerseits  C  hinter  2  strophen  Ulrichs 
von  Singenberg,  die  un